Helen Perkins

Chefarzt Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman


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keine Sorge«, schniefte Christina leise.

      Fee strich ihr über die Schulter, bevor sie sich zu ihr setzte. »Ich denke, wir werden alle eine Weile brauchen, um das, was wir heute hier erlebt haben, zu verarbeiten«, sagte sie mitfühlend. »Die letzten Stunden waren hart und haben an unseren Nerven gezerrt. Es ist gut, wenn es uns gelingt, das aus uns herauszulassen. Niemand sollte sich also seiner Gefühle oder Tränen schämen, Frau Rohde.«

      Christina hob den Kopf und sah Fee offen an. »Das weiß ich alles«, meinte sie tieftraurig. »Es ist nur so, dass mich zusätzlich mein schlechtes Gewissen quält.« Sie begann wieder zu weinen. »Ich fühle mich so schuldig.«

      »Schuldig?« Fee wunderte sich. »Wieso sollten Sie sich schuldig fühlen? Sie haben die Fritteuse nicht in Brand gesetzt!«

      »Nein, aber nur meinetwegen war Herr Berger dort. Hätte ich mich nicht über ihn beschwert, wäre er wohl nicht in den Club gegangen. Er hätte das Wochenende – so wie immer – in der Klinik verbracht und gearbeitet. Nur meinetwegen hat ihm Ihr Mann Hausverbot erteilt und diesen Zwangsurlaub verhängt.«

      Fee nahm Christina Rohde in ihre Arme, um sie zu trösten. »Bitte reden Sie sich das nicht ein«, sagte sie warm. »Es war Bergers Entscheidung gewesen, den Abend im Club zu verbringen, nicht Ihre. Und mit dem schrecklichen Feuer hatten Sie erst recht nichts zu tun. Es war ein Unglücksfall, Schicksal, Vorsehung – was auch immer. Aber auf gar keinen Fall war es Ihre Schuld.«

      Als Fees Telefon klingelte und sie Daniels Nummer sah, ging sie ran. Endlich meldete er sich. Sie hoffte inständig zu hören, dass Erik Berger in Sicherheit war. Das wäre genau die Nachricht, die Christina Rohde brauchte, um ihre Schuldgefühle zu verbannen. Doch mit dem, was Daniel ihr gestand, hatte sie nicht gerechnet. »Das kann unmöglich dein Ernst sein, Dan«, wisperte sie entsetzt. »Bitte sag mir, dass du nicht vorhast, dich in diese gefährliche Situation zu begeben!«

      »Fee, mein Liebling, bitte versteh mich«, bat Daniel. »Ich muss es einfach tun. Das ist das Einzige, was Berger noch retten könnte.«

      »Wenn … wenn noch nicht mal die Feuerwehrmänner da reingehen dürfen …« Ohne dass sie es merkte, hatte Fee zu weinen begonnen. »Tu es nicht, Dan. Bitte, ich flehe dich an!«

      »Was soll ich sonst machen, Feelein?«, fragte Daniel leise. »Soll ich hier einfach sitzenbleiben mit der Gewissheit, dass nur wenige Meter von mir entfernt ein Mann seinem sicheren Tode entgegengeht? Soll ich ihm die einzige Chance, die er hat, nehmen? Er wird sterben, Fee. Er kann es nicht schaffen, wenn ich nicht zu ihm gehe.«

      Fee nickte weinend. »Ja … Ja, das weiß ich doch!« Sie schluchzte laut auf. »Bitte Dan, pass auf dich auf. Hörst du? Du musst zu mir zurückkommen. Versprich es mir!«

      »Das mach ich, mein Liebling. Du weißt, wie sehr ich dich liebe. Ich würde dich niemals allein lassen.«

      »Ich liebe dich auch«, flüsterte Fee tränenerstickt zurück. Dann legte Daniel auf.

      Nun war sie es, die Trost brauchte. Christina Rohde, die jedes Wort des Telefonats mitgehört hatte, zog die Frau des Chefarztes in ihre Arme. »Sie werden es schaffen, Frau Norden!«, sagte sie so, als wäre sie davon überzeugt. »Sie werden es beide schaffen!«

      *

      Die Strecke durch den engen Tunnel verlangte Daniel alles ab. Obwohl er regelmäßig Sport trieb und sich eigentlich für fit hielt, musste er mehrere kleine Pausen einlegen, bevor er endlich den Hohlraum erreichte. Atemlos kroch er auf Berger zu. Seine Anspannung ließ etwas nach, als er feststellte, dass Erik noch lebte. Es ging ihm zweifellos schlecht. Doch solange noch Leben in ihm war, gab es auch Hoffnung.

      Daniel untersuchte ihn so gründlich, wie es die schwierigen Umstände in der Höhle zuließen. Zum Glück hatte ihm Markus Never noch einen zweiten leistungsstarken Halogenstrahler mitgegeben, der nicht nur für ausreichend Licht, sondern auch für etwas Wärme sorgte.

      Aus dem Rucksack mit der medizinischen Ausrüstung zerrte Daniel alles heraus, was er für die Pleurapunktion benötigte. Sie hatte oberste Priorität. Eine oder mehrere gebrochene Rippen hatten so viel Schaden angerichtet, dass Luft in den Pleuraspalt gedrungen war. In diesem Raum zwischen Lunge und Brustwand muss eigentlich ein ständiger Unterdruck herrschen, sodass sich die Lungenflügel beim Einatmen ausweiten können. Bei Erik Berger hatte dieses System versagt. Schlimm genug, dass die Lunge durch den fehlenden Unterdruck an äußerer Spannung verloren hatte und die Lungenflügel kollabierten, der zu hohe Druck wirkte sich auch äußerst ungünstig auf Herz und umliegende Gefäße aus.

      Nach nur wenigen Minuten hatte Daniel diesen Missstand beseitigt. Eine Kanüle, die er richtig platziert in Eriks Brustkorb gestoßen hatte, ließ die eingedrungene Luft nach außen entweichen und sorgte dafür, dass der hohe Druck in der Pleurahöhle sank.

      Die größte Gefahr war gebannt. Nun konnte sich Daniel darum kümmern, Bergers Kreislauf zu stabilisieren. Er legte eine Infusion an, spritzte Medikamente, die das Herz stärkten und den Blutdruck normalisierten. Es dauerte, bis seine Maßnahmen Wirkung zeigten. Als ein leises Stöhnen aus Eriks Mund drang, hätte Daniel vor Freude fast aufgelacht.

      »Na, alter Freund. Wird ja auch Zeit, dass Sie zu mir zurückkehren!«

      »Alter Freund?«, fragte Erik kaum verständlich mit geschlossenen Augen. »Seit wann sind wir denn Freunde? Und warum sind Sie überhaupt bei mir?«

      »So wie’s aussieht, bin ich hier, um Ihnen das Leben zu retten, Herr Berger.«

      »Mist!«, stöhnte Erik gequält. »Wahrscheinlich stehe ich nun für immer in Ihrer Schuld.«

      Daniel lachte leise. »Schön, dass Sie wieder ganz der Alte sind. Und keine Angst, ich käme nie auf die Idee, solche Schulden einzufordern.«

      Erik Berger schlug langsam die Augen auf. An dem Entsetzen, das sich darin widerspiegelte, erkannte Daniel, dass sein Patient erst jetzt begriff, wo sie sich befanden.

      »Wieso? … Ich bin immer noch hier?«

      »Ja, leider.« Daniel bemühte sich, ihm die Wahrheit schonend beizubringen. Er wusste, wie geschockt Berger sein musste, wenn er erfuhr, dass eine Rettung noch nicht möglich war und sie hier noch eine Weile ausharren mussten. »Das THW muss die Unglücksstelle erst absichern, damit man uns gefahrlos hier rausholen kann. Uns bleibt nichts anderes übrig, als hier abzuwarten.«

      Erik schloss schwer atmend die Augen. »Es könnte also alles zusammenbrechen, und trotzdem sind Sie hier? Warum?«, fragte er gepresst.

      »Weil es nötig ist. Und nun lassen Sie uns nicht mehr darüber sprechen. Sagen Sie mir lieber, wie es Ihnen geht. Haben Sie Schmerzen? Bekommen Sie genug Luft?«

      »Ja und nein. Ich habe nicht mehr das Gefühl, ersticken zu müssen, dafür bereitet mir das Luftholen höllische Schmerzen. Auch meine linke Seite … kein Wunder, bei dem Mist, der darauf liegt.«

      »Tut mir leid, dagegen kann ich nichts machen. Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Wenn ich versuchen würde, Sie von den Steinen zu befreien, könnte es passieren, dass ich damit die ganze Kiste ins Rutschen bringe und hier alles zusammenbricht. Wenn Sie möchten, spritze ich Ihnen ein Schmerzmittel.«

      »Nein … Nein, geben Sie mir nichts gegen die Schmerzen. Ich will einen klaren Kopf behalten und Sie …« Erik Berger sah den Chefarzt ernst an. »Ich danke Ihnen, Herr Norden, für das, was Sie für mich getan haben, aber … es wird Zeit, dass Sie jetzt wieder verschwinden.«

      »Wie bitte?«, fragte Daniel kons­terniert nach.

      »Gehen Sie! Sie haben genug für mich getan. Den Rest schaffe ich allein. Sie müssen nicht hierbleiben und weiter Ihr Leben für mich riskieren.«

      »Sparen Sie sich Ihren Atem, Berger«, erwiderte Daniel schroff. »Ich werde Sie hier nicht zurücklassen. Ob es Ihnen gefällt oder nicht – Sie brauchen mich!«

      Erik schüttelte abwehrend den Kopf. »Nein … Nein, ich brauche niemanden … Gehen Sie. Es stört mich nicht, allein zu sein. Ich weiß, dass es niemanden für mich gibt.«