Salat! Ja, ja, beim Tode der Menschen werden die schönsten Bibelsprüche missbraucht und die ärgsten Gauner gelobt. Der Tod ist der gewaltigste Schönfärber.“
Einer, der im Verdachte stand, Sozialdemokrat zu sein, sagte:
„Wir sollten in dem Nachruf einen Anreiz haben. Seht, wenn ihr euch auch einmal zu Tode geschuftet habt, steht über euch auch so was Schönes im Kreisblatt. Haha! Was man schon davon hat!“
Anselm, der politisch rechts orientiert war, sagte:
„Ich habe noch keinen Dominialarbeiter gesehen, der sich zu Tode geschuftet hätte. Solche Exemplare von Menschen gibt es gar nicht.“
Er will jetzt selber Vogt werden, dachten die anderen und schwiegen. Um Gustav tat es allen leid, denn was Ehrlichkeit anlangt, hatte keines der Anwesenden ein ganz sauberes Gewissen, nicht einmal Anselm. Er wilderte. Er entschuldigte das vor seinem sonst sehr zarten Gewissen damit, dass seine Ahnen aus Kärnten stammten. Er kannte eine kleine Geschichte, dass einmal ein Bischof von Kärnten auf einer Hirtenreise einen Bauern fragte, ob denn in seiner Gemeinde auch stark gewildert werde, und dass der Bauer geantwortet habe: „Och, g’sessen ham mer alle schon oft, bloss den Herrn Pfarrer haben’s noch net verwischt.“ Die Kärntner müssen wildern, wie die Fische schwimmen müssen. Das ist nicht anders.
Gustav ist ziemlich bald darauf zu sechs Wochen Gefängnis mit Bewährungsfrist verurteilt worden. Hoheit nahm ihn aber nicht wieder in Dienst, und auf den anderen Höfen, wo er sich um eine Knechtstelle bewarb, sagte man ihm, er möchte sich lieber wo anders „bewähren“. Da musste Gustav in die Fremde auswandern; erst dreissig Kilometer von Ulrichshof entfernt fand er wieder eine Anstellung. Er liess seine Emma nachkommen, sie feierten der Einfachheit und Billigkeit wegen Hochzeit und Kindtaufe in einem und lebten herrlich und in Freuden, wie Emma schrieb, da sich Gustav auf seinem neuen Posten, der ein Vertrauensposten sei, wesentlich „verbessert“ habe. Das wirkte aneifernd auf den neuen Marktknecht vom Ulrichshofe, der nun seinerseits die Hühner stahl, dabei hoffend, dass es ihm auch einmal gelingen werde, zu einem so guten Endresultate zu kommen wie Gustav. —
Der Sturm tobte weiter. Ein schwerer Knall erschütterte die Stube. Kreideweiss erschien der junge Ungläubige, der draussen gewesen war, und meldete, er sei beinahe erschlagen worden; von der Heuscheuer, in der ja auch die „Toilette“ untergebracht war, sei soeben das halbe Dach abgerissen worden, direkt über seiner harmlosen und ungeschützten Figur.
Ein neuer Knall.
„Das ist die andere Hälfte des Daches“, bemerkte Anselm erläuternd. Er zuckte die Achseln. Was war solchen Naturgewalten gegenüber zu tun? Wenn die Hoheit ein Mittel hatte, den Sturm zu beschwören, mochte sie es anwenden. Sie selbst konnten nichts tun, als abwarten, ob vielleicht auch noch die anderen Dächer abgedeckt werden würden.
Der Sozialdemokrat sagte: „Die Dachdecker wollen auch leben.“
„Nein“, verwies Anselm. „Hoheit kann einem leid tun. Was das wieder für Kosten macht! Rittergutsbesitzer haben oft allerlei Nebenspesen.“
Er will nur selber Vogt werden, dachten die anderen und schwiegen.
„Bei Fräulein Brigitte ist noch Licht“, sagte der Jungknecht, „aber der Turm ist finster.“
„Julius wird bei Tobias sein, der ist krank.“
„Hoheit hat dem Doktor heute gekündigt.“
„Grosser Gott, dem alten Mann! Wo soll er denn hin? Das kann nicht sein!“
„Der Diener hat es gesagt und der weiss es von Tobias selbst. Deswegen ist er ja krank. Der Schreck . . .“
„Niemand ist hier seines Bissens Brotes sicher.“
Sie grübelten alle vor sich hin. Einer sagte:
„Sie wird wieder mit dem Vogt gesprochen haben, und der hat es sicherlich verraten, dass der Doktor Tobias einmal gesagt hat: Hoheit ist eine schmierige Person.“
„Schmierig hat er nicht gesagt“, widersprach jemand; „eine schwierige Person ist sie, hat er gesagt.“
„Wie kann er schwierig sagen, da sie doch so mager ist und kaum hundertzwanzig Pfund wiegt.“
„Ruhe!“ gebot Anselm. „Was versteht ihr? Das Wort schwierig hat mit Gewicht nichts zu tun; man soll nicht von Dingen reden, von denen man nichts versteht. Da soll man lieber mich befragen.“
Er bildet sich viel ein, dachten die andern; das kommt von dem vielen Lesen in seinem Kalender.
Dann kamen sie auf das schwerste Thema des Tages. Eine Magd fragte: „Könnten wir nicht alle diese Nacht munter bleiben, es ist die Todesnacht der jungen Frau. Es ist so unheimlich, weil auch der Sturm so jagt.“
Erst schwiegen sie alle, dann sagte der Sozialdemokrat: „Die Toten sind tot; sie können niemand mehr etwas anhaben —“
„Die Toten sind nicht tot“, sagte Anselm, „sie sind noch irgendwie und irgendwo da . . . das ist bestimmt wahr.“
„Ich fürchte mich“, sagte die junge Magd. „Wisst ihr noch, wie voriges Jahr die beiden Kinder, der Julius und die Brigitte, geschrien haben, als ihre Mutter starb? Voriges Jahr hat in dieser Nacht niemand von uns geschlafen.“
„Wer hätte da schlafen sollen! Die alte Hoheit war nicht zu Hause; sie war im Süden. Als sie merkte, es gehe mit der Schwiegertochter zu Ende, machte sie sich fort. Ja, es hat niemand von uns geschlafen. Die sterbende Frau war mit den beiden Kindern allein.“
Und mit der Krankenpflegerin und mit Tobias.“
„Und mich hat sie rufen lassen“, sagte Anselm, „und hat gesagt: ‚Grüsse alle unsere Leute noch einmal von mir! Bist ein guter, kluger Mann, Anselm; gib mir die Hand. Grüsse die Leute noch einmal‘.“
Dicke Tropfen liefen dem Alten über die Nasenwände herab. Herb sagte er:
„Sie war eine gute Frau! Wär’ nur die Alte lieber gestorben und die Junge am Leben geblieben!“
Er will doch nicht Vogt werden, dachten die anderen, aber auch sie sagten: „Sie war eine gute Frau!“ Und wenn eines zu träge war, etwas zu sagen, nickte es wenigstens mit dem Kopfe zu diesem Lobe der Verstorbenen.
*
In Brigittes Wohnzimmer sassen drei junge Leute um den festen Tisch, auf dem schon zu Mutters Zeiten die Schulaufgaben geschrieben worden waren; Julius, sein Freund Heinrich Martin und Brigitte. Julius hielt zwei Briefe in der Hand. Zornig sagte er: „Er kann mich nicht in Ruhe lassen mit seinen Schreibereien. Heute befiehlt er mir, ihm zu antworten, wahrscheinlich hat ihm das die Grossmutter eingetrichtert. O, ich habe ihm meine Meinung geschrieben. Passt auf!“ Er las seinen Antwortbrief vor.
„An den Festungsgefangenen
Herrn Eberhard von Kobel . . .
Ulrichshof, den 26. März,
am ersten Todestage meiner geliebten,
unglücklichen Mutter.
Ich berichte, dass Brigitte und ich Ulrichshof verlassen wollen. Wir sind so lange hiergeblieben, weil Brigitte sich nicht von den Zimmern ihrer Mutter trennen wollte. Mir ist das Haus, in dem meine Mutter so unglücklich war und sterben musste, schon lange verhasst. Der äussere Anlass zu dem Entschluss, Ulrichshof verlassen zu wollen, ist der, dass Hoheit dem Doktor Tobias gekündigt hat. Der alte, treue Mensch, der Ihnen, Herr Eberhard von Kobel, zum Maturum verholfen hat und der Ihnen auch die Doktordissertation gemacht hat, soll auf die Strasse geworfen werden, hilflos und krank, wie er ist. Der Grund für diese infame Kündigung besteht darin, dass Tobias unserer Mutter einen kleinen Kranz aufs Grab gelegt hat und dass er Brigitte ein Gedicht, das er selbst verfasst hat, über das Bett gehängt hat. Ich lege Ihnen eine Abschrift dieses Gedichtes bei, obwohl ich glaube, dass Sie es sich nicht über Ihr Bett hängen werden. Wie ich dazu komme, zu wissen, dass Ihre Dissertation ein Plagiat ist, will ich Ihnen mitteilen. Tobias hat mir nicht ein Sterbenswort davon gesagt, dass er der Verfasser Ihrer Doktorarbeit ist, aber er hat mir einmal in