Paul Keller

Ulrichshof


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nun“, sagte Tobias verlegen, „soviel ist das nicht wert! Aber wenn dir die paar Verse was nützen, will ich darüber froh sein.“

      „Wo hast du denn das schöne Gedicht her?“

      Tobias wurde noch verlegener.

      „Ach, halt irgendwoher! Das tut nichts zur Sache. Um auf etwas Wichtiges zu kommen, Brigittchen: als ich heute nachmittag in deiner Schlafstube das gerahmte Gedicht anmachte, sah ich einen schwarzen Vorhang vor der Tür, die früher aus dem Schlafzimmer deines Vaters in das Schlafzimmer deiner Mutter führte. Wie kommt der Vorhang dorthin? Wer hat ihn angebracht?“

      „Julius“, murmelte das Mädchen.

      „Das dachte ich mir“, sagte Tobias. „Warum schwarz?“

      „Ich wollte einen grünen, aber Julius wurde wieder wild, er sagte, es müsse ein schwarzer Vorhang sein. Da gab ich ihm die Hälfte des Preises von meinem ersparten Taschengelde, Heinrich Martin wollte auch beisteuern, aber Julius sagte, nein, das ginge ihn nichts an. Dann hat Julius den Vorhang in der Stadt gekauft und ihn mit Heinrich Martin angemacht in meiner Schlafstube, und ich habe nichts dagegen sagen dürfen.“

      Ein Diener erschien und sagte, Hoheit wolle Herrn Julius, das gnädige Fräulein und Herrn Doktor sprechen. Herr Julius aber sei nirgends zu finden.

      „Er ist nach der Stadt“, gab Tobias Bescheid.

      „Komm mit zu Grossmama, Brigitte!“

      2. Kapitel

      Hoheit und ihre Enkel

      Die Besitzerin des Gutes Ulrichshof liess sich „Hoheit“ titulieren, nicht nach ihrem verstorbenen Gemahl „Exzellenz“. Denn ob diese Dame auch gutwillig, ja begeistert die Frau eines Mannes vom Kleinadel geworden war, so vergass sie doch nie auf ihre fürstliche Abstammung und hatte diesen „Abstand“ auch den Gatten manchmal fühlen lassen. Hoheit war von schlankem, grossem Wuchse und hatte trotz ihrer fünfundsechzig Jahre noch immer ein ziemlich faltenloses Gesicht. Das tägliche Bad, der Reitsport, vernünftiges Masshalten in Essen und Trinken und geeignete Massage hatten ihre Haut bei guter Durchblutung gehalten, und bei guter Durchblutung der Haut kommen Fettansatz oder Runzeln nicht leicht auf.

      Körperliche Trägheit macht rasch alt, geistige auch, zum ganz Altwerden gehört eine gewisse Portion Trägheit und Dummheit; zahlreiche Ausnahmen erhärten diese Regel. Hoheit übernahm sich nie an schwerer geistiger Kost, sie las am liebsten leichte Romane in deutscher oder französischer Sprache. Philosophischen, politischen oder religiösen Auseinandersetzungen war sie abhold. Mit dem Christentum stand Hoheit nur soweit in Verbindung, wie das „offiziell“ von einer Standesdame verlangt wird. Dagegen beschäftigte sich die hohe Dame viel mit Geheimkünsten: mit Kartenlegen, Handlesekunst und mit Spiritismus. Sie war Mitglied eines spiritistischen Zirkels in der nicht weit entfernten Hauptstadt. Einmal hatte Hoheit den Geist Napoleons des Ersten zitiert. Napoleon hatte ihr mit der unverschämten Phrase geantwortet, die er für alle Frauenspersonen hatte, die sich ihm in seinen Privatgemächern aufdrängten, mit einer Phrase, die in anständiger Gesellschaft nicht wiedergegeben werden kann. Wochenlang hatte Hoheit an einem Nervenchok gelitten. Dieser Napoleon blieb auch nach dem Tode noch ein Unflat. Auch mit Goethe hatte Hoheit kein Glück gehabt; er hatte ihr nur zwei Worte geantwortet: „Mehr Licht!“, und Friedrich der Grosse hatte grob gepoltert: „Gehe Sie schlafen, Sie alte Schachtel!“ Daraufhin hatte die Leiterin dieser Sitzungen gesagt: Hoheit solle sich nur trösten, weder Napoleon, noch Goethe, noch Friedrich der Grosse hätten persönlich geantwortet, das seien Koboldereien untergeordneter Geister, die eine Freude daran hätten, die Sitzungen zu stören, die Menschen zu äffen. Die drei zitierten Herren seien auch durch die tausenderlei Seancen, die in jeder Nacht auf Erden veranstaltet würden, so in Anspruch genommen, dass sie nicht immer antworten und ihre elysische Ruhe unterbrechen könnten, wennschon sie — die Leiterin — gehofft habe, sie würden in diesem Falle, da es sich um eine gebürtige Prinzessin handele, eine Ausnahme machen.

      Lange Zeit hatte Hoheit versucht, eine Verbindung mit ihrem verstorbenen Gemahl zu bekommen; es war nicht gelungen, keine Antwort kam. Da hatte bei einem abermaligen vergeblichen Versuche ein Gast einem anderen zugeflüstert: „Vielleicht ist er in der Hölle, da kann er nicht antworten.“ Hoheit hatte einen Ohnmachtsanfall erlitten, denn obgleich sie nicht wusste, ob sie an die Existenz einer Hölle glaube, fürchtete sie sich doch insgeheim ganz schrecklich vor ihr. Einen einzigen Erfolg hatte Hoheit in den spiritistischen Sitzungen erzielt. Sie hatte einen verstorbenen Arbeitsaufseher, der zu Lebzeiten „Vogt“ genannt worden war, befragt, ob er denn nicht wisse, wer ihr seit einem Jahrzehnte die Gänse und Hühner stehle. Ja, hatte der Geist geantwortet, das wisse er. Zu Lebzeiten hätte er sie selber gestohlen, zusammen mit Gustav, dem Pferdeknechte, der die Marktfuhren besorge; nun er tot sei, werde Gustav wohl das Geschäft selbständig weiterführen.

      Diese Botschaft aus dem Jenseits erwies sich als richtig; am nächsten Markttage konnte Gustav in der Stadt mit gestohlenem Federvieh festgenommen werden.

      *

      Hoheit hatte eben eine „Patience“ beendet, die zweiundfünfzig Whistkarten lagen noch auf dem Tisch, als Doktor Tobias mit Brigitte eintrat.

      „Hoheit haben befohlen —“

      „Ja! Wo ist Julius?“

      „Er ist nach der Stadt. Wir trafen ihn — Brigitte und ich.“

      „Sie waren mit Brigitte aus?“

      „Brigitte war nach dem Friedhofe gegangen — ich ging ihr nach — es ist ja heute der Todestag —“

      Hoheit zuckte ein wenig zusammen.

      „Ja, ja, doch wohl der sechsundzwanzigste März. Ich — ich — ich habe es natürlich durchaus nicht vergessen; nur ich bin gegenwärtig mit den Nerven so parterre, dass ich so traurige Friedhofsbesuche nicht machen kann. Sie werden das verstehen, Herr Doktor.“ Tobias verneigte sich; Brigitte sass steif und wortlos da.

      „Wollte denn Julius nach seiner Verbindung?“

      „Er sagte, er wolle nach dem Friedhof. Ob er nachher noch in seine Verbindung geht, weiss ich nicht.

      Julius wird am sechsundzwanzigsten März niemals in ein Gasthaus gehen“, sagte das Mädchen.

      „Du bist nicht gefragt worden, Brigitte“, verwies Hoheit.

      Trotz trat in die weichen Kinderzüge. Zornige Tränen glitzerten in den grossen Augen. Sie gehorchte der Grossmutter nicht.

      „Es ist unser Karfreitag, wir haben den ganzen Tag weder etwas gegessen noch getrunken, keinen Bissen, keinen Schluck Wasser, weder Julius noch ich.“

      „War das eine Verabredung zwischen euch?“

      „Ja. Heinrich Martin hat auch mitgefastet, obwohl es ihn nichts angeht. Er tut es aus Freundschaft.“

      „Das ist ja wie eine Verschwörung! Was sagen Sie dazu, Doktor?“

      „Ich habe davon nichts gewusst.“

      „Von so etwas müssen Sie wissen“, sagte Hoheit scharf.

      „Wofür sind Sie da?“

      Der arme, alte Mann nahm schweigend diesen gallbitteren Bissen seines Gnadenbrotes in Empfang.

      Da trat Julius ein. Er war ein bildhübscher Bursch. Der kohlschwarze, dichte Haarschopf krönte und umrahmte ein prachtvolles, kühnes Jungmännergesicht. Freilich, dieses Gesicht hatte nichts Frohes, nichts Vertrauensseliges, kaum etwas Junges, es war bitter und herb, aber in Nase, Stirn, Kinn, in dem Eigensinn der Augen kündete sich grosse Kraft.

      Er verneigte sich kurz vor seiner Grossmutter.

      „Setz dich, Julius“, sagte diese viel freundlicher, als sie jemals zu dem Mädchen sprach. „Du warst auf dem Friedhofe?“

      „Es ist der Todestag der Mutter, der Todestag deiner Schwiegertochter. Ich sah keinen Kranz von dir auf dem Grabe, ich sah nur den Kranz, den Brigitte hingetragen hat und den wir Kinder zusammen gekauft haben. Und dann war noch ein