verband sich ihm schon mit seiner Bestimmung. Bevor es gebildet worden, war es, wie sein Prophet, schon erkannt. Darum gehört ihm nur an, wer sich dieses bestimmenden Ursprungs besinnt; darum bricht aus ihm heraus, wer nicht mehr fähig oder willens ist, das neue Wort, das er spricht, „im Namen seines Sprechers“ zu sagen und es so, und sich mit ihm, der goldenen Kette anzuglieden. Und darum ist diesem Volk das Lernen des Wißbaren die Bedingung, unter der allein die Lehre des Ungewußten ihm seine Lehre wird, und müssen seine Großen erst die Seinen sein, ehe sie schöpferisch werden.
Das alles gilt nun auch für das Tun und das Gesetz. Nur daß das Tubare, und auch das nicht mehr Tubare aber zu Tuende, nicht wie das Wissen gewußt werden kann, sondern nur getan. Aber von diesem schwerwiegenden Unterschiede einmal vorerst abgesehen, ist das Bild das gleiche. Wie dort durch alles Wißbare, so führt auch hier der Weg durch alles Tubare. Und der Kreis dieses Tubaren ist grundsätzlich ungeheuer erweitert gegen den Pflichtenkreis der Orthodoxie. Denn es gibt hier, wie es in der Lehre nicht mehr den starren Unterschied des Wesentlichen und Unwesentlichen, den der Liberalismus aufzustellen gesucht hatte, geben darf, nicht mehr den Unterschied von Verboten und Erlaubt, wie ihn, ebenfalls nicht ohne Vorgang und doch erst hier mit praktischer gestaltgebender Wirkung, die westeuropäische Orthodoxie des 19. Jahrhunderts ausgebaut hat. Hier hatte die Grenzlinie Verboten-Erlaubt einen jüdischen Bezirk innerhalb des Lebens, das man führte, abgeteilt; was außerhalb dieser Linie lag, das Nichtjüdische, war, gesetzlich gesprochen, „erlaubt“; was innerhalb, war das Jüdische mit seinen Ge- oder Verboten. Grenzverschiebungen konnten, bei grundsätzlicher Wahrung der im inneren Bezirk geltenden Normen, vorgenommen werden nach der Methode des „Hetter“, des „Herauslernens“ einer Erlaubnis aus dem Verbotenen selber, – an sich, wie auch jenes Zusammenfallen der Grenzlinie Verboten-Erlaubt mit der andern Jüdisch-Unjüdisch, in gewissem Sinn immer gültig gewesen und in der Tiefe begründet, dennoch aber erst von der Neuzeit zum umfassenden System ausgebildet. Nur subsidiär, nur wo der Bestand des jüdischen Lebens sonst in Frage gezogen wäre, nur da hatten vergangene Zeiten jene Grenze in solchem Sinn und die dann zu ihr als ihre notwendige Ergänzung gehörige Methode der Grenzverschiebung gekannt. Erst die Neuzeit machte, indem sie die Infrageziehung permanent machte, auch hier wie bei der Wesensfrage der Lehre die Antwort konstitutiv. Die Zukunft darf jene Grenze, jene Methode, überhaupt jene Unterscheidung, so aufgefaßt, nicht mehr kennen. So wenig wie in der Lehre von vornherein Unwesentliches, so wenig darf es für sie im Gesetz von vornherein „Erlaubtes“ geben. Grade das, was die Orthodoxie grundsätzlich freigegeben hatte, grade das muß jüdisch geformt werden. In den Raum, der außerhalb jener Grenzlinie lag, tritt der Minhag, der Brauch, und der Taam, der Sinn, also ein Positives an Stelle des negativen „Erlaubt“. Wo lebendiges Judentum war, war das schon immer so; aber wenn man früher dieser Tatsache, wenigstens in Hinsicht des Minhag, offiziell kritisch oder mild-ironisch gegenüber gestanden hatte, so wird sie in Zukunft vollen prinzipiellen Ernst gewinnen. Es darf grundsätzlich kein Bezirk des Lebens mehr preisgegeben werden. Um je ein Beispiel für die beiden Möglichkeiten zu sagen, die hier gemeint sind: wo jüdisch gegessen werden soll, da müssen die zahllosen nur mündlich von Mutter zu Tochter überlieferten Bräuche des Speisezettels ebenso unverletzlich sein wie die Trennung von milch- und fleischdingen; und wer am Sabbat einen Geschäftsbrief selber nicht aufmacht, darf ihn auch dann nicht lesen, wenn ein andrer ihn ihm öffnet. Überall muß dem Brauch und dem Sinn der gleiche Rang und die gleiche Unverbrüchlichkeit werden wie dem Gesetz.
Und dieses selbst, der innere Bezirk jener Abgrenzung, – auch es bleibt nicht unberührt davon, daß es nicht mehr gegen ein nur Erlaubtes sich abzugrenzen hat. Dem Erlaubten gegenüber war es ganz wesentlich Verbotenes gewesen; auch dem Gebot war irgendwie der negative Charakter aufgeprägt worden; der klassische Ausdruck für die Erfüllung der Pflicht, der etwa besagt: sich seiner Pflicht entledigen, bekam da eine verhängnisvolle Bedeutung, die er nicht haben konnte, solange das Heraustreten aus dem Bereich einer Pflicht nur das Eintreten in den Bereich einer anderen bedeutete, die er aber sofort annehmen mußte, wenn rings um das abgegrenzte Reich der jüdischen Pflicht das Reich eines jüdisch ungeformten „Erlaubt“ lag. Wie aber in der Lehre, wenn das „Unwesentliche“ uns wesentlich wird, das Wesentliche selber etwas von der Farbigkeit des Unwesentlichen annimmt, so wird hier, nachdem der Brauch die Würde des Gesetzes angenommen hat, das Gesetz teilhaftig der Positivität des Brauchs. Nicht mehr das Verbot, sondern das Gebot bestimmt seinen Charakter. Selbst das Verbotene wird, indem man es unterläßt, nun positiv. Man hält die Arbeitsverbote des Sabbats um des Ruhegebots willen, man empfindet in der Enthaltung von den verbotenen Speisen die Freude, mit dem Alltäglichen und Allmenschlichen des leiblichen Lebens noch Jude sein zu dürfen, das Unterlassen selber wird Tun.
Damit aber ist jene Grenzlinie durchbrochen; die beiden Welten, die des jüdischen Verbotenen und die des erlaubten Unjüdischen fließen ineinander. Es gilt nun kein Nebeneinander von jüdischem und unjüdischem Tun mehr; hier wie dort umzäunt uns überlieferte Form, dort wie hier umblüht uns gewachsene Freiheit. Das Reich des Tubaren ist ein eines geworden. In ihm sind nun beschlossen die Form, die, selbst wo sie versagt, von dem der in sie eingeht noch als eine Freiheit, ein Tundürfen empfunden wird; in ihm aber auch die Freiheit, die nun, selbst wo sie spielt, noch Form, ein Tunsollen, begründet. In diesem einen Reich des Tubaren liegt etwa die gesetzliche Ausschließung des Weibes aus der Gemeinde, doch nicht nach der Seite dessen empfunden, was dadurch versagt, sondern was dadurch geschaffen wird: das männliche, in bildhaftem Sinn kriegerisch-öffentliche Gesicht der Gemeinde – und liegt doch auch, und ebensosehr, der herrschende Rang im Haus, den ihr die Sitte gegeben hat und den der Mann in dem allsabbatlichen Eingangsgesang des biblischen Lieds von der Frauenkraft vor ihr bekennt und bekundet. Es liegt in diesem einen Reich das Verbot des Bildnisses, wieder nicht empfunden nach dem hin, was dadurch ausgerodet, sondern nach dem was dadurch gepflanzt und gehegt wird: das Gefühl der Unvergleichbarkeit des Einzigen, – und nicht weniger doch auch das unendliche und unendlich verschiedenfarbige Gewand von Melodien, das der Lauf der Jahrhunderte um den Unsichtbaren und seinen Dienst gewoben hat. Es liegt darin der strenge Abschluß von den Völkern, den das Gesetz bis in die Einzelheiten des Alltagslebens erzwingt, auch er doch nicht empfunden nach der Seite des äußeren Abschlusses, sondern nach der des inneren Zusammenschlusses, – und liegt darin doch auch das Geschichtsgesetz der Assimilation, dem unter den Völkern keines aktiv und passiv so sehr unterstellt ist wie das messianische. Immer ist beides gleich verpflichtend, gleich kraftbindend und -entbindend. Immer ist das Tubare ein eines.
Aber wieder haben wir einzusehn, daß mit dieser vereinheitlichenden Ausweitung des jüdisch Tubaren noch nichts – wirklich getan ist. Alles Tubare und zu Tuende ist noch nicht Tat, alles Gebietbare und zu Gebietende noch nicht Gebot. Gebot aber, Gebot das sich unmittelbar, im Augenblick wo es vernommen wird, in Tat umsetzt, muß das Gesetz wieder werden. Es muß die Heutigkeit wiederkriegen, die alle großen jüdischen Zeiten als die einzige Bewährung seiner Ewigkeit empfunden haben. Es muß gleich der Lehre erst da anzufangen sich bewußt werden, wo sein Inhalt aufhört, Inhalt zu sein, und sich in Kraft, unsre Kraft, verwandelt. In Kraft, die nun selber den Stoff wieder mehrt, – um sich selber. Denn mag einer „alles“ Tubare tuen wollen, so wird er mit diesem gewollten Tun das Gesetz mit nichten erfüllen, es nicht so erfüllen, daß es ihm zum Gebot wird; zum Gebot, das er erfüllen muß, weil er es nicht unerfüllt lassen kann, – wie es einst Akibas berühmtes Gleichnis von den Fischen ausgesprochen hat. Es kommt also letzthin nicht auf unsern Willen dabei an, sondern, auch hier, auf unser Können. Auch hier geschieht das Entscheidende erst in der Auswahl, die aus der Fülle des Tubaren willenlos das Können vornimmt. Diese Wahl kann, eben weil sie nicht dem Willen aufgelegt ist, sondern dem Können, nicht anders als ganz individuell sein; denn zwar an den Willen kann sich ein allgemeines Gesetz fordernd wenden, aber das Können trägt sein eigenes Gesetz in sich; es gibt nur mein, dein, sein und auf ihnen aufgebaut nicht aller, sondern unser Können. Ob also viel oder wenig getan wird, ja ob überhaupt etwas getan wird, ist unerheblich gegenüber der einen unumgehbaren Forderung, daß nur aus der Kraft getan wird. Wie das Wissen alles Wißbaren noch keine Weisheit ist, so das Tun alles Tubaren noch keine Tat. Die Tat entspringt – ein Sprung auch hier! – erst an der Grenze des bloß Tubaren, da wo die Stimme des Gebots augenblickshaft den Funken von „Ich muß“ zu „Ich kann“ überspringen läßt. Aus solchen Geboten und nur aus solchen erbaut sich das Gesetz.
Wieder also wird uns