mehr unnötig ihre Kompetenzen, sondern lernte, an den Herausforderungen zu wachsen. Bald hatte sie verantwortungsvolle Aufgaben in der Firma inne und beide machten Karriere, ohne dass sie sich gegenseitig Posten zugeschachert hätten. Im Gegenteil, allein den Ansatz dessen vermieden sie wie der Teufel das Weihwasser. Sie waren auf ihre beruflichen Ergebnisse sehr stolz. Für beide Seiten war es eine wahrlich befruchtende Beziehung. Bis, ja bis zu jener legendären und dennoch unbedachten Äußerung G.s.
***
»Wunderbar … jüngere Frau … Bett … fühlt sich gut an …« Das Echo war kaum abzustellen. Chris war eigentlich eine sehr selbstbewusste Persönlichkeit, erfolgreich, weitgehend im Reinen mit sich selbst. Aber mit dieser Aussage im Hinterkopf meinte auch ihr Spiegel plötzlich, dass die verquollenen Ringe unter ihren Augen eigentlich entsetzlich aussehen, ihr Bauch viel zu fett sei und das Bindegewebe über Nacht alle Elastizität eingebüßt habe.
»Wer will mit so einer hässlichen alten Schachtel eigentlich noch ins Bett steigen?«, höhnte der Spiegel.
Die üblichen Eskalationsstufen liefen ab. Zuerst die schmerzhafte Verletzung, dann Traurigkeit, schließlich Wut. Die ersten beiden Phasen waren geprägt von Fahrigkeit, Schlaflosigkeit und Desinteresse an ihrer Umwelt. Chris’ Fühlen und Denken war bestimmt von ihrer Kränkung, die alles andere überschattete. Sie versuchte, gegen diese gedankliche Vereinnahmung anzukämpfen und die immer wieder anbrandenden Wellen der negativen Gefühle in den Griff zu bekommen, schaffte es aber nicht. Sie konnte es nicht glauben, wie emotional sie auf diese Geschichte reagierte. Sie war doch immer die Ultracoole gewesen, die über den Dingen stand, was ihre Affären betraf. Wie kam sie da nur wieder heraus? Und warum reagierte sie so irrational emotional? Welchen verborgenen Schalter hatte dieser Mann da nur umgelegt?
Nach ein paar Wochen hatte Chris genug davon, sich von G., ihrem Spiegel und dem Unterbewusstsein so runterziehen zu lassen. Mit Ersterem machte sie kurzen Prozess, dem Zweiten befahl sie, den Blödsinn sein zu lassen, ihr ständig nur ihre Schwachstellen zu präsentieren, und dem Dritten sagte sie den Kampf an. Sie arbeitete einen strategischen Schlachtplan aus, krempelte die Ärmel hoch und machte sich erhobenen Hauptes an dessen Umsetzung.
Das Projekt
Chris ging professionell ans Werk. Sie erstellte eine Mindmap mit den wichtigsten Schwerpunkten, entwickelte daraus eine Prioritätenliste und einen Terminplan. Projektmanagement vom Feinsten! Titel des Projektes: Chris 2.0.
Alles, was kurzfristig und einfach umsetzbar war, nahm sie sofort in Angriff. Ein paar schnelle Erfolge waren nun wichtig, um ihrem Ego auf die Sprünge zu helfen und dem Ganzen ein wenig Schwung zu verleihen: neue Frisur, Maniküre, Pediküre, Termin bei der Kosmetikerin – das komplette Programm. Chris bezeichnete es augenzwinkernd als den 100.000-Kilometer-Service. Als sie unter der reichhaltigen Feuchtigkeitsmaske mit Algenserum fast wegschlummerte, fragte sie sich, ob Hyaluronsäure nicht auch ein Psychopharmakon sei. Einen Placeboeffekt auf die weibliche Seele hatte dieses Glucosamin allemal.
Fürs Erste war Chris zufrieden mit dem Ergebnis. Die neue Frisur, ein frecher Kurzhaarschnitt, stand ihr hervorragend und verlieh ihr eine kecke, jugendliche Ausstrahlung. Das dezente Make-up, das ihr die Kosmetikerin verpasst hatte, brachte ihre hohen Wangenknochen perfekt zur Geltung und kaschierte ein paar kleine Schwachstellen und Fältchen. Die etwas groß geratene Nase wirkte durch die Kunstfertigkeit der Kosmetikerin weniger dominant und ihre Lippen sahen dank Gloss und Liner voller aus. Chris gefiel, was sie sah. Nun wollte sie sich natürlich in ihrer neuen Blüte nicht zu Hause verstecken. Sie entschied, die Wirkung ihres neuen Looks im ersten Kaffeehaus am Platz auszuprobieren.
Sie schlenderte die engen Gassen der Wiener Innenstadt entlang und begutachtete ihr Spiegelbild beim Vorbeigehen in diversen Auslagen.
Was bist du doch eitel!, schalt sie sich selbst. Aber dieses Verhalten war Teil der Therapie. Je mehr sie ihr Unterbewusstsein davon überzeugen konnte, dass sie in ihren eigenen Augen eine gute Haltungsnote bekam, desto schneller bekäme sie ihre Selbstsicherheit zurück. Soweit schlug die Therapie bisher sehr gut an. Mit bestimmtem Schritt betrat sie das Kaffeehaus.
An diesem Freitagnachmittag war das Café sehr gut besucht. Viele Menschen ließen die Arbeitswoche bei einem Plausch und einem Gläschen ausklingen. Das Publikum war eine Mischung aus Kreativen aus dem nahen Theater und Businessleuten ab fünfunddreißig bis in die besten Jahre.
Genau mein Revier!, sagte sich Chris, als sie auf den letzten freien Tisch in der Mitte des Raumes zusteuerte. Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatte, sah sie sich genauer um. An den meisten Tischen saßen gemischte Gruppen und unterhielten sich angeregt. Ab und zu bekam sie ein paar Gesprächsfetzen mit.
»… und dann ist sie heulend wieder ins Büro gekommen. Stell dir vor, die haben sie gekündigt! Einfach so!«
»Echt? Das kann doch nicht wahr sein! Die Arme!«
Chris bekam ein seltsames Gefühl in der Magengrube, als sie das Gespräch belauschte – hatte sie doch erst vor Kurzem selbst eine Kündigung ausgesprochen. Sie hatte eine Woche davor nicht mehr durchschlafen können, obwohl sie wusste, dass diese Entscheidung die richtige war. Doch auch wenn es für die Qualität der Arbeit, die Stimmung im Team und den Ruf ihrer Abteilung dringend nötig war, sich von dieser Mitarbeiterin zu trennen, so war ihr der Schritt alles andere als leichtgefallen. Ihre Empathie war in dieser Situation nicht unbedingt hilfreich, denn sie konnte sich sehr gut die Enttäuschung und Wut vorstellen, die die Nachricht der Kündigung auslöste. Trotz des Ärgers, den ihr die Mitarbeiterin wiederholt gemacht hatte, empfand sie Mitleid mit ihr. Sie hätte die Aufgabe an die Personalmanagerin delegieren können, doch Chris selbst war für diese Entscheidung verantwortlich und daher sah sie es als ihre Pflicht an, das auch persönlich durchzuziehen. Alles andere wäre feige gewesen und das wollte sie sich auf keinen Fall nachsagen lassen. Schon gar nicht von sich selbst. Als sie einige Wochen später hörte, dass ihre ehemalige Mitarbeiterin wieder einen Job gefunden hatte, war sie sehr erleichtert.
Ihr Tisch war ideal für Beobachtungen, denn durch die großen, goldumrandeten Spiegel an den Wänden konnte sie den ganzen Raum überblicken und auch Personen beobachten, die nicht in ihrem unmittelbaren Blickfeld saßen. Umgekehrt natürlich genauso. Nachdem sie sich einen Überblick verschafft hatte, wanderten ihre Augen über den Umweg des Spiegels immer wieder zu einem Tisch, der in ihrem Rücken stand. Dort saß ein Mann, der ihr Interesse weckte. Soweit sie das beurteilen konnte, war er groß, denn seine lässig übereinandergeschlagenen Beine ragten weit unter dem Kaffeehaustisch mit der runden, grauen Granitplatte hervor. Er trug Jeans, ein modisches Jackett und einen bunten Schal aus leichtem Material. Seine grau melierten Haare fielen in weichen Locken bis auf die Schultern und er war in ein Buch vertieft. Er las schnell. Zügig blätterte er die Seiten um, war ganz konzentriert. Ohne aufzublicken griff er zur Kaffeetasse und führte sie zu den Lippen. Die Geschichte musste nicht nur fesselnd, sondern auch lustig sein. In kurzen Abständen huschte ein Lächeln über sein Gesicht, manchmal lachte er sogar lautlos. Chris war ganz versunken in seinen Anblick. Ein fescher Mann, interessanter, südländischer Typ, konstatierte sie für sich.
Da trafen sich ihre Blicke im Spiegel. Chris erschrak ein wenig, fühlte sich ertappt, unterbrach den Blickkontakt aber nicht. Offenbar war er wieder bei einer erheiternden Stelle im Buch angelangt, denn er hatte aus den Buchseiten sein Lächeln mitgenommen, das er ihr nun offen zeigte, als er den Blick hob. Ein sehr anziehendes Lächeln, welches ein makelloses Gebiss freilegte. Unwillkürlich lächelte sie zurück. Es dauerte gerade in paar Sekundenbruchteile zu lang, als dass man den Blick flüchtig hätte nennen können.
»Da schau her, fruchten doch schon ganz gut, meine Maßnahmen.« Chris grinste zufrieden in sich hinein. Dann widmete sie sich ihrer Caprese, die ihr der Kellner soeben serviert hatte – übrigens die beste der Stadt.
»Darf ich Sie zu einem Gläschen Prosecco einladen?«
Mit dem Buch unter dem Arm stand der amüsierte Leser plötzlich vor ihrem Tisch. Aus der Nähe sah er ein wenig älter aus, aber um nichts weniger attraktiv. Ein Mann in seinen besten Jahren, der schon einiges erlebt haben dürfte, wie sein interessant modelliertes Gesicht verriet. Er schaute sie aus jugendlich strahlenden Augen durch seine modische Brille an und wartete