Walter Mosley

Der weisse Schmetterling


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geht’s Regina und der Kleinen?«, fragte Rita.

      »Gut, beiden gut.«

      Sie nickte und schaute auf meine Hände hinunter. »Haste von den Frauen gehört, wo umgebracht worden sind?«

      »Scheint’s hört man nix anderes.«

      »Weißte, ich hab Angst, zu meinem Auto rauszugehen, wenn ich nachts abschließ.«

      »Schließt du alleine ab?«, fragte ich sie. Aber ehe sie antworten konnte, knallte der Hüne den Hörer so heftig auf die Gabel, dass das Telefon sich mit einem kurzen Klingeln beschwerte.

      Dupree Bouchard stand auf und wandte sich uns zu – mit seinen ganzen eins fünfundneunzig. Er sah mich und schaute sich um, als suchte er nach einer Hintertür. Aber die einzige Tür war die, durch die ich gekommen war.

      Dupree und ich waren Freunde gewesen, als wir jünger waren. In einer Nacht trank er zu viel und sackte weg – und mir und seiner Freundin Coretta blieb nichts, an dem wir uns festhalten konnten als aneinander. Vielleicht hörte er unsere gedämpften Schreie durch seinen Alkoholrausch hindurch. Oder vielleicht gab er mir die Schuld an ihrer Ermordung am nächsten Tag.

      »Hey, Dupree. Wie geht’s denn so bei Champion?«

      Vor zehn Jahren hatten wir beide bei Champion Aircraft gearbeitet. Dupree war ein hervorragender Maschinenschlosser.

      »Die taugen nix, Easy. Wenn de dich umdrehst, ham se jedes Mal ne neue Vorschrift, mit der se dich fertigmachen. Und wenn de n Nigger bist, ham se zwei Vorschriften.«

      »Stimmt«, sagte ich. »Das stimmt. Überall das Gleiche.«

      »Zu Haus im Süden isses besser. Da sticht dich wenigstens kein schwarzer Bruder in den Rücken.« Er sah mir in die Augen, als er das sagte. Dupree konnte nie beweisen, dass ich mit Coretta etwas angestellt oder ihr etwas angetan hatte. Er wusste nur, dass ich in einer Nacht bei ihnen gewesen und dass sie dann für immer gegangen war.

      »Weiß nich, Dupree«, sagte ich. »So viel Lyncherei hat’s hier in L.A. County auch wieder nich gegeben.«

      »Willste was trinken, Dupree?«, fragte Rita.

      Der Hüne setzte sich, zwei Hocker von mir entfernt, und nickte ihr zu.

      »Wie geht’s deiner Frau?«, fragte ich, damit er über etwas Erfreulicheres redete.

      »Die is okay. Ich hab jetzt Arbeit im Temple Hospital«, sagte er.

      »Wirklich? Meine Frau arbeitet dort. Regina.«

      »Wie sieht se aus?«

      »Dunkler Teint. Hübsch und ziemlich schlank. Arbeitet auf der Entbindungsstation.«

      »Wann?«

      »Meistens von acht bis fünf.«

      »Dann hab ich se vermutlich noch nie gesehn. Bin erst zwei Monate dort und hab Nachtschicht. Muss im Keller die Wäsche machen.«

      »Gefällt dir das?«

      »Ja«, sagte er bitter. »Bin begeistert.«

      Dupree nahm den Drink, den Rita brachte, und stürzte ihn mit einem Schluck hinunter. Er klatschte zwei Vierteldollar auf den Tresen und sagte: »Muss weg.«

      Er ging an mir vorbei und zur Tür hinaus, schweigend und finster. Ich erinnerte mich daran, wie laut er in der letzten Nacht mit Coretta und mir gelacht hatte. Damals war sein Lachen wie Donner gewesen.

      Ich wünschte mir, ich könnte rückgängig machen, was meinem Freund widerfahren war, meinen Anteil an seiner lebenslangen Verzweiflung. Ich wünschte es mir, aber was sind schon Wünsche.

      »Andre Lavender«, sagte ich zu Rita.

      »Was haste gesagt?«

      »Andre. Kennste ihn?«

      »Mhm.«

      »Gib mir n Stück Papier.«

      Ich schrieb Andres Namen und Telefonnummer auf und sagte: »Ruf ihn an und sag, ich will, dass er herkommt und dich nachts zum Auto bringt.«

      »Der arbeitet für dich?«

      »Hab ihm mal nen Gefallen getan. Jetzt kann er dir helfen.«

      »Muss ich ihm was zahlen?«

      »Schluck Whiskey reicht.«

      Ich schob mein Glas zu ihr rüber, und sie schenkte noch mal ein.

      Jesus schlug im Verandalicht auf dem Rasen Rad. Die kleine Edna hielt sich an den Gitterstäben des Kinderbetts aufrecht. Sie lachte und quietschte über ihren stummen Bruder. Ich trat durch das Tor und hob einen Football auf, der in den Dahlienbüschen am Zaun lag. Ich pfiff, dann warf ich den Ball, als sich Jesus nach mir umdrehte. Er fing den Football, hielt ihn in einer Hand und winkte mit der anderen Edna zu, als sollte sie herkommen. Sie rüttelte an dem Gitter, hüpfte auf den Fußballen und schrie, so laut sie konnte: »Bumm!«

      Jesus trat den Ball so heftig, dass er gegen den Drahtzaun prallte. Für Großstadtkinder war das Klingeln von Stahl eine Art Musik.

      »Was is denn hier draußen los?« Regina wurde einen Augenblick lang vom grauen Dunst der Fliegentür eingerahmt. Sie kam auf die Veranda und stellte sich vor unsere Kleine, als wollte sie sie beschützen. Edna heulte auf. Sie konnte wegen des Rocks ihrer Mutter weder Jesus noch den Garten sehen.

      »Ach, komm schon, Schatz. Sie is okay«, sagte ich, als ich die drei Stufen zur Veranda hinaufging.

      »Er könnt danebentreffen und ihr den Kopf abreißen!«

      Edna ließ sich heftig auf den gewindelten Hintern fallen. Jesus kletterte auf den Avocadobaum.

      »Du musst dich mehr kümmern, Easy«, sagte die Frau, mit der ich seit zwei Jahren verheiratet war.

      »Issy«, echote Edna.

      Mir fiel die Antwort schwer, denn wenn ich Regina anschaute, fiel mir das Denken immer schwer. Ihre Haut hatte die Farbe von gewachstem Ebenholz, und ihre großen mandelförmigen Augen lagen einen Zentimeter zu weit auseinander. Sie war groß und schlank, aber bei all ihrer Schönheit war da noch etwas, was mir zusetzte. Ich konnte in ihrem Gesicht keine Unvollkommenheit sehen. Keinen Makel, keine Falte. Nie ein Pickel, ein Leberfleck oder ein Härchen am Kinn. Hin und wieder machte sie die Augen zu, aber sie blinzelte niemals wie normale Menschen. Regina war in jeder Hinsicht vollkommen. Sie wusste, wie sie gehen, wie sie sich setzen musste. Aber sie ließ sich nie durch eine lüsterne Bemerkung aus der Fassung bringen oder durch Armut schockieren.

      Jedes Mal, wenn ich Regina Riles ansah, verliebte ich mich in sie. Ich verliebte mich in sie, bevor wir auch nur ein Wort gewechselt hatten.

      »Ich hab gedacht, es wär okay, Schatz.« Ich streckte unbewusst die Hände nach ihr aus, und sie wich aus, eine anmutige Tänzerin.

      »Hör mal, Easy. Jesus weiß nich, was für Edna richtig is. Du musst für ihn denken.«

      »Er weiß mehr, als du glaubst, Baby. Er ist mehr mit kleinen Kindern zusammen gewesen als die meisten Frauen. Und er versteht, auch wenn er nich spricht.«

      Regina schüttelte den Kopf. »Er hat Probleme, Easy. Wenn du sagst, er is okay, so isses noch lange nich wahr.«

      Jesus stieg vom Baum herunter und ging zur Seite des Hauses, in sein Zimmer.

      »Ich weiß nich, was du meinst, Schatz«, sagte ich. »Jeder hat Probleme. Wie einer seine Probleme anpackt, das zeigt, was für ein Mann er wird.«

      »Er is kein Mann. Jesus is bloß ein kleiner Junge. Ich weiß nich, was er Schlimmes erlebt hat, aber ich weiß, dass es zu viel für ihn gewesen is, deshalb kann er nich sprechen.«

      Ich ließ es dabei bewenden. Ich hatte es nie über mich gebracht, ihr die wahre Geschichte zu erzählen. Wie ich den Jungen aus dem Haus einer verschwundenen Frau gerettet hatte, nachdem er von einem bösen Mann gekauft und missbraucht worden war. Wie hätte ich erklären können,