Franz Rosenzweig

Zweistromland


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Es wird auf die Dauer ein mindestens ungesunder Zustand, daß unserer Gemeinschaft oder wenigstens ihren nach außen führenden Kreisen nahezu gänzlich jede lebendige Fühlung mit diesem Buch, dem sie äußerlich gesehen ihren Zusammenhalt und Bestand bis in die neueste Zeit dankt, verlorengegangen ist, soweit daß man vielleicht von der Mehrheit unserer jüdischen Gebildeten ohne Übertreibung behaupten kann, daß sie das Buch wissentlich nicht einmal von außen je gesehen haben. Andrerseits ist die Übermittlung einer solchen allgemeinen Kenntnis innerhalb des beschränkten Raums von rund 25 Unterrichtsstunden – wenn wir 40 auf Bibellektüre und 15 auf den Überblick der jüdischen Geschichte rechnen – nicht so schwierig, wie es zunächst scheint. Die bisher erreichte Sicherheit im Hebräischen erlaubt es, die sprachliche Eigenart des talmudischen Aramäisch, dem man ohnedies noch durch Lektüre der aramäischen Teile der Bibel zu Hilfe kommen kann, als „Abweichungen vom Hebräischen“ sehr kurz zu behandeln; es genügt dann, wenn einige möglichst zugleich leichte und charakteristische Proben aus verschiedenen Gebieten dieser klassischen „Jüdischen Enzyklopädie“ durchgegangen werden; genug, wenn der Schüler einen Begriff von dem Besonderen der talmudischen Lehrart und eine entfernte Vorstellung von dem Umfang der behandelten Gegenstände erhält. Der Talmud gehört, eben durch seine Fremdartigkeit gegenüber dem heutigen Denken und Wissen, zu den Dingen, bei denen der Sprung vom Nichtkennen zur oberflächlichen Bekanntschaft größer und bei guter Leitung ausblicksreicher ist als der von dieser oberflächlichen Bekanntschaft zu gründlicher Vertrautheit.

      Was nach dem Scheideweg der Einjährigenberechtigung noch auf der Schule bleibt, darf als ein in gewisser Weise noch weiter gesiebtes Schülermaterial angesehen werden. Während aus jener abschwenkenden Gruppe vielfach die tätigen Erhalter des materiellen Daseins unserer Gemeinschaft hervorgehen, bleibt jetzt der Rest, der auf die Ansichten, auf die „öffentliche Meinung“, soweit man von einer solchen innerhalb der Gemeinde reden kann, zu wirken bestimmt ist. So wird sich der Unterricht der drei letzten Jahre eindeutiger als bis dahin auf ein Schülerpublikum von künftigen Akademikern einstellen. Im ersten – Obersekunda – mag die zuletzt gewonnene Ansicht des Talmuds noch etwas vertieft werden; zugleich läßt sich hier durch eine Heranziehung der im weiteren Sinn talmudischen Literatur, insbesondere der Midraschim, der im vorhergehenden Jahre verlorene Anschluß an das jüdische Jahr wiedergewinnen; die Kenntnis dieser ganz eigentümlichen, man möchte sagen, wissenschaftlichen Mythologie ist ja für das tiefere Verständnis des jüdischen Geistes geradezu Voraussetzung. Neben dieser gewissermaßen volkstümlichen Quelle der jüdischen Weltanschauung wird nun auf dieser Klassenstufe vor allem Raum zu schaffen sein für eine gründliche Übersicht über ihren klassischen Ausgangspunkt, die Prophetie. Zu den einzelnen Prophetenabschnitten, die schon der Obertertianer und Untersekundaner gelesen hat, kommt jetzt eine zusammenhängende Auswahl von Amos und Hosea bis zu Maleachi und Daniel; mindestens die Hälfte der Zeit dieses Jahres ist darauf zu verwenden; ich rechne, daß dann etwa ein Fünftel des ganzen Textes durchgelesen werden kann; bei guter Auswahl genug. An diesem Hauptstück unseres Schrifttums als an dem eigentlich kritischen Punkt und wahren religionsgeschichtlichen Scheideweg mag dann auch das schon früher gelegentlich erörterte Verhältnis zum Christentum gründlich dargestellt werden.

      Nachdem so die geistigen Grundlagen weitschichtig gelegt sind, mag nun das nächste Jahr – Unterprima – eine Art anthologischen Überblicks über die ganze exilische Literatur bringen. Von Philo und Saadja über Gabirol und Ibn Esra, Juda ha-Levi und Maimonides, Gersonides und Albo weiter zu Caro und Isserles bis hin zu Mendelssohn und Zunz und je nach der Neigung des Lehrers auch noch weiter in unsere Zeit mag der Schüler geführt werden. Hier endlich liegt ein Stoff vor, der ihm großenteils, wenn auch nicht ausschließlich, in Übersetzung vorgelegt werden kann; denn der geheime Zauber des hebräischen Worts ist diesen Produktionen meist, und gerade vielfach den größten unter ihnen, nicht an der Wiege gesungen; so wird hier die Weiterübersetzung ins Deutsche wenig verschlagen. Es läßt sich sehr viel in so einem Jahr zusammendrängen; 80 Stunden sind eine lange Zeit, die Zeit einer zweisemestrigen dreistündigen Universitätsvorlesung; man darf sie ruhig voll rechnen; denn ein Lehrer, der bei Sechzehn- und Siebzehnjährigen und einem solchen Stoff noch glaubt „Pensen abfragen“ zu müssen, disqualifiziert sich selber.

      Dem Überblick folgt die Vertiefung. Das letzte Schuljahr sei wesentlich der Philosophie gewidmet. Hier muß der persönlichen Liebe des Lehrers freie Bahn gelassen werden; es ist seine Sache, ob er hier ein Stück Kusari oder Ikkarim oder More oder Choboth halebaboth lesen will oder gar es wagen möchte, den Schülern einen Einblick in den Sohar oder in Lurja zu öffnen. Nicht auf den eindrucksvollen Reichtum des literargeschichtlichen Gesamtbildes, wie im vorhergehenden Jahre, kommt es hier an, sondern auf sachliche Vertiefung am einzelnen Punkt oder an einzelnen Punkten. Auch Hiob oder Koheleth mag mancher Lehrer hier lesen wollen; es sei ihm unbenommen. Die stärksten und tiefsten Eindrücke sind gerade recht für den künftigen Abiturienten; er soll das Judentum nicht bloß als eine ihm eigene Welt, sondern auch als eine geistige Macht erkennen und im Leben behüten.

      Dies der Plan. Verlockend zunächst, aber wie es scheint aussichtslos, was die Verwirklichung anlangt. Auf ein erstes Bedenken wird schon die vorausgesetzte wirkliche Neunklassigkeit stoßen. Denn dies allerdings ist hier ganz entschieden verlangt, daß jede Klasse wirklich für sich unterrichtet wird. Das System (wenn man ein reines Verlegenheitserzeugnis so nennen will), das System der Zusammenlegung mehrerer Klassen zu einer „Stufe“ ist geradezu der Tod jedes lebendigen Unterrichts, der eben, im Ideal, eine ständige Wechselwirkung zwischen dem Lehrer und sämtlichen anwesenden Schülern voraussetzt; die zwei Drittel Unbeteiligte im Klassenzimmer müssen gerade für den guten Lehrer, d. h. für den Lehrer, der sein Lehren aus den auf ihn gerichteten Augen der Schüler schöpft, ein Bleigewicht sein; ganz abgesehen davon, daß die eine Lehrergehaltsersparnis erkauft wird durch eine vielfache Schülerzeitverschwendung. Und dabei ist gerade dieser Mißstand bei etwas gutem Willen verhältnismäßig leicht zu beheben. Es ist weiter nichts erforderlich als eine Zusammenlegung der Unterrichtsstunden von sämtlichen höheren Schulen der Stadt oder des Stadtbezirks, allenfalls bis zu 30 und mehr Schülern, eine Zahl, die sich ja in den Oberklassen automatisch verkleinern würde. Geeignete Nachmittagsstunden wenigstens hierfür freizuhalten, wäre kein übermäßiger Anspruch an die Schulen; zur Not müßte man eben weniger günstige Zeiten wählen; auf Vormittagsstunden wird sowieso kaum zu hoffen sein. Überhaupt wird man gut tun, sich nicht allzuviel auf Entgegenkommen der öffentlichen Mächte zu verlassen und nach Möglichkeit in diese ganzen Überlegungen nur die eigene Kraft als Faktor einzustellen. So wird man vor allem sich zunächst auch auf ein staatsgesetzliches Obligatorischwerden unseres Unterrichts nicht versteifen dürfen; gewiß wäre es ein sehr wünschenswertes Stück „Gleichberechtigung“; aber andrerseits würde der staatliche Einfluß in einem Maße verstärkt, wie es einer so jungen Einrichtung nicht zuträglich wäre. Verlassen wir uns lieber zunächst sowohl in der Finanzierung wie in der Schülerheranziehung auf die eigenen materiellen und pädagogischen Leistungen. Gerade die Stellung des Hebräischen im Mittelpunkt des Unterrichts wird vielfach, obwohl die Sprache hier ja keineswegs Bildungsziel, sondern durchaus nur notwendiger Bildungsträger ist, den Behörden ein Dorn im Auge sein; man wird trotz der wirklich bescheidenen Zeitbeanspruchung – zwei Wochenstunden! während etwa der übliche private Musikunterricht durchschnittlich mit „Üben“ vier bis sechs Wochenstunden wegnimmt – den Überbürdungseinwand machen, ein Einwand, der ohnehin bei „jüdischen Köpfen“ weniger stichhält als im allgemeinen; und man wird vielleicht im Grunde noch weitergehende nicht auszusprechende Besorgnisse haben. Denn verhehlen wir es uns nicht: gerade der liberalgerichtete Flügel der deutschen Judenpolitik hat – von Dohm und Hardenberg und Humboldt an – stets den Leitgedanken gehabt: die Emanzipation sei das Mittel zur Lösung der Judenfrage im Sinne einer Assimilation, die auch der entschiedenste Assimilant, der sich noch zu uns zählt, nicht unter dem Wort mitbegreifen würde. Deswegen können wir hier nur auf vorsichtige Unterstützung rechnen und selbst auf diese eher aus – freilich unsere Ziele und Gründe mißverstehenden – konservativen als aus liberalen Kreisen. Wie in den schulorganisatorischen Fragen, so auch in der Frage der Stellung des Lehrers im Lehrerkolleg. Auch hier möge auf den Kampf ums Recht nicht zuviel nützlicher zu verwendende Kraft verpulvert werden. Hier wie überall ist es besser, vom Keller und aus Eigenem zu bauen; steht einmal erst ein Gebäude eindrucksvoll da, so wird die öffentliche Gewalt sich schon von selbst und in ihrem eigenen Interesse