Alexander Goldmann

Über die Textgeschichte des Römerbriefs


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konnte es auch vorkommen, dass Kodizes für verschiedene biblische Bücher jeweils unterschiedliche Kapitelreihen bieten.10

      Der Codex Amiatinus selbst entstand zu Beginn des 8. Jahrhunderts im Kloster Wearmouth/Jarrow,11 die darin enthaltenen Kapitellisten werden allerdings als wesentlich älter eingeschätzt. Grund hierfür ist in erster Linie der altlateinische Wortschatz des Textes einzelner Kapitel. So machte LIGHTFOOT bereits im 19. Jh. darauf aufmerksam, dass die Formulierung de tempore serviendo in Sektion XLII auf die altlateinische Wendung τῷ καιρῳ δουλεύοντες statt τῷ κυρίῳ δουλεύοντες (Rm 12,11) zurückgeht.12 Er urteilte folgerichtig: „[T]he Amiatinian capitulation […] belonged originally to the Old Latin and was later adapted to the Vulgate.“13 Bedeutsam ist, dass auch in Teilen der griechischen Handschriftentradition die ältere Lesart bezeugt ist, namentlich in den Handschriften D* F und G. In der Folge konnte RIGGENBACH auch andere solcher altlateinischer Wendungen im Text der KA Rm A nachweisen. Er bestätigte LIGHTFOOTs Urteil und erweiterte es dahingehend, dass er die Capitula Amiatina in ausdrückliche Nähe zu d und g setzte, also den lateinischen Texten der Bilinguen D und G (Codex Claromontanus und Codex Augiensis).14 Auch CORSSEN identifizierte zahlreiche weitere Lesarten der altlateinischen Paulustexte im Text der Kapitelliste.15 Die Forschung schätzte ihre Textgrundlage daher einvernehmlich als sehr alt ein und datierte ihren Ursprung mindestens ins 4. Jahrhundert16 oder sogar in noch weitaus frühere Zeiten.17

      Ein weiteres, bisher unentdecktes Beispiel für dieses für die Datierung wichtige Phänomen des altlateinischen Wortschatzes der Kapitelliste, findet sich in Sektion XI:

Über das Rühmen der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes (5,2) und in gleicher Weise das Rühmen der Bedrängnis (5,3).18
De gloriatione spei gloriae dei pariter gloriatione tribulationis.

      KA Rm A: Sektion XI

      Der erste Teil der Sektion bezieht sich auf Rm 5,2. Darin erklärt Paulus, dass seine Gemeinden und er sich der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit Gottes rühmt. Im Römerbrieftext des Codex Amiatinus ist dagegen davon die Rede, dass man sich der Herrlichkeit der Söhne Gottes rühmen könne (gloriae filiorum dei). Der Text des Capitulum und der Bezugstext stimmen also nicht überein. Die Wendung gloriae filiorum dei, die der Codex Amiatinus hier bezeugt, ist die Lesart der Vulgata (Abb. 1):19

      Abb. 1:

      Codex Amiatinus (A) – Rm 5,2 → „gloriae filiorum dei“

      Dagegen bieten einige altlateinische Handschriften an dieser Stelle die kürzere Formulierung gloriae dei.20 Exemplarisch sei der Blick auf den ältesten bekannten altlateinischen Text für die Paulusbriefe, den Codex Claromontanus (d = VL 75), geworfen, der die kürzere Variante liest (Abb. 2):21

      Abb. 2:

      Codex Claromontanus (d) – Rm 5,2 → „gloriae dei“

      Diese altlateinische Variante wird auch durch den Text der besagten Sektion XI der KA Rm A bezeugt. Dass ein Kapitelverzeichnis Textelemente ganz unterschiedlichen Alters enthalten kann und diese unbedingt unabhängig von dem konkreten Text der Handschrift, in der es auftaucht, ausgewertet werden muss, ergibt sich auch aus der Entstehungssituation das Codex Amiatinus. Die Untersuchungen sind sich einig, dass der Amiatinus in seiner äußeren Gestaltung und seinem Aufbau auf eine Bibelausgabe des Cassiodor – einem Gelehrten des 6. Jahrhunderts aus Kalabrien – zurückgeht: den sog. Codex grandior. Der Text der einzelnen Bücher geht dagegen auf ganz andere (verschiedene) Vorlagen zurück. So fasst FISCHER wie folgt zusammen:

      „Der Amiatinus ist ein Pandekt [scil. eine Vollbibel], der im Ganzen bewußt nach dem Vorbild des Codex grandior des Cassiodor gestaltet worden ist. […] Um den Ansprüchen der Zeit gerecht zu werden, wählte man als Text durchgängig die Vulgata.“22

      Dieses Vorgehen bei der Herstellung solcher Vollbibeln setzt eine gewisse wissenschaftliche Redaktions- und Editionstätigkeit voraus. Cassiodor selbst liefert in seinen Institutiones eine Art Anleitung für das Kopieren antiker Bücher. Er weist hierin dezidiert darauf hin, dass dabei mehrere Handschriften als Vorlagen herangezogen werden sollen. Durch den Vergleich dieser Vorlagen sollen Mängel beseitigt werden mit dem Ziel, den bestmöglichen Text zu bieten, auf den man aufgrund der vorhandenen Vorlagen Zugriff hat.23 Auf diese Weise wird auch das Phänomen erklärbar, dass Lesarten einer Handschrift in eine andere eindringen, ohne dass alle Besonderheiten der Vorlagehandschrift „mitkopiert“ werden.

      Als Zwischenfazit bleibt zu sagen: Paratextuelle Beigaben müssen unabhängig von der Handschrift ausgewertet werden, in der sie auftauchen. Die hier beschriebenen Kapitelverzeichnisse bezeugen z.B. sowohl Textvarianten als auch Textzustände, die weitaus älter zu datieren sind als ihre tatsächlichen Bezugstexte.

       Methodologischer Exkurs:

      An dieser Stelle ist es geboten, eine terminologische Unterscheidung einzuführen. Das beschriebene Beispiel macht die Notwendigkeit einer klaren Trennung zwischen dem ursprünglichen Bezugstext und dem tatsächlichen Bezugstext eines Paratextes deutlich.24 Während der tatsächliche Bezugstext die konkrete Handschrift meint, in der der Paratext zu lesen ist (im Falle der KA Rm A also der Codex Amiatinus), ist der ursprüngliche Bezugstext derjenige Text, für den der jeweilige Paratext ursprünglich angefertigt wurde (quasi der „Muttertext“).

      Diese Unterscheidung lässt sich strukturell auch in den Ausführungen von Gerd MINK, dem Begründer der kohärenzbasierten genealogischen Methode (CBGM)25, wiederfinden. So erklärt MINK:

      „Elemente einer genealogischen Hypothese sind nicht die Handschriften, sondern der Textzustand, den sie überliefern und der viel älter sein kann als die jeweilige Handschrift. Der Text in seinem jeweiligen Zustand wird hier als Zeuge bezeichnet, nicht die Handschrift.“26

      Hierin wird deutlich gemacht, dass es tatsächlich der Textzustand ist, der im Fokus der textkritischen Arbeit steht, nicht die Handschrift selbst, die ihn bezeugt. Mit dem Begriff Textzustand bezeichnet MINK „die Summe aller Lesarten, die innerhalb eines Manuskriptes […] gemeinsam überliefert werden.“27 Übertragen auf die eben gemachte terminologische Unterscheidung lässt sich somit für die Auswertung der Paratexte sagen: der tatsächliche Bezugstext einer Kapitelliste – also die Handschrift, in der der Paratext auftaucht – tritt vollständig in den Hintergrund.28 Der eigentliche Gegenstand der Untersuchung ist demnach der Textzustand, der durch den Paratext bezeugt wird und der erheblich älter sein kann als die Handschrift, von der er repräsentiert wird.29 Die Analyse des Paratextes erlaubt es also, Rückschlüsse auf den Textzustand seines ursprünglichen Bezugstextes zu ziehen und bietet zahlreiche Hinweise, wie dieser tatsächlich ausgesehen haben könnte. Natürlich bleibt der „Muttertext“ eines Kapitelverzeichnisses in letzter Instanz nicht konkret greifbar, ist als Handschrift also nicht identifizierbar. Betrachtet man die verschwindend geringe Anzahl uns bekannter biblischer Handschriften aus den ersten Jahrhunderten, so kann man mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass die ursprünglichen Bezugstexte der uns bekannten Paratexte in der Mehrzahl der Fälle gar nicht „überlebt“ haben. Umso wichtiger ist es für die Erforschung der frühen Textgeschichte des NT, die paratextuellen Beigaben ernst zu nehmen und sie als Beschreibungen von Handschriften auch textkritisch auszuwerten. Denn sie liefern einen reichhaltigen Fundus an textgeschichtlichen Besonderheiten, die in einigen Fällen bis in die frühesten Stadien der handschriftlichen Bezeugung der biblischen Texte zurückreichen, für die unsere Kenntnisse teilweise sehr überschaubar sind.

      Sowohl die in der vorliegenden Studie untersuchten Kapitellisten als auch die Prologe bezeugen textgeschichtlich besonders alte Textzustände. Denn wie an späterer Stelle ausführlich gezeigt wird, weist beispielsweise der ursprüngliche Bezugstext der amiatinischen