Franz Rosenzweig

Zweistromland


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es nicht vorherwissen wollen, selbst wenn wir es könnten. Wir dürfen mit keinem Willen und mit keinem Wissen der unwissentlich-unwillentlichen Wahl unsres Könnens vorgreifen. Was wir vorher wissen dürfen, ist das Reich des Tubaren; was wir vorher wünschen dürfen, ist: daß unsre Tat in diesem Reich ihren Platz finde; ob sie ihn hier finde, steht schon nicht mehr bei uns, wenigstens soweit wir Wissen und Willen sind. Da wir es sind, soweit wir es sind, geben wir unserm Wissen, unserm Willen diese Richtung, diese Sphäre. Wir haben keine andre Gewähr, daß die wirkliche Tat, wenn sie entspringt, jüdisch sein wird, jüdisch, einerlei ob sie dann in jenem Reich des schon Tubaren Platz finden wird oder nur jenseits der Grenzen dieses Reichs. Ist dies letzte der Fall, so werden sich die Grenzen durch sie hinausrücken. Aber einerlei ob innerhalb oder außerhalb der alten Grenze, in jedem Fall ist es ein neues, ist es unser heutiges Gesetz, was so gesetzt wird, und doch gerade dadurch wieder – das Gesetz. Denn eben dies war es ja, was wir an dem Gesetz, wie seine neuen Hüter es uns entgegenhielten, vermißten und vermissen durften: daß das alte nicht auch zugleich ein neues war. Eben dieser Mangel an Heutigkeit war anerkannt, wenn durch jene Grenzlinie, von der ich sprach, das Leben von heute zum „Erlaubten“ geworden war. Damit war dem Gesetz selber die Heutigkeit abgesprochen. Vergessen war die in ihrer Paradoxie schon den alten Erklärern übergewaltige Kühnheit, die den Mose des Deuteronomiums zu dem Geschlecht, das nicht am Sinai gestanden hatte, sprechen lassen konnte: Nicht mit unsern Vätern schloß Gott diesen Bund, sondern mit uns, uns, diesen, hier, heut, uns allen, den Lebenden. Dieser Kühnheit müssen wir standhalten. Uns ist jene innere Grenzlinie verwischt, und eine äußere muß es wohl geben – denn sicher erweitert nicht jede Tat, die im Gesetz, das wir kennen, keinen Platz findet, seine Grenzen, so wenig wie jede unsrer Erkenntnisse Lehre wird; aber wir können nicht wissen, ob es nicht doch geschehen wird: wir kennen die Grenze nicht und wissen nicht, wie weit die Pflöcke des Zelts der Thora hinausgerückt werden können und welche unsrer Taten bestimmt ist, sie hinauszurücken. Daß sie hinausgerückt werden, und durch uns, darf uns für sicher gelten; denn wie dürfte auf die Dauer etwas draußen bleiben; da würde ja die Grenze das, was sie nicht werden darf: starr und bekannt, wie jene innere zwischen Verboten und Erlaubt, die uns überflutet wurde; ja unversehens wäre sie wieder eine solche innere Grenze geworden und unserm Tun sein edelstes Erbe genommen: daß wir nur Söhne zu sein brauchen, um Bauleute zu werden.

      Aber stellt uns nicht dies Wort des Talmud, das jeden Lehrvortrag beschließt, erst vor die schwerste Frage? grade uns! Sind wir denn noch Söhne, können wir es wieder werden? Liegt hier nicht der bedenklichste Unterschied zwischen Lehre und Gesetz, daß uns zwar die Rückkehr zu jener erlaubt ist, denn es ist bloß eine Rückkehr des Bewußtseins, bloß Selbstbesinnung, aber die Rückkehr zu diesem nicht, denn sie kann nicht im Bewußtsein allein geschehn, sondern nur im Tun selber, und das Tun verträgt keine Rückwendung, es kann nur vorwärts gehen; sieht es rückwärts, so wird es nicht wie das Wissen dadurch vertieft, sondern zur, höflich gesprochen, romantischen Schwärmerei und, unhöflich gesprochen, zur Lüge. Und zur gefährlichsten aller Lügen, zur getanen. Die gesagte Lüge kann leicht wieder gutgemacht werden; sie wird zurückgenommen; aber die Tat läßt sich nicht zurücknehmen. Ich möchte dieser Frage nichts von ihrem Ernst abziehen, sie stand hinter allem, was ich zuvor gesagt habe. Aber ich meine: wenn man sie noch ernster stellt, wenn man nämlich nicht bloß da, wo sie die Gefahr sieht, nichts abzieht, sondern auch da, wo sie keine Gefahr sieht, etwas zulegt, so ist sie schon beantwortet. Ich glaube nämlich nicht an die Ungefährlichkeit einer Rückkehr im Bewußtsein. Eine geistige Seuche, wie es jede Romantik ist, wird nicht damit aus der Welt geschafft, daß man ihren Herd zerstört. Die gesagte Lüge läßt sich in ihren Folgen ebensowenig widerrufen wie die getane. Und der Weg des Gedankens ist genausowenig ein Krebsgang wie der Weg der Tat. Auch der Gedanke setzt einen Fuß vor den andern. Es ist im Leben des Geistes ein ganz besonderer Fall, wenn er gefahrlos rückwärts sehen darf oder wenn es ihm sogar heilsam ist, es zu tun. Selbstbesinnung kann zum geistigen Selbstmord werden. Wann tritt dieser Fall ein, wann der andre?

      Das Leben des Geistes ist so sehr ein wirklicher einsinnig gerichteter Lebenslauf, daß er wie jeder einsinnige Ablauf beständig Totes abscheidet; nur um diesen Preis wird ihm die Erneuerung gewährt; jedes Geborenwerden kostet ein Sterben. Diese toten Körper werden nun unter Umständen noch lange im Strom mitgetragen; es ist ein Zufall, wenn sie einmal ans Ufer geschwemmt werden. Da nun der Strom des Geistes nicht in all seinen Teilen die gleiche Geschwindigkeit hat, sondern immer Wellen vorauseilen, während andre nur langsam folgen, so ist es um der Gesundheit, nämlich um des Zusammenhangs des Ganzen willen gut, wenn von Zeit zu Zeit die Vorausgeeilten anhalten und, den Blick rückwärts gewandt, die Zurückgebliebenen erwarten. Nichts andres ist, was man Selbstbesinnung nennt, beim Einzelnen wie bei geistigen Ganzen. Und die Gefahr dieses Blicks rückwärts ist nun, daß man das nur noch mitgeschleppte Tote nicht unterscheidet von dem nur langsamer und deshalb noch quellnäher strömenden Lebendigen und auf jenes wartet, als wäre es dieses. Die Folge ist dann, daß von den toten, doch für lebendig gehaltenen Körpern der Strom sich staut und sein Wasser versumpft. Es ist also für den Geist – und zwar ganz gleich für den schauenden wie für den tätigen – lebenswichtig, ob er die Instinktsicherheit hat, bei solchen Rückgriffen Totes und Lebendiges auseinanderzukennen. Die künstliche Erneuerung veralteter politischer Institutionen ist nicht gefährlicher als die eines toten Glaubens. Beispiel des einen sind die ständischen Sommernachtsträume Friedrich Wilhelms IV. im Gegensatz etwa zu der Wiederbelebung des in Englands Recht noch lebendig erhaltenen Gedankens der Geschworenengerichte im Europa des vorigen Jahrhunderts; Beispiel für das andere wären etwa die wotanistischen Bemühungen in deutsch-völkischen Kreisen, im Gegensatz wieder zu der Besinnung auf den alten Volksglauben in der Form, die er schon im Kampf mit dem fremden Weltglauben annahm, wie sie in der Wiederentdeckung der Sage einer-, des Märchens andrerseits der deutschen Bildung des 19. Jahrhunderts geschehen ist.

      Die Gefahr ist also die gleiche und nicht geringer für das Wissen als für das Tun. Aber auch die Möglichkeit ist die gleiche. Sie liegt in dem, was ich eben als Instinkt für Totes und Lebendiges bezeichnete. Dieser Instinkt kann irren, aber seine Irrtümer sind für die Völker nur selten lebensgefährlich, weil auch die Rückwendung selbst nur seltene Male in der Geschichte den Völkern zur Lebensnotwendigkeit wird. Das ist für unser Volk anders. Ihm ist das Leben nicht der einsinnige Ablauf wie jenen. Unsre Geschichtslosigkeit oder, positiv gesagt, unsre Ewigkeit macht uns alle Augenblicke unsrer Geschichte gleichzeitig. Die Rückwendung, das Aufholen des Zurückgebliebenen wird hier zur ständigen, nicht wie für die Völker nur zur historischzeitweiligen Lebensnotwendigkeit. Aber freilich zur Lebensnotwendigkeit – wir müssen in unsrer Ewigkeit leben können. Deshalb genügt uns gegen die Gefahr jener Rückwendung nicht der Schutz, der Völkern, für die jene Notwendigkeit und Gefahr nur etwas Gelegentliches bedeuten, wohl genügen darf: der Schutz des Instinkts muß für uns mit stärkeren Sicherheiten umgeben sein. Diese Sicherheiten liegen in dem, was ich zuvor immer wieder als Letztentscheidendes angerufen habe: in unserm Können. Die Einsetzung dieser Berufungsinstanz könnte höchste Frivolität sein, wenn sie nicht höchster Ernst wäre. Im höchsten Ernst hat der Midrasch Israels freies Annehmen des Gotteswortes „unterm“ Sinai in ein gezwungenes, gott gezwungenes umgedeutet: Er stülpte den Berg über sie wie ein Faß, bis sie annahmen. Wir mögen das unsre tun, um Hindernisse, die fortzurücken in unsrer Macht steht, zu beseitigen; wir dürfen unser Können freimachen und sollen es. Aber die letzte Wahl ist unserm Willen entzogen und unserm Können vertraut.

      Freilich, sowie das Können kann, kann es nicht mehr anders; es wird Nichtanderskönnen, Müssen. Kein wählend-prüfender Instinkt ist so bei uns damit betraut, die Gefahren der Rückwendung abzuwehren, sondern unser ganzes Sein. Denn das heißt ja schließlich die Berufung aus Können. Wie unser ganzes Sein, und in jedem Augenblick, vor die Aufgabe der Heimkehr gestellt ist, nicht wie bei den Völkern nur einzelne Schichten und Provinzen des Seins und nur in gewissen historischen Augenblicken, so muß auch das Aufnehmen der Aufgabe durch unser ganzes Sein geschehen. Die Entscheidung, die aus dem Können geschieht, kann nicht irren, weil sie ja gar nicht zu wählen, nur zu gehorchen hat. Eben darum kann auch keiner den andern zur Rede stellen, obwohl jeder den andern lehren kann und muß; denn was einer kann, weiß er nur selber; die Stimme des eignen Seins, der er zu gehorchen hat, wird nur von seinem eignen Ohr vernommen. Auch weiß keiner, ob nicht im Nichtkönnen des andern mehr Bauarbeit an der Lehre und am