Franz Rosenzweig

Zweistromland


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dem Proselyten den lächelnden Spott des Weisen heraus und halten uns an sein letztes, nicht an sein erstes Wort: geh und lerne. So aber hört die Lehre auf, „Wißbares“ in dem Sinne eines vorhandenen Etwas, eines „Stoffes“ zu sein; der Stoff will freilich gewußt, gelernt sein, will es grundsätzlich sogar in weiterem Umfang, als es nicht bloß von den Vertretern des „Judentums auf einem Fuß“, sondern auch in weiterem, als es im klassischen Lernen alten Stils verlangt wurde; denn die „Bücher von draußen“, die jenseits des Gesichtskreises, und die „Weiberbücher“, die unter der Würde jenes klassischen Lernens lagen, treten nun auch und als Gleichberechtigte in den Kreis des zu umfassenden Stoffs. Aber all dies Wißbare und zu Wissende ist noch nicht das Wissen, all dies Lehrbare und zu Lernende noch nicht die Lehre. Lehre beginnt erst da, wo der Stoff aufhört, Stoff zu sein, und sich in Kraft verwandelt, – in Kraft, die nun selber den Stoff, und sei es um das bescheidenste Wort, vermehrt und so aus jener behaupteten Unendlichkeit des Stoffes erst eine Wahrheit macht. Der Weg zur Lehre, wenigstens der Heerweg, der einzige, den man jedem Frager mit gutem Gewissen und mit der begründeten Aussicht, daß er ihn auch finden werde, weisen darf, führt über das „Wißbare“, aber die Lehre selber ist nicht wißbar, sie ist immer nur ein Zukünftiges, und die Frage dessen, der heute nach ihr fragt, ist vielleicht schon ein Teil der Antwort, die morgen einem andern gegeben wird, und sicher das Hauptwort der Antwort, die ihm selber, dem heute Fragenden, einmal wird. Nein, die Lehre ist kein Wißbares, sie ist nur mein und dein und unser Wissen.

      Wenn Sie so die Lehre uns aus der prunkvollen Armut einiger Grundbegriffe, auf die sie das 19. Jahrhundert – nicht es zuerst, aber es zuerst mit praktischem und folgenreichem Ernst – einschränken wollte, erlöst und uns dadurch von der schon nahen Gefahr befreit haben, daß wir unser geistiges Judesein abhängig glauben mußten von der Frage, ob wir Kantianer zu sein vermochten oder nicht, so ist es umso merkwürdiger, daß, wenn Sie unmittelbar nach jener befreienden Wegweisung zur neuen Lehre uns die andre Seite der Frage „Was sollen wir tun?“ zu beantworten suchen, die Frage des Gesetzes, Sie dies Gesetz, und uns mit ihm, ganz in den Fesseln stecken lassen, die das 19. Jahrhundert auch um es, so gut wie um die Lehre, geschlagen hat. Denn was Sie hier als legitime Vertretung des Gesetzes anerkennen, um sich mit ihr auseinanderzusetzen und um ihr nach geschehener und, wie nicht anders zu erwarten, fruchtlos verlaufener Auseinandersetzung den Rücken zu kehren und sich und uns Fragende auf die ehrfurchtsvolle, aber praktisch indifferente und persönlich abstinente Kenntnisnahme als einzige Aufgabe zu verweisen, – ist das denn das jüdische Gesetz, das Gesetz der Jahrtausende, das gelernte und gelebte, zerdachte und umsungene, all- und todestägliche, kleinliche und erhabene, nüchterne und sagenschwere, hauskerzen- und scheiterhaufenflammenumstrahlte Gesetz? Pflanzung die Akiba verzäunte und Acher einriß, Wiege der Spinoza entsprang, Leiter drauf der Baalschem aufstieg, das Gesetz, immer übersteigert, nie erreicht, – und doch stets fähig, zu jüdischem Leben zu werden und zu jüdischen Gesichtern? Ist das, wovon Sie sprechen – und sage ichs gleich: wahr sprechen –, nicht vielmehr nur das Gesetz der westlichen Orthodoxie des verflossenen Jahrhunderts?

      Denn zwar auch hier sind die formelhaften Verengerungen nicht erst im 19. Jahrhundert geschaffen; wie die Formeln, in die der Liberalismus der Reformer den jüdischen Geist zu bannen suchte, so können sich auch die Gründe, aus denen Hirschs „Jißroel-Mensch“ das Gesetz halten soll, auf eine lange Ahnenreihe berufen; aber erst Hirsch und die ihm folgen haben auf die schmale Basis dieser Gründe ernstlich das jüdische Leben aufzubauen gesucht. Hat wohl je ein Jude früher, wenn er nicht gefragt wurde, gemeint, er hielte das Gesetz – und das Gesetz ihn – nur deswegen, weil es von Gott Israel unterm Sinai auferlegt sei? Gewiß, wenn man ihn fragte, so mochte vielleicht dieser Grund sich in seinem Bewußtsein nach vorne drängen, und die Gefragten von anlagewegen, die Philosophen, haben immer gern so geantwortet; und als von Mendelssohn ab unser ganzes Volk sich der Folter all dieser wahrhaft peinlichen Fragen unterzog und das Judesein jedes Einzelnen nun auf der Nadelspitze eines Warum tanzte, da mochte es an der Zeit sein, wenn ein Baumeister kam, der aus dem Gestein dieses Grundes eine Ringmauer zog, hinter der das von Fragen bedrängte Volk sich bergen konnte. Aber den fraglos Lebenden war dieser Rechtsgrund des Gesetzes nur einer neben andern gewesen und kaum der stärkste. Gewiß war die Thora, schriftliche wie mündliche, dem Mose am Sinai gegeben, aber war sie nicht vor der Welt geschaffen? mit Buchstaben finstern Feuers auf einen Grund von lichtem Feuer geschrieben? und war nicht um ihretwillen die Welt geschaffen? und hat nicht schon Adams Sohn Seth das erste Lehrhaus gegründet, worin sie gelernt wurde? und haben die Väter ein halbes Jahrtausend vor dem Sinai sie nicht schon gehalten? und ward sie, als sie schließlich am Sinai gegeben wurde, nicht in allen Siebzig Sprachen der Welt gegeben? und umschloß sie nicht in ihren „613 Geboten“, dieser Zahl, die, im voraus aller Versuche, Unzählbares zu zählen, spottend, doch selber wieder nur der um die beiden aus dem Munde der Allmacht unmittelbar vernommenen Worte vermehrte Zahlwert des Worts Thora ist und die Summe aus den Tagen des Jahres und den Knochen des Menschenleibs, – umschloß sie nicht in dieser Zahl alles was der Scharfsinn der Späteren, unsern Lehrer Mose selbst beschämend, in ihren Krönlein und Häklein noch entdeckte? ja auch was in Zukunft je und je ein eifriger Schüler in ihr finden wird? sie, die Gott selber täglich lernt? Und dieses Gesetz, diese Thora sollte Israel gehalten haben nur wegen der einen „Tatsache, die jede Täuschung ausschloß“, daß die Sechshunderttausend am Sinai die Stimme Gottes gehört hätten?! Gewiß: auch ihretwegen, aber nicht minder und wegen all der zuvor genannten und wegen der andern, die den Alten aus jedem „Heute“ der Thora spricht: daß auch die Seelen der Nachkommen mit jenen Sechshunderttausend am Sinai standen und vernahmen, was diese vernahmen. Dem ungefragten und fraglosen jüdischen Bewußtsein ist dies alles gleich sehr Tatsache wie jenes eine, und jenes eine um ein bischen mehr als dies.

      Nein, das Nur der Orthodoxie darf uns genau so wenig vom Gesetz zurückschrecken, wie uns das Nur des Liberalismus, nachdem Sie uns sehen gelehrt hatten, noch die Lehre verstellen konnte. Das Judentum umfaßte jene Nurs, aber nicht als Nurs. Das Gesetz kann genausowenig erledigt sein mit einem Ja oder Nein zu der pseudohistorischen Theorie seines Ursprungs oder der pseudojuristischen seiner Verpflichtungskraft, wie sie von Hirschs Orthodoxie als Grundriß ihres festen, aber engen und in all seinem Prunk unschönen Gebäudes aufgezeichnet wurden, wie die Lehre uns abgetan mit einem Ja oder Nein zu der pseudologischen Theorie der Gotteseinheit oder der pseudoethischen der Nächstenliebe, mit denen Geigers Liberalismus die Fassade des neuen Geschäfts- und Wohnhauses der emanzipierten Judenheit bemalte, – pseudohistorisch, pseudojuristisch, pseudologisch, pseudoethisch: denn ein Wunder ist keine Geschichte, ein Volk keine Rechtstatsache, Blutzeugentum kein Rechenexempel und Liebe nicht sozial. Sondern Gesetz und Lehre, – zum einen wie zum andern führt uns der Weg nur, wenn wir wissen, daß wir noch an seinem Anfang stehn und jeden Schritt selber zu tun haben. Welches ist aber hier, beim Gesetz, der Weg?

      Welches war er bei der Lehre? Ein Weg, der durch das ganze Gebiet des Wißbaren hindurchführte, wirklich hindurch, der sich nicht begnügte, nur einige erhöhte Aussichtspunkte zu berühren, ja der selbst dahin führte, wo frühere Zeiten es überhaupt nicht der Mühe wert gefunden hätten, Wege anzulegen, – und der doch selbst dem, der ihn ganz durchlaufen hätte, nicht das Recht geben würde, zu sagen, nun sei er am Ziel; sondern immer dürfte auch ein solcher nur sagen: nun habe er den Weg durchmessen; aber das Ziel läge immer noch, auch für ihn, einen Schritt weiter, im Weglosen. Warum aber gleichwohl der Weg? führt er denn, führt irgend ein Weg ins Weglose? Was hat der, der den Weg ging, voraus vor dem, der gleich den Sprung wagte, der ja auch ihm nicht erspart bleibt? Nur ein kleines, nicht wert so großer Anstrengung nach der Meinung der Menschen, und doch uns aller, der höchsten Mühe wert: nur dieser mühsame und ziellose Umweg durch das wißbare Judentum gibt uns die Gewißheit, daß der endliche Sprung aus dem, was mir wißbar, in das, was mir um jeden Preis zu wissen notwendig ist, der Sprung in die Lehre, zu jüdischer Lehre führt. Diese Not ist so für andere Völker gar nicht vorhanden. Der Mensch aus den Völkern, wenn er lehrt, lehrt in seinem Volke und in sein Volk, auch wenn er nicht gelernt hat; alles was er lehrt, wird seinem Volke zu eigen. Denn die Völker haben nur ein werdendes Gesicht, jedes das seine; keinem ist an der Wiege schon gesungen, wie es werden solle; keinem ist schon im Mutterschoß der Natur das Antlitz geprägt. So sind seine Großen erst Schöpfer und dann werden sie die Seinen. Unserm Volk aber, dem einzigen, das ursprünglich nicht aus dem Mutterschoß der nationengebärenden Natur hervorsprang, sondern – nie