Alexander Goldmann

Über die Textgeschichte des Römerbriefs


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– der Philipperprolog ursprünglich nach dem Thessalonicherprolog zu lesen war.

      Für die altlateinischen Prologe ergeben sich also folgende Eckpunkte bzgl. ihrer ursprünglichen Reihenfolge:

      1 Der Prolog zum Galaterbrief stand unmittelbar vor dem Korintherprolog und eröffnete mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Sammlung.

      2 Direkt vor dem Kolosserprolog war mit einiger Sicherheit der Prolog zu einem Brief an die Laodizener zu lesen.

      3 Der (oder die) Prolog(e) zu den Thessalonicherbriefen fand(en) sich vor dem Philipperprolog.

      All diese Schlussfolgerungen wurden in der Forschungsgeschichte zu den altlateinischen Paulusprologen zu keiner Zeit widerlegt. Zwar unternahm MUNDLE einen solchen Versuch, konnte allerdings nicht überzeugen.3 Nichtsdestoweniger weist er zu Recht darauf hin, dass die mutmaßliche Reihenfolge der Prologe noch lange nicht als zwingender Beweis für die marcionitische Verfasserschaft derselben gelten kann.4 Dennoch bleibt zunächst festzuhalten: die von den Prologen vorausgesetzte Reihenfolge der Paulusbriefe entspricht genau derjenigen, die anhand Tertullians und Epiphanius’ Zeugnis auch für den marcionitischen Apostolos gesichert scheint.5

      3.3.2. Umfang

      Die nachfolgenden Überlegungen geschehen unter der weithin vertretenen Annahme, dass die Prologe ursprünglich als ein zusammenhängender Text, also eine Art Einleitung zu einer Sammlung von Paulusbriefen, entstanden sind. Fragt man nach dem originalen Umfang dieser altlateinischen Prologreihe, sind die Positionen weniger einhellig als bzgl. ihrer Reihenfolge. Folgende Probleme sind zu klären: Setzt die Prologreihe für die ursprünglich dahinter stehende Briefsammlung einen Brief an die Laodizener oder an die Epheser voraus? Sind die Prologe zu den Pastoralbriefen sekundär? Existierten ursprünglich auch Prologe zu 2 Kor und 2 Thess oder gab es jeweils nur einen Prolog zu den Korinther- bzw. Thessalonicherbriefen? In Hinblick auf den eigentlichen Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit ist v. a. danach zu fragen, welche Version des Römerbriefes die Prologe voraussetzen. Für die Frage nach der marcionitischen Verfasserschaft der argumenta sind die genannten Fragen von einiger Bedeutung – denn Marcions Apostolos beinhaltete bekanntlich einerseits keine Pastoralbriefe, las andererseits den (kanonischen) Epheserbrief unter dem Titel Πρὸς Λαοδικέας und enthielt – wie später noch gezeigt wird – eine weitaus kürzere Version des Römerbriefes, in welcher u. a. die letzten beiden Kapitel fehlten.1

      Hinsichtlich der Frage nach dem Epheserprolog gibt es drei verschiedene Möglichkeiten, wie der Textbefund zu deuten ist: Einerseits wird damit gerechnet, dass in der Prologreihe dem Kolosserprolog ursprünglich ein Prolog zu einem an die Laodizener gerichteten Brief voranging. Dieser Laodizenerprolog sei heute allerdings nicht mehr vorhanden, da er komplett durch einen (die Epheser als Adressaten nennenden) Prolog ersetzt wurde. Dieser Epheserprolog taucht heute in allen Manuskripten auf, in denen die argumenta zu lesen sind.2 Eine andere, damit in enger Beziehung stehende Auffassung ist die, dass im uns bezeugten Epheserprolog allein die Bezeichnung der Adressaten geändert wurde – ursprünglich wurden im Prolog also die Laodizener als Briefempfänger genannt (und nicht die Epheser).3 Die dritte Meinung geht davon aus, dass der heute in allen Handschriften, welche die Prologreihe bezeugen, zu lesende Epheserprolog in unveränderter Form dem Kolosserprolog vorausging.4 Wie bereits im vorangegangenen Unterkapitel dargelegt, spricht der Wortlaut des Prol Kol allerdings klar gegen die letztgenannte Möglichkeit. Folglich kann man mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass in der originalen Prologreihe entweder ein gänzlich anderer Prolog auftauchte oder aber der heute bekannte Prol Eph ursprünglich als Adressaten die Laodizener (und eben nicht die Epheser) nannte. Beide Möglichkeiten deuten also auf eine Briefsammlung, die statt des Briefes an die Epheser einen Brief an die Laodizener beinhaltete. DAHL resümiert treffend: „Yet it is more likely than not that the original prologue had the Laodicean adress.“5 Zu diesem Schluss kommt auch FLEMMING,6 der in seiner Studie zur Textgeschichte des Epheserbriefes die dargelegte Problematik der Adresse ausführlich thematisiert.7

      Auch die Frage nach der Ursprünglichkeit der Prologe zu den Pastoralbriefen ist einerseits von unmittelbarer Bedeutung für die Annahme der marcionitischen Verfasserschaft der argumenta, denn bekanntlich waren die Pastoralbriefe in Marcions Apostolos nicht enthalten.8 Andererseits ist die Frage auch für die Erforschung der Textgeschichte der kanonischen Paulusbriefsammlung von großer Wichtigkeit, denn es gilt zu klären, ob mit den Prologen – neben dem marcionitischen Apostolos – ein weiterer Beleg für eine Briefsammlung existiert, welche die Pastoralbriefe nicht beinhaltete.

      De BRUYNE und CORSSEN entwickelten unterschiedliche Lösungsansätze, das Vorhandensein der Prol Past zu erklären und gleichzeitig am marcionitischen Ursprung der Prologe insgesamt festzuhalten. So nimmt de BRUYNE – im Vergleich mit den argumenta zu den Gemeindebriefen – Differenzen in Stil und Ausdruck wahr, die ihn zu dem Schluss führen, sie als spätere, katholische Zusätze zu verstehen. HARNACK folgt ihm dabei in seinen frühen Studien zu den Prologen und konstatiert „einen ganz anderen Charakter“9 der Prol Past.

      Auf der anderen Seite bereitet es CORSSEN einige Probleme, wegen der Formulierung im Prolog zum Titusbrief hereticis vitandis qui in scripturis Iudaicis credunt10 hier tatsächlich einen katholischen Ursprung anzunehmen. Seine Alternativerklärung ist gleichsam wegweisend – v. a. für die zahlreichen Studien, die HARNACK in der Folge zur Marcionforschung tätigte: Die Prologe zu den Pastoralbriefen „bezeugen dann vielmehr eine gewisse, wie mir scheint durchaus glaubwürdige, Rückwirkung des katholischen Kanons auf den marcionitischen.“11 Konkret heißt das, dass sich die Marcioniten nicht immer ablehnend gegenüber den Pastoralbriefen verhalten haben müssen, sondern sie ab einem gewissen Zeitpunkt anerkannten und auch in ihre Bibel aufnahmen.12 CORSSEN und HARNACK erachten also die Prol Past nicht als sekundär – zumindest nicht als katholische Ergänzung – und müssen gleichzeitig nicht von der Annahme der marcionitischen Verfasserschaft der Prologe abrücken.

      FREDE, der die Annahme der marcionitischen Verfasserschaft der argumenta ablehnt, begnügt sich damit, die Schwachstellen der beiden genannten Erklärungen darzulegen. So weist er darauf hin, dass die von de BRUYNE ins Feld geführten Differenzen zwischen den Prologen zu den Gemeindebriefen und denen der Pastoralbriefe in erster Linie auf die andersartige Thematik und Charakteristik der Texte selbst zurückzuführen seien. Andererseits fehle für die Annahme HARNACKS, dass die Pastoralbriefe zu irgendeiner Zeit doch Teil der marcionitischen Bibel waren, jeglicher Beweis, sodass dies als reines Hilfsargument entlarvt werden könne.13

      Doch ist damit tatsächlich die Ursprünglichkeit der Prol Past bewiesen? Mitnichten – wie DAHL überzeugend darlegen kann. Dieser verfolgt hierfür einen konsequent formkritischen Ansatz14 – mögliche inhaltliche Tendenzurteile müssen somit nicht bemüht werden. Rein formal betrachtet, identifiziert DAHL verschiedene Typen innerhalb des Prologkorpus.15 Demnach sind die Prologe zu Gal, 1 Kor, Rom, 1 Thess, „Eph“, Kol und Phil – da sie einem gemeinsamen formalen Muster folgen und einen stereotypen Wortschatz aufweisen – klar von denen an 2 Kor, 2 Thess, Phlm, 1/2 Tim und Tit abzugrenzen. Wie schon de BRUYNE kommt DAHL abschließend zu dem Ergebnis, dass das ursprüngliche Prologkorpus auf eine sieben Briefe umfassende Sammlung zurückgeht.

      Die vorliegende Arbeit kann dies allerdings nicht teilen. Denn aus textpragmatischer Perspektive fällt auf, dass fast alle Prologe inhaltlich dazu dienen, a) die jeweilige Adressatengemeinde vorzustellen und geographisch zu verorten, b) die Einstellung der Gemeinde zum Glauben allgemein, zum Evangelium bzw. zum Verfasser selbst (Paulus) zu beschreiben sowie c) Informationen zur Abfassungssituation des Briefes zu liefern. Letzteres beinhaltet stets den Ort, von wo aus der Brief verfasst wurde, sowie, falls der tatsächliche Brief hierfür Anhaltspunkte liefert, die Nennung des Briefboten. Suggeriert die Brieflektüre eine Abfassung in Gefangenschaft, wird auch dies stets in dem entsprechenden Prolog erwähnt – so in den Prologen zu Epheser, Philipper, Kolosser und Philemon.

      Diese Bausteine finden sich in allen vorliegenden Prologen wieder, allein die Prologe zu den Pastoralbriefen scheinen an den genannten Charakteristika kein Interesse zu haben und folgen somit nicht dem üblichen Muster.16 Für den ersten Timotheusbrief mag das vielleicht nicht überraschen, finden sich doch im Brieftext