Franz Rosenzweig

Zweistromland


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brauchen diese neue Lebendigkeit. Die Hoffnungsfreude, mit der weite Kreise unter uns bei Kriegsausbruch eine neue Zeit für die deutsche Judenheit angebrochen sahen, ist erloschen. Es ist vom ernsthaft jüdischen Standpunkt aus ein Glück. Große Wandlungen dürfen dem Tüchtigen nicht als Geschenke von außen und oben in den Schoß fallen; die Zeit darf ihm nichts bringen, wofür er sich nicht selbst reif gemacht hat. Jene äußere Gleichberechtigung, auf die man hoffte, wäre ein solches Geschenk gewesen. Wir hätten als Einzelne erreicht, was der Gemeinschaft versagt geblieben wäre; im Grunde also der deutsche Zustand wie er schon vorher galt; mit dem einzigen Unterschied, daß, was früher wenigen Einzelnen zukam, jetzt von vielen, ja vielleicht den meisten erreicht worden wäre. Aber viele Einzelne, ja selbst die Gesamtheit der Einzelnen sind noch nicht die Gemeinschaft. Sie ist vielleicht in manchen Augenblicken bei den Wenigen besser aufgehoben als bei den Vielen. Ihr zunächst gilt es, die „Gleichberechtigung“ zu erkämpfen, und nicht zu erkämpfen, sondern zu erarbeiten. Ist erst eine solche Gleichberechtigung der Gemeinschaft, des Judentums, von uns erreicht, dann wird die Gleichberechtigung der Einzelnen, der Judenheit, von selber nachfolgen. Der Weg aber zur Gleichberechtigung der Gemeinschaft führt über die Organisation. Sie ist der Punkt, wo die bewußte Arbeit des Einzelnen den Pfad zum Geist der Gemeinschaft findet.

      Als man uns in der ersten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts in Deutschland zur Teilnahme am gemeinsamen Leben des Volks und Staats heranzuziehen begann, da geschah es so, daß man für den Einzelnen durch Gesetzesparagraphen die Schranken niederzulegen suchte, die ihn bisher noch von diesem Leben fernhielten. Daß der zu emanzipierende Einzelne selber auch seinerseits von Schranken eines eigenen gemeinsamen Lebens umfangen war, das galt bestenfalls für eine unbedeutende Erschwerung. Würde man ihm nur die Tore der großen politischen Volksgemeinschaft öffnen, so würden die Ketten, die an den Eingängen der alten Geist- und Blutgemeinschaft ausgespannt waren, schon von selber fallen. Nur die Reaktionäre meinten es damals anders. Die Judengesetzgebung, die Friedrich Wilhelm IV. plante, dachte zwar ebenfalls in ihrer Weise die Juden am Staat zu beteiligen, aber nicht auf Grund des den Einzelnen eröffneten Rechts, sondern auf Grund einer körperschaftlichen Verfassung der „Judenschaft“. Das lag im Rahmen der gesamten auf Belebung der körperschaftlichen Gliederung des Volks gerichteten Staatsansicht dieser Kreise; doch gerade gegenüber den Juden und gegenüber dem Wege im Sinne einzelpersönlicher Bildung, den sie in den letzten Jahrzehnten aus eigenem Antrieb eingeschlagen hatten, sah der Pferdefuß allgemein zurückschraubender Absichten zu deutlich unter dem staatsphilosophischen Gedankentalar heraus. So sind jene Pläne damals erfolglos geblieben. Auch heute wird sie kein Verständiger unter uns wiederbelebt sehen wollen. Gleichwohl hat sich die Zeit auch von jenen schlechthin einzelrechtlichen Vorstellungen, die damals wenigstens auf dem Papier siegten, wieder abgekehrt. Wir haben gelernt, daß mit der paragraphierten Berechtigung der Einzelnen wenig gewonnen ist. Solange man den Einzelnen zwar unter Umständen als Einzelnen gern mitwirken läßt, aber doch immer nur, indem man gegenüber der Tatsache seines Zugehörens zur Gemeinschaft nachsichtig ein Auge zudrückt, solange ist alles, was der Einzelne erreicht, selbst wenn er die Zugehörigkeit zu uns nicht verleugnet, höchstens materiell gesehen ein Nutzen für die Gemeinschaft, ideell gesehen aber nicht bloß kein Nutzen, sondern geradezu ein Schade. Die Gemeinschaft selber muß in eindrucksvoller Zusammenfassung nach innen wirksam, nach außen sichtbar werden, damit sie nicht trotz unserer persönlichen Anhänglichkeit, sowie wir heraustreten, uns von der Außenwelt als ein bestenfalls harmloser Makel nachgesehen wird. Nicht die Judenschaft zwar, wie die Reaktionäre der Mitte des 19. Jahrhunderts wollten, gilt es organisch zu verkörpern, aber das Judentum. Nicht judenschaftliche, sondern jüdischgeistige Organisationen gilt es zu schaffen. Der Geist des Judentums verlangt nach eigenen Heim- und Pflegestätten. Das jüdische Bildungsproblem auf allen Stufen und in allen Formen ist die jüdische Lebensfrage des Augenblicks.

      Des Augenblicks. Denn wahrhaftig: die Zeit zum Handeln ist gekommen – „Zeit ists zu handeln für den Herrn – sie zernichten deine Lehre.“ (Ps. 119, 126).

      Bildung – und kein Ende

      Prediger 12, 12

      Wünsche zum jüdischen Bildungsproblem des Augenblicks insbesondere zur Volkshochschulfrage

       An Eduard Strauß „Wünsche sind die Boten des Vertrauens“

      Als ich vor nunmehr drei Jahren an unsern großen seither verstorbenen Lehrer Hermann Cohen meinen Aufruf richtete, es sei „Zeit“, daß etwas Gründliches geschehe für das jüdische Bildungswesen auf deutschem Boden, schloß ich mit den Worten: das jüdische Bildungsproblem auf allen Stufen und in allen Formen ist die jüdische Lebensfrage des Augenblicks. Der Augenblick ist verstrichen. Das Problem ist geblieben. Die Not fordert die Tat, so gebieterisch wie je. Und es genügt nicht, den Samen auszustreuen, der vielleicht erst in ferner Zukunft aufgeht und Frucht bringt. Heute drängt die Not, heute muß das Heilmittel gefunden werden. Eine Therapie künstlicher Umwege ist nicht am Platz. Wer helfen will, muß sich sputen, sonst findet er den Patienten nicht mehr am Leben.

      Es ist des Büchermachens kein Ende, sagt der Prediger. Der Gedanke, den ich damals Hermann Cohen vorlegte und den dieser mit dem ganzen Feuer seiner letzten Tage ins Leben führte, der Gedanke, den jüdischen Lehrerstand in Deutschland gesellschaftlich und geistig zu erneuern, indem man ihm ein Zentrum schaffe in einer Akademie für Wissenschaft des Judentums, ist inzwischen der Absicht Hermann Cohens weit entfremdet worden. Das Forschungsinstitut, das in Berlin als Keimzelle der zukünftigen Akademie entstanden ist, verfolgt unmittelbar und zunächst andere Zwecke, Zwecke, von deren Berechtigung man durchaus überzeugt sein kann, ohne deswegen doch unter den heutigen Umständen ihre Dringlichkeit zuzugeben. Das Gesicht der Welt sieht heute so aus, daß man sich wohl wird entschließen müssen, manches an sich Wünschenswerte auf – nicht bessere Tage, sondern bessere Jahrhunderte zu vertagen. Und daß es dringlich – wohlverstanden: momentan dringlich – wäre, die Wissenschaft des Judentums zu organisieren, Menschen also, einerlei ob Juden oder Nichtjuden, zum endlosen Büchermachen über jüdische Gegenstände anzuhalten, das wird wohl schwerlich jemand behaupten. Weniger als je bedürfen wir heut der Bücher. Mehr als je – nein, aber so sehr wie je bedürfen wir heut der Menschen. Der jüdischen Menschen: um denn einmal das Schlagwort auszusprechen, das es heute von dem Parteigeruch zu reinigen gilt, der ihm anhaftet. Denn nicht in dem nur scheinbar weiten, in Wahrheit viel zu engen, ich möchte sagen: kleinjüdischen Sinn darf das Wort verstanden werden, in dem es ein nichts-als-politischer oder selbst noch ein nichts-als-kulturnationaler Zionismus wohl verstehen möchte. Hier ist es vielmehr gemeint in einem Sinne, der gewiß jenen zionistischen mit umgreift, aber außer ihm noch viel mehr. Der jüdische Mensch – das bedeutet hier keine Abgrenzung gegen andere Menschlichkeiten; keine Scheidewand soll sich hier aufrichten; selbst innerhalb des Einzelnen mögen sich mehrere Kreise berühren oder schneiden; nicht anders zeigt es ja die Wirklichkeit, die nur ein verbohrter Eigensinn leugnen kann. Freilich dieser Eigensinn und sein Gegenstück, die feige Verleugnung – diese beiden scheinen das Antlitz der jüdischen Gegenwart zu zeichnen. Und wenn das Problem so gestellt wird, wie es heute die extremen Parteien von beiden Seiten, Zionisten und Assimilanten, sich stellen: Judentum und Deutschtum – so kann die Lösung freilich nur das Entweder-Oder des Eigensinns und der Verleugnung sein. Aber es geschieht der Jüdischkeit des jüdischen Menschen Unrecht, wenn man sie auf eine Linie mit seinem Deutschtum stellt. Deutschtum grenzt sich notwendig ab gegen andere Volkstümer. Das Deutschtum des jüdischen Menschen schließt sein gleichzeitiges Franzosenoder Engländertum aus. Der Deutsche ist eben nur Deutscher, nicht zugleich auch Franzose, auch Engländer. Die Sprache selber sträubt sich bezeichnenderweise, von einem deutschen Menschen zu reden. Der Deutsche ist Deutscher, nicht „deutscher Mensch“. Zwischen seinem Deutschtum und seinem Menschentum bestehen wohl Zusammenhänge, Zusammenhänge, über denen Geschichtsphilosophen grübeln mögen und die zu verwirklichen das Werk der lebendigen, schreitenden Geschichte selber sein mag. Aber zwischen seiner Jüdischkeit und seinem Menschentum bestehen keine „Zusammenhänge“, die erst entdeckt, ergrübelt, erst erlebt, erschaffen werden müßten. Hier ist es anders: als Jude ist er Mensch, als Mensch Jude. Ein „jüdisch Kind“ ist man mit jedem Atemzug. Da ist etwas, was die Adern unsres Lebens durchpulst, in schwachem oder starkem Strömen,