Paul Keller

Ulrichshof


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Gymnasium kann ich nicht bleiben. Wovon sollte ich das Schulgeld bezahlen, wovon sollte ich leben? Wenn ich nichts anderes finde, werde ich Fabrikarbeiter werden.“

      „O, wie heroisch!“ lächelte die Hoheit. „Fabrikarbeiter! Das klingt! Das ist etwas für übergeschnappte Siebzehnjährige. Das ist etwas, um ihrer Familie zu drohen, aber es ist nicht etwas, das ausgehalten werden kann. Alles um eines entlassenen Hauslehrers willen, der nach keiner Richtung etwas taugt, der seine Studienjahre verliedert hat, wohl zur Not seinen Doktor machte, aber kein Staatsexamen zustande brachte, der natürlich damals mit seinem frischbackenen Doktortitel sofort zur Presse lief, dort alberne Artikel, aufgeblasene Kritiken schrieb, bis es doch die gebildeten Leser satt kriegten, so dass er entlassen wurde — das ist Doktor Tobias, der dann auf die schiefe Ebene geriet, in allen möglichen Berufen und Stellungen war, sogar Varietékünstler soll er mal gewesen sein, und der endlich auf Schloss Ulrichshof landete durch die Gnade deines Vaters. Auf Schloss Ulrichshof versteht er sein Erzieheramt nicht, ja, er missbraucht es geradezu zum Nachteil seiner Herrin. Rede mir nur niemand davon, dass meine Massnahme gegen diesen Doktor Tobias ungerecht oder auch nur hart sei. Es bleibt dabei, er hat zu gehen.“

      Der Jüngling, der zuerst puterrot gewesen war, war jetzt blassgrau. Mit fast schleppender Stimme sagte er: „Einiges fehlt in diesem Lebensbilde des Doktor Tobias. Es fehlt zum Beispiel, dass er einmal Lehrer an einer Presse war, die solche Schüler aufnahm, die schon von allen möglichen Gymnasien heruntergeflogen waren. Da kam auch ein gewisser Eberhard von Kobel auf diese Presse.“

      „Schweig, du Unverschämter! Du sprichst von deinem Vater!“

      „Ich spreche zu dem Falle Tobias. Dieser Eberhard von Kobel verdankte es allein dem Doktor Tobias, dass er durchs Abitur kam, er verdankte es dem Doktor Tobias, dass er in Heidelberg, Bonn und Berlin von den allerschlimmsten Streichen abgehalten wurde, dass er nach zwölf Semestern den Doktor erhielt auf eine Dissertation hin, die Tobias abgefasst hatte.“

      „Du Ausgeburt von Niedertracht! Das ist eine infame Lüge von Tobias.“

      „Tobias hat mir nie etwas Nachteiliges über den Mann gesagt, der leider mein Vater ist, auch nicht das über die Dissertation. Ich habe andere Quellen. Der Herr Eberhard von Kobel hat mir einmal seine Doktorarbeit mit einer stolzen Widmung und mit der Mahnung, ihm nachzueifern, gedruckt überreicht. Das Manuskript der Dissertation aber fand ich in der Handschrift des Tobias in dessen Schublade, als ich einmal neugierig darin herumstöberte. Es war noch vor Mutters Tode.“

      Die alte Hoheit konnte nicht mehr sprechen. Sie lag nach Luft ringend und sich fächelnd in einer Sofaecke. Ein Diener brachte ein Telegramm. Die alte Frau raffte sich sofort auf. „Wahrscheinlich vom Anwalt in Berlin.“

      Ein Anwalt in Berlin hatte im Auftrage der Prinzessin die Begnadigung ihres zu fünf Jahren Festungshaft verurteilten Sohnes Eberhard von Kobel bei den zuständigen Behörden mit Hilfe einflussreicher Personen, darunter auch Parlamentarier waren, zu betreiben versucht.

      Hoheit las das Telegramm.

      „Begnadigung leider abgelehnt.“

      Eine Kammerjungfer erschien und brachte die schwererschütterte Hoheit zu Bett. Julius verschwand.

      3. Kapitel

      Sturmnacht

      Dieser Übergang vom sechsundzwanzigsten zum siebenundzwanzigsten März war eine von jenen wilden Nächten, die um die Tag- und Nachtgleiche liegen. Da messen Licht und Finsternis, Winter und Frühling ihre zu gleichen Teilen ausgeloteten Kräfte, jeder hat zwölf Stunden für sich und zwölf Stunden gegen sich. Da gehen noch immer die Nachtalben gegen die Lichtalben an, da wird selbst ein herzhafter Mann nicht gern einsam auf öder Landstrasse wandern. In dieser Zeit sterben die meisten Schwindsüchtigen; der Winter hat sie zum Sterben reif gemacht, der Frühling tötet sie mit seinem zu jähen Licht, seiner zu starken Luft. Unheimlich sind solche Nächte, fast so schlimm wie die Finsternisse, die zwischen Weihnachten und Neujahr liegen, da der wilde Jäger durch die Wälder rast, Wolkenburgen baut auf den Bergen und seine Teufelsreiter über die Welt jagen lässt auf graumähnigen Rossen mit sturmgeblähten Nüstern, das Gesicht in den Nacken gedreht, die Eisen der Pferde verkehrt auf den Hufen.

      *

      In der grossen Gesindestube von Ulrichshof sassen Knechte und Mägde. Sie besprachen die grosse Neuigkeit, dass Gustav, der Pferdeknecht, vom Markt weg verhaftet worden war.

      Die blonde Emma jammerte: „Was soll nur aus mir werden, wenn sie ihn einsperren!“

      „Nun“, sagte die alte Grossmagd Ernestine, die so hässlich war, dass ihr selbst in ihren besten Jugendjahren kein Bursch nachgestellt hatte, giftig, „das Geld für die Kinderwäsche, für den Jungfernkranz und den Brautschleier hat dir ja Gustav ganz solide und reichlich zusammengeklaut.“

      Die jüngeren Knechte und Mägde lachten.

      „Pst!“ sagte Anselm, der älteste Knecht, der unverheiratet und klug war, „pst, keine versteckten Andeutungen, denn mir passt so was nicht. Erst hat der Reiche dem Armen alles genommen und wurde König, und jetzt nimmt der Arme dem Reichen manchmal eine Kleinigkeit und wird ein Gefängnisbrummer. Das nennt sich der Lauf der Welt. Seht, seht unseren Vogt! Der war unsere Obrigkeit, unser Aufseher. Der hat den Gottlieb Kärgel aus dem Hofe gebracht, weil er sich drei Zentner Gerste auf die Seite gebracht hatte, er brauchte die Gerste, es kann auch Weizen gewesen sein, für seine Hühner, und ich glaube für seinen Kanarienvogel als Futter, und seine Frau ass gern Mohnklösse. Fortgejagt ist er worden, und den Weizen hat er bezahlen müssen zum Marktpreise; nicht einmal Prozente haben sie ihm, dem langjährigen treuen Arbeiter, gegeben, sondern ihm einfach das volle Geld abgeknöppt. So ist die Welt! Und denkt ihr noch an den Robert, der unsere Schweinezucht unter sich hatte? Ist „Schweineinspektor“ vielleicht ein schöner Posten? Wer das glaubt, stecke nur mal die Nase in so einen Koben und hör sich die Musik an, die da herauskommt. Ist es zuviel, wenn so ein braver Mann wie Robert vom Schlächter, der die fetteste Sau kauft, sieben Taler „Rüsselgeld“ annimmt, die der Schlächter vom Kaufpreis abzieht, und davon gegen die Hoheit nicht erst gross was dahinerzählt wird? Alles hat der Vogt geklatscht. Oh, der verstorbene, selige Schuft, der! Sogar die Emilie hat er rausgebracht, weil die gern etwas Kristallzucker aus der Küche ass! Und nun — nun — wo sitzt der Vogt? Drüben — im anderen Lande! Wahrscheinlich sitzt er in einer greulichen Klemme. Die Hoheit hat mit ihm gesprochen.“

      Ein Sturmstoss liess die Fenster klirren.

      „Wer kann mit Toten sprechen?“

      Ein neuer furchtbarer Windstoss. Ein Donnerschlag! Anselm und die Grossmagd, die katholisch waren, bekreuzigten sich, die Evangelischen pressten die Hände auf die Brust und senkten den Kopf, wie Evangelische tun, wenn sie in der Kirche das erste Gebet sprechen; ein paar Ungläubige zeigten sich forsch und lächelten verzerrt. Der forscheste schlich gleich darauf nach der „Toilette“, dem verschwiegenen Örtchen, das den vornehmen französischen Namen führte, weil es auf fürstlichem Gebiete lag.

      Allen diesen Leuten war durchaus nicht wohl in dieser schwarzen Sturmnacht. Die alte Hoheit war ihnen unheimlich. Wer spricht mit Toten? Sie hatte mit dem Vogt gesprochen, und der hatte von drüben her den Gustav angezeigt, wie er all sein Leben lang seine Genossen verpetzt hatte.

      Eine Magd sagte, da sei sicher der Teufel im Spiele. Der Vogt werde in der Hölle sein. Anselm verwies ihr das; er sagte, über die Hoheit möge jedes seine Meinung haben, aber von einem Toten zu sagen, er werde in der Hölle sein, das sei eine grosse Sünde, das sei schlimmer, als wenn man dem Toten das Leben abspräche. Ein Kuhjunge lachte über diesen Ausspruch. Anselm stand langsam auf, ging zu dem Kuhjungen hin und gab ihm eine grosse Ohrfeige; dann setzte er sich still und beschaulich wieder auf seinen Platz.

      „Warum nur der tote Vogt gesagt hat, dass er selber Hühner gestohlen hat.“

      Der weise Anselm antwortete: „Eben, weil er tot ist, kann er es sagen. Ein Toter kann jedem Gericht der Welt den Marsch blasen, und drüben braucht er nichts zu verschweigen, denn dort wissen sie ja sowieso alles. Vielleicht hat er auch die Alte ärgern und foppen wollen, weil sie ihm beim Tode einen Nachruf hat ins Kreisblatt setzen