Alexander Goldmann

Über die Textgeschichte des Römerbriefs


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Das Abhängigkeitsverhältnis der KA Rm A und der KA Rm Reg

      Allen nachfolgenden Überlegungen liegt der vollständige lateinische Text der beiden besagten Kapitellisten zugrunde, wie er in der Oxford Vulgate (VgO) aufgeführt ist.1 Zur Erleichterung der Handhabung und zur Erhöhung der Nutzbarkeit der dort gebotenen Texte wurde im Rahmen der vorliegenden Studie eine Synopse der einzelnen Sektionen angefertigt.2 Ausgewählte Besonderheiten der beiden Listen, die nachfolgend diskutiert werden, um in der übergeordneten Frage nach dem Verwandtschaftsverhältnis zu einer plausiblen Lösung zu gelangen, werden hier separat gezeigt. Um jedoch einen Gesamtüberblick über Struktur, Inhalt und konkreten Wortlaut der beiden Kapitelverzeichnisse zu erhalten, sei auf die besagte Textsynopse im Anhang verwiesen.

      Dass ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen den KA Rm A und den KA Rm Reg anzunehmen ist, scheint relativ offensichtlich. Die Argumente dafür wurden bereits im vorangegangenen Abschnitt implizit genannt. Zusammengefasst lauten die relevanten Beobachtungen wie folgt:

      1 Bereits auf den ersten Blick fallen die wörtlichen Parallelen zwischen zahlreichen Capitula der beiden Kapitellisten auf. Einige davon weisen sogar einen gänzlich identischen Text auf. In den übrigen Fällen bieten die Capitula Amiatina in der Regel ausführlichere Textzusammenfassungen und kommentieren zusätzliche Abschnitte des jeweiligen tatsächlichen Bezugstextes.

      2 Fast alle Sektionen der KA Rm Reg sind in der KA Rm A enthalten. Einzig die letzten beiden Capitula der KA Rm Reg (Nr. XXVIII und XXIX) finden sich nicht auch in der KA Rm A.

      Beide Beobachtungen lassen sich nur anhand der Annahme einer literarischen Verwandtschaft zwischen den beiden Listen plausibel erklären. Wie genau dieses Verhältnis tatsächlich aussieht, bleibt zunächst unklar. Vorstellbar wären die folgenden drei Varianten:

      1 Die kürzere Kapitelliste hatte die längere als Vorlage (d.h. KA Rm A → KA Rm Reg), KA Rm Reg ist also eine Verkürzung der KA Rm A oder

      2 die längere Kapitelreihe hatte die kürzere als Vorlage (d.h. KA Rm Reg → KA Rm A), KA Rm A ist also eine Erweiterung der KA Rm Reg oder

      3 die Kapitellisten gehen beide auf einen gemeinsamen Archetyp, also eine bisher unbekannte Vorlage, zurück.

      Die Frage nach dem Verwandtschaftsverhältnis zwischen den beiden Kapitellisten wurde bisher kaum thematisiert.3 Die einzigen, die sich darüber Gedanken gemacht haben, sind LIGHTFOOT4 und GAMBLE.5 Beide gehen davon aus, dass das längere amiatinische Kapitelverzeichnis die Vorlage für das kürzere Kapitelverzeichnis KA Rm Reg darstellt.6 Argumente für dieses Urteil liefern sie leider nicht. Möglicherweise haben beide schlicht im Hinterkopf, dass der Codex Amiatinus gut 200 Jahre älter als der Codex Regalis ist. Da die ursprünglichen Bezugstexte der beiden Kapitelreihen allerdings deutlich früher zu datieren sind, ist dieses Argument hinfällig und kann folglich in der Frage nach dem Verwandtschaftsverhältnis nicht zur Lösungsfindung beitragen.

      Auch aus der Analyse derjenigen Sektionen, die in ihrem Wortlaut nahezu identisch sind (also nur minimale wörtliche Differenzen aufweisen), ergibt sich für die Frage nach dem Verwandtschaftsverhältnis kein eindeutiger Hinweis auf eine mögliche Bearbeitungsrichtung. Dies wird am folgenden Beispiel deutlich, in dem die Sektionen III (KA Rm Reg) und VI (KA Rm A) einander gegenübergestellt sind:

De iniquis iudicibus quae alios prohibuerint ipsi committunt. De his iudicibus qui mala quae alios prohibuerint ipsi commitunt (…).
Über die ungerechten Richter; was sie anderen verboten haben, verüben sie selbst. Über diese Richter, welche die Untaten, die sie anderen verboten haben, selbst verüben (…).

      Synopse: KA Rm Reg (Sektion III) – KA Rm A (Sektion VI)

      Es zeigt sich: Die darin auftretenden minimalen Differenzen im Wortlaut sind ambivalent zu deuten. Keine der beiden Kapitellisten kann also als grammatikalische oder stilistische Verbesserung der anderen verstanden werden.

      Die vorliegende Studie kommt dennoch zu einem Urteil. Es lautet wie folgt: Weder geht die kürzere der längeren noch die längere der kürzeren Kapitelliste voraus. Stattdessen gehen beide Kapitellisten auf eine gemeinsame Vorlage zurück. Diese (fiktive) Vorlage wird in der vorliegenden Studie von hier an als UrKA Rm bezeichnet. Das nachfolgende Schema stellt das literarische Verwandtschaftsverhältnis zwischen den Kapitellisten dar:

      Schema 1:

      lit. Abhängigkeitsverhältnis KA Rm A – KA Rm Reg

      Sowohl die KA Rm A als auch die KA Rm Reg gehen also auf eine gemeinsame Vorlage zurück, haben allerdings in unterschiedlicher Form und in unterschiedlichem Ausmaß unabhängig voneinander (!) sekundäre Veränderungen (v. a. Ergänzungen) erfahren. Dabei weisen die Capitula Amiatina deutlich größere Spuren von nachträglichen Ergänzungen auf als die Capitula Regalia. Diese Lösung soll im Folgenden ausführlich begründet werden.

      Zunächst zu den Ergänzungen, welche die Capitula Regalia erfahren haben. Dazu ist der Fokus auf die letzten beiden Sektionen der Kapitelliste zu legen. Drei Besonderheiten fallen ins Auge. Erstens zeigt der Vergleich mit den entsprechenden Sektionen der Capitula Amiatina, dass es die einzigen Sektionen der KA Rm Reg sind, die nicht auch in der KA Rm A auftauchen. Zweitens fallen sie auch formal gänzlich aus der Reihe. Hier der Text:

Das Flehen des Paulus an den Herrn, ihn vor den Ungläubigen zu retten (15,30f). Obsecratio Pauli ad dominum ut liberetur ab infidelibus.
Der Gruß des Paulus an die Brüder (16,3–16). Salutatio Pauli ad fratres.

      KA Rm Reg (Sektionen XXVIII und XXIX)

      Betrachtet man nämlich den Wortlaut aller (insgesamt 80) Sektionen der beiden Kapitellisten, wird deutlich, dass ein Capitulum stets mit der Präposition „De …“ beginnt. Die angeführten letzten beiden Sektionen der KA Rm Reg bilden dabei die einzige Ausnahme. Darüber hinaus sind es drittens auch die einzigen Capitula der KA Rm Reg, deren Sektionszahl gar nicht im tatsächlichen Bezugstext auftaucht. Dies alles sind starke Indizien, die nahelegen, dass es sich bei den besagten Sektionen um spätere Ergänzungen handelt.7

      Nun zu den Argumenten, die darauf hindeuten, dass auch die KA Rm A sekundär bearbeitet wurde. Um diesen Nachweis zu führen, ist es notwendig, etwas weiter auszuholen und eine wichtige Untersuchungsgröße einzuführen: die Intervallgröße. Mit der Bezeichnung Intervallgröße ist der Textumfang einer Sektion im Bezugstext gemeint. Um diese zu erfassen, habe ich die Anzahl der Wörter bestimmt, die im Bezugstext zwischen dem Vers stehen, auf den sich das jeweilige Capitulum bezieht, und dem Vers, den das nachfolgende kommentiert.8 Die Intervallgrößen der einzelnen Sektionen beider Kapitellisten sehen wie folgt aus (Diagramm 1 und 2):9

      Diagramm 1:

      KA Rm A – Intervallgrößen

      Diagramm 2:

      KA Rm Reg – Intervallgrößen

      Man erkennt unschwer, dass die Intervallgrößen der Kapitelliste KA Rm A eine überaus große Streuung aufweisen. Neben einigen Sektionen, die eine besonders hohe Wortanzahl aufweisen, fallen auch