seis nun große seis geringe Kraft, die sein ganzes Wesen trägt und durchströmt.
Dieser Kraft aber, wie sie sich innerhalb des einzelnen Juden nicht begrenzt, grenzt auch ihn selber nicht ab nach „außen“. Sie macht ihn ja grade zum Menschen. Sonderbar genug für ein nationalistisch vernageltes Gehirn: dies Judesein ist keine Schranke, die den Juden abgrenzt gegen irgend etwas, was sich selber abgrenzt. Nur Begrenztes kann an Begrenztem seine Grenze finden. Unbegrenztes begrenzt sich nur an Unbegrenztem. Der jüdische Mensch findet seine Grenze nicht am Deutschen oder Franzosen, er findet sie einzig an dem Menschen, der ebenso unbegrenzt, ebenso – menschlich ist wie er selber: am christlichen, am heidnischen Menschen. Mit ihnen allein dürfte der jüdische Mensch auf eine Linie treten. In ihnen erst begegnen ihm Menschen, die ebenso allumfassend zu sein beanspruchen und es auch – über alle Scheidungen der Völker und Staaten, der Begabungen und Charaktere (denn auch die grenzen Mensch gegen Mensch) – sind. Nicht minder umfassend, nicht minder alldurchdringend und nicht minder allem sich verbindend wie das Christentum des menschlichen Christen, das Heidentum des humanen Heiden muß dem jüdischen Menschen sein Judentum sein.
Wie also? Dennoch und trotz allem wieder die alte, jetzt ein gutes Jahrhundert lang abgespielte Melodie vom Judentum als „Religion“, gar als „Konfession“? Die alte Auskunft eines Jahrhunderts, das die Einheit des jüdischen Menschen säuberlich auseinanderzulegen versuchte in eine „Religion“ für einige hundert Rabbiner und eine „Konfession“ für einige Zehntausende wohlsituierter Staatsbürger! Verhüte Gott, daß wir diese Platte, die schon keinen reinen Ton mehr gibt – gab sie ihn je? –, wieder auflegen wollten. Nein, was uns Judentum heißt, das Judesein des jüdischen Menschen, das ist nichts, was sich in einer „religiösen“ „Literatur“, selbst nicht in einem „religiösen Leben“ fassen ließe, und ist auch nichts, was man vor dem Standesbeamten als „Konfession“ „bekennen“ kann. Es ist ja eben überhaupt kein Etwas, ist kein Fach unter Fächern, keine Lebenssphäre unter Lebenssphären, zu welch allem die Kulturseligkeit des Emanzipationsjahrhunderts es hatte herabdrücken wollen, sondern es ist in dem Menschen, den es zum jüdischen Menschen macht, etwas unwägbar Kleines und doch unermeßlich Großes, sein unzugänglichstes Geheimnis und doch hervorbrechend aus jeder Gebärde und aus jedem Wort, und aus dem unbeachtetsten am meisten. Das Jüdische, das ich meine, ist keine „Literatur“. Im Büchermachen wird es nicht ergriffen. Im Bücherlesen auch nicht. Es wird noch nicht einmal – mögens mir alle modernen Geister verzeihen! – „erlebt“. Es wird höchstens ge-lebt. Vielleicht nicht einmal das. Man ist es.
Man ist es. Aber freilich: auch es ist. Und weil es ist, weil es schon da ist, schon da war, ehe ich war, und sein wird, auch wenn ich nicht mehr bin, deshalb – aber auch nur deshalb – ist es auch Literatur. Nur deshalb gibt es Fragen der jüdischen Bildung. Alle Literatur ist ja nur um der Werdenden willen geschrieben. Und um dessen willen, was in einem jeden immer noch an Werdendem bleibt. Die jüdische Sprache, die kein „Lesen“ kennt, das nicht „Lernen“ hieße, plaudert dies Geheimnis aller Literatur aus. Denn ein Geheimnis, obwohl ein ganz hüllenloses, ists diesen bildungsbesessenen und bildungserstickten Zeiten, daß Bücher nur dasind, um Gewordenes dem Werdenden zu vermitteln, daß aber, was zwischen Gewordenem und Werdendem steht, der Tag, das Heute, die Gegenwart, das – Leben, keiner Bücher bedarf. Wenn ich bin, was frage ich nach dem, was mich „bilden“ könnte? Ich bin ja. Aber Kinder kommen und fragen, und in mir selber erwacht das Kind, das noch nicht „ist“, das noch nicht „lebt“, und es fragt und will gebildet werden, will werden: wozu denn? Nun, zum Lebendigen, zu dem, was – ist. Und da hat das Büchermachen ein Ende.
Denn das Leben steht zwischen zwei Zeiten, der Augenblick zwischen Vergangenheit und Zukunft. Der lebendige Augenblick selbst ist des Büchermachens Ende. Aber hart an ihn stoßen zwei Reiche des Büchermachens, zwei Reiche der Bildung. In ihnen ist des Büchermachens kein Ende. Kein Ende kennt die Erforschung des Vergangenen, sie, der auch der Augenblick nichts gilt, bevor sie ihn sich nicht in den Schmetterlingskasten des Vergangenen aufgespießt hat, und die von der Zukunft nur wissen mag, was sie sich von ihr nach dem Gleichnis der Vergangenheit ausmalen kann. Und kein Ende kennt die Belehrung der Künftigen, sie, die den Augenblick nur braucht, um mit seiner Glut die unerwachten Seelen der Werdenden aufzuschließen, und die von der Vergangenheit nur nimmt, was lehrbar ist, was in den aufgeschlossenen Seelen des neuen Geschlechts Raum findet. Kein Ende also kennt die Wissenschaft, kein Ende kennt die Lehre. Aber zwischen beiden brennt die Flamme des Tags; sie nährt sich nur aus dem begrenzten Stoff des Augenblicks, aber ohne ihre Glut bliebe die Zukunft unerschlossen, ohne ihre Leuchte die Vergangenheit unsichtbar. Nur aus dem buchstabenfreien Geiste des Augenblicks kommt den Welten, die ihm angrenzen, der Welt der Forschung und der Welt der Lehre, kommt der Wissenschaft und dem Unterricht Kraft und Leben.
Forschung und Lehre, Wissenschaft und Unterricht: unter uns sind sie gestorben. Das Wort mag viele Ohren verletzen, aber ich weiß mich, wenn ich es spreche, eins mit den Besten unter den Jungen und – Gott sei Dank! denn sonst würde ich mir nicht trauen – auch unter den Alten. Unsre Wissenschaft hat seit Mendelssohn und Zunz nicht mehr den Mut zu sich selber, sondern läuft in achtungsvollem Abstand hinter der Wissenschaft der „andern“ her. In achtungsvollem Abstand. Was bei jenen schon vieux jeu ist, wird bei uns – in dem, mit Recht, sehr engen Kreis derer, die überhaupt diesem Schattentanz zuschauen – noch bereitwillig als dernier cri angestaunt. Und was im geistigen Deutschland schon die Spatzen von allen Dächern pfeifen, das gilt unter uns noch als unerhörte Ketzerei. Wir haben uns, indem wir aus dem alten Ghetto heraustraten, schleunigst in ein neues gesperrt. Nur daß wir es diesmal selber nicht wissen wollen, und daß wir eine Wissenschaft treiben, die, sehr wenige Ausnahmen abgerechnet, genau so wenig deutsch u n d genau so wenig jüdisch ist wie – nun, wie etwa die „deutschen“ Zunamen, mit denen sich unsere Urgroßväter im ersten Rausch der Emanzipation behängten.
Und nicht besser stehts mit der Lehre. Ich will nicht wiederholen, was ich vor drei Jahren ausführlicher gesagt habe. Man hat sich an meine damalige bewußt über das zunächst Erreichbare hinausschießende Lehrplan-Utopie gehalten und vielfach geglaubt, damit auch die Kritik am jetzigen Betriebe des Unterrichts abzutun. Aber die bleibt bestehn, und wenn alle meine Reformvorschläge Unsinn wären – was sie nicht sind. Meine Kritik aber sagte: die Taufbewegung, die uns Jahr für Jahr nicht, wie immer wieder gelogen wird, die Schlechtesten, sondern die Besten entführt, fällt unserm Religionsunterricht zur Last. Die Verse von Max Brod über diesen Gegenstand in seinem großen Gedicht „An die getauften Juden“ sind wahr wie Prosa. Aber freilich, der Einzelne ist meist unschuldig. Es hängt in solchen Dingen alles zusammen. Wir haben keine Lehrer, weil wir keinen Lehrerstand haben, wir haben keinen Lehrerstand, weil wir keinen Gelehrtenstand haben; wir haben keinen Gelehrtenstand, weil wir keine Wissenschaft haben. Unterricht und Forschung sind beide verkümmert. Sie sinds, weil uns das fehlt, wodurch Wissen wie Lehre erst lebendig werden: das – Leben.
Das Leben. Zwischen den beiden Reichen der Bildung und ihrer endlosen Büchermacherei klafft eine Lücke, unausgefüllt seit mehr als hundert Jahren. Es fehlt in der emanzipierten deutschen Judenheit eine Plattform jüdischen Lebens, auf der die bücherlose Gegenwart zu ihrem Rechte käme. Bis zur Emanzipation war diese Plattform das Dasein in den Schranken des altjüdischen Gesetzes, im jüdischen Hause, im synagogalen Dienst. Die Emanzipation hat diese Plattform gesprengt. Wohl sind die Teile alle drei noch da, aber eben weil nur noch Teile, deshalb nicht mehr das, was sie in ihrem Zusammenhang bis da waren: die eine Plattform des einen wirklich und gegenwärtig gelebten Lebens, dem Wissenschaft und Unterricht nur zu dienen hatten und aus dem sie hinwiederum ihre besten Kräfte zogen.
Wo heute das Gesetz im Westjudentum noch gehalten wird, da ist es nicht mehr die gewissermaßen bloß auf Paragraphen gezogene, übrigens aber nur selbstverständliche „Jüdischkeit“ des Lebens, sondern es hat eine Spitze bekommen, und zwar – ganz seinem echten Sinn zuwider – eine Spitze, die sich nicht vornehmlich nach außen kehrt, sondern die sich innerhalb der Judenheit gegen die große Mehrzahl derer richtet, die sich an das Gesetz nicht mehr halten. Das Gesetz unterscheidet heute bei uns den Juden vom Juden mehr als den Juden vom Nichtjuden.
So wie das Gesetz, weil losgesprengt aus der Einheit mit Haus und Kult, nicht mehr ist, was es war, so auch die beiden anderen Stücke. Auch das jüdische Haus ist heute, wo es noch aufrecht erhalten