Alexander Goldmann

Über die Textgeschichte des Römerbriefs


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des Paulus im Moment der Abfassung hinweist.18 Auch hinsichtlich des Abfassungsortes ließen sich anhand des Brieftextes zumindest Spekulationen anstellen,19 doch auch hierüber verliert der Prolog kein Wort. Gleiches gilt für den Prolog zum Titusbrief, der weder Nikopolis als Abfassungsort noch Tychikus als Briefboten nennt, obwohl ein Prologverfasser, der an solcherlei Informationen überaus interessiert zu sein scheint, dies doch in gewisser Weise aus dem Brief herauslesen könnte.20

      Stattdessen lesen sich die Prologe zu den Pastoralbriefen schlicht als Inhaltsangabe, in welcher die im Brief behandelten Themen in äußerster Knappheit genannt werden. Dieser grundsätzliche Unterschied hinsichtlich dessen, was der jeweilige Prologtext tatsächlich beschreiben bzw. welche Informationen er dem Leser mitteilen will, erlaubt es, die Prologe zu den Pastoralbriefen klar und sauber von den übrigen zehn Prologen abzugrenzen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit sind sie gesondert verfasst worden und stellen somit einen sekundären Zusatz der ursprünglichen Prologsammlung dar.

      Wie aber verhält es sich mit den Prologen zum 2. Korintherbrief und zum 2. Thessalonicherbrief? SCHERBENSKE meint, sie aus dem ursprünglichen Prologkorpus ausschließen zu müssen, da sie sich sowohl formal als auch hinsichtlich ihres Umfangs signifikant von den übrigen Prologen unterscheiden.21 Dies liegt allerdings in der Natur der Sache: Wie schon zuvor erwähnt, ist ein zentraler Zweck der Prologe die geographische Einordnung der Adressatengemeinden sowie die Beschreibung des Verhältnisses der Gemeinden zu Paulus. Dass die Prologe zu 2 Kor und 2 Thess hier nicht einfach bereits in den jeweils vorangehenden Prologen Beschriebenes wiederholen wollen und damit insgesamt um einiges kürzer als diese sind, ist absolut verständlich. Es ist also nicht schlüssig, sie aus den genannten Gründen als sekundär zu betrachten.

      Eine andere Beobachtung wiegt dagegen schwerer. So lässt sich zeigen, dass sich der Prolog zum 1 Kor offenbar auf den Inhalt beider (!) Korintherbriefe bezieht.22 Die gleiche Beobachtung ergibt sich für den Prolog zum ersten Thessalonicherbrief.23 Daher ist es in der Tat vorstellbar, dass ursprünglich jeweils nur ein Prolog zu den Korinther- und Thessalonicherbriefen existierte.24 Für die vorliegende Arbeit ist diese Schlussfolgerung allerdings unerheblich. Denn die Beobachtung, dass die Prologe zu 1 Kor und 1 Thess inhaltlich jeweils beide Briefe abdecken, untermauert nur die Tatsache, dass die hinter den Prologen stehende Briefsammlung sowohl zwei Korinther- als auch zwei Thessalonicherbriefe umfasste.

      Festzuhalten bleibt demnach zunächst: Das originale Prologkorpus bestand aus zehn (möglicherweise auch aus acht) argumenta zu paulinischen Gemeindebriefen und zwar in der folgenden Anordnung: Gal, 1 (2) Kor, Röm, 1 (2) Thess, Laod, Kol, (Phlm), Phil, (Phlm). Daraus ergibt sich folgendes Zwischenfazit: Sowohl Reihenfolge als auch Umfang der den altlateinischen Paulusprologen zugrunde liegenden Texte entspricht dem, was die Häresiologen auch für den marcionitischen Apostolos bezeugen. Es handelt sich um eine Briefsammlung, die aus zehn Briefen besteht und die sich in ihrer Reihenfolge signifikant von der 14-Briefe-Sammlung unterscheidet. Doch muss man aufgrund dieser eben genannten Erkenntnis notwendigerweise auch Marcion (bzw. einen Marcioniten) als Verfasser der Prologe betrachten?

      3.3.3. Verfasserschaft

      Wie schon zuvor erwähnt, thematisieren die argumenta inhaltlich – neben einer geographischen Einordnung der Adressaten, Anmerkungen bzgl. Abfassungsort und -situation sowie Boten der jeweiligen Briefe – v. a. die Konflikte zwischen Paulus und seinen Gegnern im Rahmen seiner Missionstätigkeit in den verschiedenen Gemeinden. Dass diese Perspektive tatsächlich als eine Art Verständnisschlüssel der paulinischen Briefe (insbesondere Gal, Kor und Rm) angesehen werden kann, scheint unstrittig; allerdings ist das noch nicht exklusiv marcionitisch. HARNACK ist hier freilich anderer Meinung. Für den Verfasser der argumenta wäre demnach allein „der Gegensatz des richtigen Evangeliums und eines falschen und deshalb der Gegensatz zwischen ‚dem Apostel‘ [scil. Paulus] und den Pseudoaposteln das Thema […]. Wer aber so formuliert, ist Marcionit.“1 Er bemerkt weiterhin, dass die Unterscheidung zwischen richtigem und falschem ‚Wort‘ als Hauptthema der Gemeinden „lediglich von außen herangebracht und […] schlechterdings nicht aus diesen [scil. den paulinischen Briefen] selbst abstrahiert werden [kann].“2

      Dass ein solches Verständnis der paulinischen Schriften tatsächlich nicht notwendigerweise als exklusiv marcionitisch zu verstehen ist,3 sondern auch im Rahmen einer frühkatholischen Paulusexegese möglich erscheint, belegen die vielfältigen inhaltlichen Berührungspunkte der argumenta mit den Pauluskommentaren von Marius Victorinus, Ambrosiaster und Pelagius. So wies bereits ZAHN auf die Nähe zwischen den altlateinischen Paulusprologen und dem Pauluskommentar des Ambrosiaster hin.4 MUNDLE widmet sich dieser Abhängigkeit in aller Ausführlichkeit und kommt letztlich zu folgendem Ergebnis:

      „Alle unsere Erwägungen führen also zu dem Resultat, daß die Zurückführung der Vulgataprologe [!] auf den Marcionitismus einer kritischen Prüfung nicht standhält. Der Nachweis, daß alles, was in den Argumenten als marcionitische Anschauung seit de Bruynes und Corssens Untersuchungen gemeinhin angenommen ist, im Rahmen altkatholischer Paulusauslegung auch möglich war, ist durch den Vergleich mit Ambrosiaster erbracht worden.“5

      Natürlich schließen diese Parallelen einen marcionitischen Ursprung der Prologe nicht aus – allerdings erschüttern sie die Ausschließlichkeit, mit der HARNACK hier einen Marcioniten die Feder führen lassen wollte.6

      Dass diese beschriebene Thematik der Prologe alles andere als zwingend auf Marcion verweist, machte DAHL deutlich, indem er die Möglichkeit ins Gespräch brachte, Ignatius als Verfasser der Prologe zu verstehen, da dieser in ein ähnliches Szenario der Auseinandersetzung mit „Judaizers and other Heretics“7 verwickelt war, welches auch als inhaltliches Leitschema der altlateinischen Prologe erkennbar ist. Diese Möglichkeit datiert den Ursprung der Prologe ins 2. Jahrhundert, also in die Zeit, in der auch die 10-Briefe-Sammlung ihre ersten nachweislichen Spuren hinterlassen hat.

      Zuletzt erneuerte SCHERBENSKE die von HARNACK vertretene Position, indem er Marcion als den nächstliegenden und bekanntesten Kandidaten ansieht, der für die Verfasserschaft der Prologe in Frage käme.8 Aufgrund eines Mangels an Alternativen zu einer solchen Schlussfolgerung zu gelangen, scheint mir an dieser Stelle jedoch nicht statthaft.9 Es bleibt daher vorerst festzuhalten, dass die Prologe sowohl inhaltlich als auch stilistisch keinerlei Merkmale aufweisen, die zwingend auf ihren marcionitischen Ursprung hindeuten.10 Allein aufgrund inhaltlicher Aspekte wären de BRUYNE und CORSSEN wohl kaum zu dem Ergebnis gekommen, sie als marcionitisch anzusehen.11

      Darüber hinaus zeigt sich ein schwerwiegendes überlieferungsgeschichtliches Problem: Sollten die Prologe tatsächlich auf Marcioniten zurückgehen, wie (und wann) hätten sie dann bedenkenlos in zahlreiche katholische Bibelausgaben übernommen und somit für rechtgläubig erklärt werden können? HARNACKS Lösung muss hierfür als äußerst problematisch erachtet werden: Dieser datiert die Paulusprologe bzw. ihr partielles Eindringen in den Text des Corpus Paulinum bereits in die zweite Hälfte des 2. Jh., da sie dem Verfasser des Muratorischen Fragments vorlagen.12 Der Behauptung des Eindringens tatsächlich marcionitischer Prologe in den katholischen Paulustext zu einem solch frühen Zeitpunkt, zu dem – wie das Zeugnis der Häresiologen unschwer erkennen lässt – die Auseinandersetzung mit der marcionitischen Kirche in vollem Gange war, muss mit größter Skepsis begegnet werden. Besonders pointiert formuliert FREDE:

      „Ob man aber schon im letzten Viertel des 2. Jahrhunderts, als der Kampf gegen den Marcionitismus seinen Höhepunkt erreichte, wirklich marcionitische Prologe, von deren Existenz Tertullian um 215 offenbar nichts weiß, ohne den geringsten Argwohn in eine katholische Paulusbriefausgabe hat übernehmen können, ist eine Frage, die sich wohl nur mit einem ungewöhnlichen Maß an Kühnheit positiv beantworten läßt.“13

      Gleichzeitig lässt wiederum die Bezeichnung der Adressaten des „Epheserbriefes“ als Laodizener sowie v. a. die weite Verbreitung der altlateinischen Paulusprologe in der handschriftlichen Überlieferung auch eine Spätdatierung – etwa gegen Ende des 4. Jh.14 – überaus unwahrscheinlich erscheinen.15

      Die fehlende Plausibilität der Antwort HARNACKs ist offenkundig, sodass die späteren Advokaten eines marcionitischen Ursprunges der Prologe die eben zitierte Frage