so amüsiert, das Sie da lesen.«
»Beide Wünsche sollen Ihnen erfüllt werden.« Er vollführte eine leichte Verneigung. Oha, ein Gentleman der alten Schule! Er winkte dem Kellner und Chris lud den Unbekannten mit einer Geste ein, Platz zu nehmen. Sie konnte nicht glauben, dass ihr Plan jetzt schon so erfolgreich war. Offenbar hatte sie, seit sie G. zum Teufel geschickt hatte, genug Energie sammeln können, um ihre alte Ausstrahlung wiederzuerlangen. Dann noch die kosmetischen Polituren an ihrem Exterieur und ihrem Ego und schon lief die Sache wieder rund. Perfekt!
Der Kellner brachte zwei Gläser burgenländischen Cuvée.
»Zum Wohle!« Sie prosteten sich zu.
»Mein Name ist José. Eigentlich Josef, aber ich lebe schon lange nicht mehr in Österreich.«
»Chris. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Sie vermied es, sofort zum vertrauten Du überzugehen. Das machte das Spiel spannender, wie sie fand.
»Na, dann lassen Sie mal sehen«, forderte Chris ihre neue Bekanntschaft auf und machte eine Kopfbewegung Richtung Buch, das er geheimnisvoll mit dem Titel nach unten neben sich auf die mit rotem Samt bespannte Bank gelegt hatte. Ohne allzu offensichtlich neugierig die Brille aufzusetzen und auf den Klappentext zu schielen, gelang es Chris nicht, einen Hinweis auf den Inhalt des Buches zu erkennen.
»Mögen Sie amerikanische Literatur?« Er mochte Spielchen offenbar auch.
»Ja, ich habe zum Beispiel sehr gern Philip Roth gelesen, bis er mir zu alterslarmoyant wurde. ‚The Human Stain‘ hat mich noch begeistert, aber ab ‚Exit Ghost‘ schrieb er fast nur noch über Inkontinenz und versäumte Gelegenheiten. Lähmend langweilig. Warten Sie, wer fällt mir sonst noch spontan dazu ein? Ist es was Klassisches oder was Neueres?«
»Klassisch.«
»Salinger, Updike, Hemingway …«
»Updike.«
»Hasenherz? Nein, das ist nicht so komprimiert amüsant. Sie haben ständig gelächelt beim Lesen. Die Hexen von Eastwick?« Chris hatte bald ihr ganzes Pulver verschossen, was Updike betraf.
»Ehepaare.«
»Ach, das habe ich noch nicht gelesen. Erzählen Sie mir mehr.«
»Am besten, Sie lesen es selbst. Ich kann Ihnen versprechen, dass es keine langweilige Geschichte über alte Männer ist. Im Gegenteil, es geht recht munter zu in dieser amerikanischen Kleinstadtidylle.« Bei diesen Worten schaute er Chris tief in die Augen und neigte sich ihr zu.
»Klingt interessant«, gab sie zu und hielt seinem Blick stand.
Wenn sie an einem Mann etwas attraktiv fand, dann waren das die drei H: Hirn, Humor und Herz, Reihenfolge beliebig. Es sah fast danach aus, als ob dieser José oder Josef alles davon besaß.
Sie tauschten sich noch lange über Literatur im Allgemeinen und im Besonderen aus. Chris erfuhr, dass er in Oberösterreich geboren war, aber schon lange in Südamerika lebte. Dorthin musste er morgen auch schon wieder zurück. Bei dieser Mitteilung versetzte es ihr einen kleinen Stich.
»Das ist aber schade!«, entfuhr es ihr unwillkürlich nach dieser Offenbarung. In der gleichen Sekunde ärgerte sie sich über diese spontane Äußerung. Er soll bloß nicht glauben, dass er unwiderstehlich ist. Oh Gott, diese alten Rollenmuster wieder! Warum war es so schwer, sie abzulegen? Warum mussten Frauen immer die zu Erobernden spielen und Männer die Rolle der Eroberer ausfüllen? Aber gegen tradierte Muster und Erziehung anzukämpfen war eben ein langer Prozess.
José nahm die Bemerkung ganz gelassen auf.
»Ja, das finde ich auch.« Dabei nahm er Chris’ Hand und führte sie zu einem Handkuss an seinen Mund. Zu einem wirklichen, echten Handkuss nach alter Manier, nicht zu einem feuchten Abklatsch dessen, was mittlerweile darunter verstanden wurde. Seine Lippen berührten ihren Handrücken nicht, es blieb bei einem angedeuteten Kuss. Der begleitende Blick sprach allerdings Bände und Chris’ Knie wurden weich, obwohl sie saß.
Holy moly!, dachte sie ganz unprätentiös und für den Augenblick so was von unpassend.
Sie tranken noch zwei weitere Gläser Rotwein, unterhielten sich blendend, lachten viel. Als die Stimmung gerade am ausgelassensten war, eröffnete José, dass es für ihn Zeit zum Aufbruch sei, da er noch den Zug nach Wien erwischen müsse.
»Ich begleite dich zum Bahnhof.« Chris fand, die besondere Situation rechtfertige keine weiteren Spielchen mehr, und ging zum vertrauten Du über.
»Das würde mich sehr freuen, Chris.« Er drückte ihre Hand.
»Wann geht dein Zug?«
»In einer knappen Stunde.«
»Zeit genug«, bemerkte Chris.
»Zeit genug wofür?«, hakte er nach. Sie blieb ihm die Antwort schuldig.
Als sie das Kaffeehaus verließen, war es draußen schon dunkel. »Lass uns noch ein Stück gehen, wenn es die Zeit erlaubt«, schlug Chris vor.
»Sehr gern.« Sie wanderten die Hauptstraße entlang, die zu dieser Zeit schon weniger frequentiert war.
»Ich muss noch mein Gepäck aus dem Hotel holen, bevor ich zum Bahnhof fahre«, erklärte er, nahm Chris bei der Hand und bog in eine schmale Gasse ab.
»Du hast aber schon ausgecheckt?«, erkundigte sie sich.
»Ja, schon heute Vormittag.« Damit war klar, dass das Hotel nur ein kurzer Zwischenstopp sein würde. Worauf sollte sie noch länger warten? Sie hielt es nicht länger aus. Carpe diem, und morgen ist er weg! Links vor ihnen lag ein breiter Hauseingang, der offen stand und in einen Hinterhof führte. Ohne viel nachzudenken lief sie dort hinein, José im Schlepptau, bog in eine dunkle Ecke, zog ihn an sich und küsste ihn leidenschaftlich. Ihr Herz schlug vor Nervosität über ihren spontanen Vorstoß. So etwas hatte sie noch nie gemacht. Wie würde José reagieren? Er erwiderte ihren Kuss erst zögernd, als wagte er es nicht, das Geschenk anzunehmen. Sie fühlte, dass er unschlüssig war, dass er sie wohl auch wollte, aber noch zu viel nachdachte.
In diesem Moment fiel Chris’ Herz in ihren Slip. Sie bekam plötzlich Angst vor ihrer eigenen Courage.
Was tust du da eigentlich?, fragte sie sich selbst empört.
Los, mach weiter, du hast ihn gleich soweit!, flüsterte da etwas anderes in ihr. Frag ihn doch einfach, ob er es quick and dirty mag!
»Oh, shut up!« Den letzten Satz hatte sie wohl laut ausgesprochen, denn José, der – schon etwas mutiger – seine Hand an ihrem Hintern hatte, wich zurück und schaute sie fragend an.
»Sorry … du … äh, ich … ich glaube, das war doch keine so gute Idee.« Chris schob ihn sanft von sich und ordnete verlegen ihre Kleider.
»Ist schon okay.« Er grinste sie an und sie war froh, dass er so locker darüber hinwegging.
»Du versäumst sonst noch deinen Zug.« Chris versuchte, die Kurve zu kriegen, und José war Gentleman genug, ihr diesen Ausweg zu lassen.
»Ja, ich bin schon knapp dran. Leider. Das war gerade sehr schön!« Er küsste sie nochmals, ganz zärtlich, mit weichen, geschlossenen Lippen. Was zur Folge hatte, dass Chris’ Knie auch weich wurden.
Schweigend und händchenhaltend verließen sie den Hinterhof und setzten den Weg Richtung Hotel fort. Nachdem er seine Koffer aus dem Depot geholt hatte, nahmen sie ein Taxi. Auf dem Rücksitz zog José Chris an sich und sie knutschten den ganzen Weg zum Bahnhof wie Teenager. Beim Abschied vermieden sie es, sich leere Versprechen zu geben – dass sie in Verbindung bleiben würden, sich irgendwann wieder mal sehen würden etc. Denn sie wussten, dass ihr Kontakt ohnehin nach wenigen Wochen wieder im Sand verlaufen würde.
»Bringen Sie die Dame gut nach Hause«, beorderte José den Fahrer, bevor er ausstieg und Chris noch ein letztes »Adios!« ins Ohr hauchte.
Ich habe nicht einmal seine E-Mail-Adresse, bedauerte Chris trotzdem still für sich auf der Heimfahrt. Dann erst bemerkte sie, dass er