und wird wohl versuchen, sich der Außenwelt gegenüber durchzusetzen; aber das Höchste, was es noch erreicht, ist: sich zu behaupten. Die Einheit von häuslichem und beruflichem Leben ist hoffnungslos gestört; wie auch die strammste Orthodoxie ihre Zöglinge in zwei Bildungswelten einzuführen gezwungen ist und den für das Altjudentum wenig bedeutsamen Gegensatz von „Tauroh“ und „Derech erez“ zu ganz neuer positiver Wichtigkeit übertreiben mußte, so ist auch das Haus nur noch höchstens das „eine“ im Leben und hat ein „anderes“ neben und – außer sich; das andere, der Beruf, die öffentliche Tätigkeit, ist nicht mehr die natürliche Ausstrahlung des Hauses ins Draußen, sondern es untersteht eigenen Ansprüchen, eigenen Gesetzen; das Haus bindet nicht mehr das jüdische Leben zur Einheit.
Endlich die Synagoge – von ihr her scheint, wenn auch mit kümmerlich dünnem Fließen, noch am ehesten ein Strom jüdischen Lebens den Juden von heute wo nicht zu umspülen, so doch zu durchrinnen. Auch der assimilierteste Assimilant pflegt ja meistens noch, und sei es nur zur einen Stunde der „Seelenfeier“, oder doch wenigstens durch seine Heirat oder allermindestens sein Begräbnis, an ihrem Leben teilzunehmen. Und wer da weiß und etwa an sich selber erfahren hat, was selbst in einem bloßen, ich möchte sagen, Jomkippur-Judentum, wie es heute viele als einziges vollwichtiges Goldstück aus dem ererbten Schatze sich aufbewahren, für Kräfte schlummern können, der wird sich hüten, geringschätzig von der Synagoge zu sprechen. Aber daß sie unserer Gesamtheit werden kann, was sie ihr war, das ist aus dem gleichen Grunde ausgeschlossen, aus dem es auch für Haus und Gesetz ausgeschlossen war. Mag es selbst möglich sein – ich meine, es ists! –, aus dem kleinen Rest, der vielen hier als Einziges geblieben ist, nach und nach Stück auf Stück wieder den Anschluß an das Ganze zu gewinnen, dies Ganze ist selber – kein Ganzes mehr. Denn es sitzt eben nicht mehr als ergänzendes Glied im Leibe eines lebendigen Lebens; der Gemeindediener klopft eben nicht mehr an die Haustüren „in Schul“; und wie viele Synagogen in deutschen Städten haben wohl heute noch das Lernzimmer mit den schweren Folianten des Gesetzes und seiner Kommentare unmittelbar neben dem Betraum? Sondern die Synagoge ist, recht im Sinne des kulturseligen, alles in Schubfächer unterbringenden 19. Jahrhunderts, zur „Stätte“ „religiöser“ „Erbauung“ geworden (oder behauptet, es geworden zu sein); die „Religion“, der das Leben – mit Recht! denn es wehrt sich mit Recht gegen solche tote Teilansprüche! – die Stätte verweigert, sucht sich da ein sicheres, ungestörtes Eckchen; wirklich ein Eckchen: das Leben flutet unbekümmert daran vorüber. Auch die Synagoge vermag heute nicht, was Gesetz und Haus nicht vermochten: der deutschen Judenheit eine Plattform jüdischen Lebens zu geben.
Was also hält denn oder was hielt seit der beginnenden Emanzipation die deutsche Judenheit zusammen? Worin zeigt sich die Gemeinsamkeit des gegenwärtigen Lebens, die allein die überkommene Vergangenheit in die Zukunft des Werdenden hinüberleiten könnte? Die Antwort ist zum Erschrecken. Es gibt nur eins, was das Leben der deutschen Juden von heute seit dem Anbruch der Emanzipation zu einem sozusagen „jüdischen Leben“ eint: die Emanzipation selber, der jüdische Kampf ums Recht. Er allein umschließt alle deutschen Juden, und er allein umschließt nur die Juden. Von ihm müßten also die Gegenwartskräfte ausgehen, die das Vergangene dem schauenden Forscherauge, die Zukunft dem führenden Manneswillen aufschließen könnten. Jeder weiß, wie es in Wahrheit damit bestellt ist. Tatsächlich liegt hier der letzte Grund, weshalb unsere Wissenschaft, weshalb unsere Lehre im Argen liegen müssen. Denn tatsächlich ist dieser Kampf ums Recht, ums staatsbürgerliche wie ums gesellschaftliche, die einzige „belebende“ Kraft gewesen, die der Wissenschaft wie dem Unterricht aus dem wirklichen Leben zuströmte. So hat sich jene wie diese nie von den Scheuklappen des Apologetischen befreien können. Statt Freude am Eigenen zu spüren und zu lehren, haben sie beide das Eigene stets nur entschuldigen wollen. Und so sind wir dahin gekommen, wo wir heute stehen.
Der Zionismus, genialer Diagnostiker, aber sehr mittelmäßiger Behandler, hat das Übel erkannt, aber die falsche Therapie angegeben. Was er erkannte, ist jener Mangel an eigenem gegenwärtigen jüdischen Leben, einem Leben, das noch andere Gemeinsamkeiten aufweisen müßte als den gemeinsamen Besitz einer, noch dazu von niemandem gekannten, toten Buchgelehrsamkeit, genannt „Wissenschaft des Judentums“, und die gemeinsame „Abwehr des Antisemitismus“. Was er weiter erkannte und worin er sich schon geradezu als Pathologe, nicht mehr bloß als Diagnostiker bewährte, ist dies, daß das einzig Gesunde, das einzig noch Ganze am jüdischen Menschen – der jüdische Mensch selber ist. Der Zionismus hat das ausdrücklich wie unbewußt wieder und wieder ausgesprochen, was in Wahrheit seit je uns zusammenhält und was allein der feste Boden ist, auf dem sich die jeweiligen historischen Träger des jüdischen Lebens – in früheren Zeiten Land, Staat und Recht, in späteren Gesetz, Kult und Haus – haben einwachsen können: die Einheit des jüdischen Menschen. Aber in dem Augenblick, wo die große Frage ausgesprochen wird, was denn nun geschehen solle und wie auf diesem verwüsteten und unverwüstlichen Boden statt der verdorrten neuen Stämme jüdischen Gemeinschaftslebens angesetzt werden könnten, auf die aufgepfropft die Einzelnen wieder die Säfte des alten, ewig unerschöpflichen Stroms durch ihre Adern kreisen spürten – in diesem Augenblick versagt der Zionismus. Er glaubt, die europäischen Nöte der jüdischen Gegenwart zu heben, indem er einen Ausweg in eine palästinensische Zukunft eröffnet. Indem er aber wie verzaubert auf diesen Ausweg aus Europa starrt, gerät er für den jüdischen Menschen der „Zwischenzeit“ – und Gegenwart ist immer „Zwischenzeit“ – immer wieder auf Versuche, ihn möglichst zu isolieren. Da alles Heil in der Errichtung eines isolierten Staats gesehen wird, so isoliere man – rechnet der Zionismus – zunächst einmal schon hier den jüdischen Menschen. Man schaffe ihm künstlich in Europa innere wie äußere Formen der Exterritorialität. Man gebe ihm Gelegenheit, jüdisch zu wandern, jüdisch zu turnen, jüdisch zu sprechen, jüdisch zu lesen – obwohl er in Deutschland lebt. An Stelle des „portativen Vaterlands“, wie man das einstige Ganze aus Gesetz, Haus, Kult sehr gut genannt hat, gebe man ihm eine portative Vaterlandslosigkeit; denn tatsächlich kann ja dies alles, dies ganze neujüdische „Jüdisch-leben-wollen-obwohl-und-trotzdem …“ nicht weiter führen als bis zum Gefühl des in Europa jedenfalls nicht Zuhauseseins; und es soll nach zionistischer Absicht auch gar nicht weiter führen; es wäre sehr gegen den Sinn dieser zionistischen „Galuthpolitik“, wenn auf diese Weise etwa in jüdischen Gartenstädten in der Mark oder landwirtschaftlichen Siedlungen in Franken nun plötzlich ein wirkliches, nicht mehr portatives jüdisches Heimatgefühl entstünde.
So ist der jüdische Mensch, wie ihn die Galuthpolitik des Zionismus allein kennen will, schließlich trotz aller Durchgestaltung im einzelnen, die sie ihm angedeihen lassen möchte, doch etwas durchaus Negatives, etwas sich Abgrenzendes und dadurch selber nur Beschränktes. Die Universalität, die Ganzheit, die auch der Zionismus, wenigstens in seinen reifsten Denkern, dem jüdischen Menschen für wesentlich eigen erkennt, soll ihm erst in einer andern Zeit und an einem andern Ort wiederkommen. Der Zionismus würde sich selber verleugnen, wenn er seiner Galuthpolitik diesen Charakter des Provisoriums nähme. Wer für den Augenblick, das Heute, arbeiten will, ohne die Hauptlast der Arbeit auf ein unsicheres Morgen abzuschieben, der kann darum nicht in den zionistischen Geleisen gehen. Er muß mit dem jüdischen Menschen, dem ganzen in seiner Ganzheit, hier und heute Ernst machen. Aber wie das?
So wie man allein anfangen darf mit allem ganz Großen, mit allem, wovon man gewiß ist, daß es nur allumfassend oder überhaupt nicht sein kann: ganz bescheiden. Was nur auf begrenzten Umfang angelegt ist, das mag man nach begrenztem, klar ausgeführtem Plane errichten, man mag es „organisieren“. Das Unbegrenzte versagt sich der Organisation. Das Fernste läßt sich nur ergreifen beim Nächsten, beim jeweils Nächsten des jeweiligen Augenblicks. Jeder „Plan“ ist hier schon von vornherein falsch, weil er – ein Plan ist. Denn das Höchste läßt sich nicht planen. Ihm gegenüber ist Bereitsein wirklich alles. Nur Bereitsein, nichts anderes können wir dem jüdischen Menschen in uns, den wir meinen, entgegenbringen. Nur den ganz leisen Ruck des Willens – schon im Wort „Willen“ liegt beinahe zu viel; wirklich nur jenen ganz leisen Ruck, den wir uns geben, wenn wir in einer wirren Welt einmal still vor uns hin „wir Juden“ sagen und damit zum ersten Mal jene unendliche Bürgschaft übernehmen, die der alte Spruch meint, der jeden Juden für jeden Bürge sein läßt. Nichts anderes als dieser einfache Entschluß, einmal zu sagen: „nichts Jüdisches ist mir fremd“, wird