Alexander Goldmann

Über die Textgeschichte des Römerbriefs


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sei nicht der Urheber dieser Textänderungen.“28 Somit fällt für ihn die der Schwegler-Hypothese entsprechende Option A2 weg, die von ihm gar nicht diskutiert wird. Da SCHMID aber gleichzeitig die Beobachtung des starken Einflusses des Textes des marcionitischen Apostolos auf die reguläre Überlieferung ernst nimmt, kommt für ihn auch Option A1 nicht in Frage. Folglich ist er gleichsam gezwungen, sich mit Option A3 zu behelfen und eine vormarcionitische Paulusbriefedition zu postulieren, die einerseits Einfluss auf die reguläre Überlieferung genommen hat, und die andererseits aber auch die Vorlage für Marcions Textrevision darstellt.29

      Der gängige Argumentationsstrang, der davon ausgeht, Marcion als Textbearbeiter zu verstehen (dem also auch SCHMID teilweise folgt), stellt sich schematisch wie folgt dar:

      Übersicht 2:

      14Pls → 10Pls

      Die vorliegende Arbeit wird einen methodischen Weg aufzeigen, der diese Grundannahme einer marcionitischen Redaktion des Römerbrieftextes (und damit auch der übrigen Paulusbriefe) in Frage stellt und stattdessen deutlich macht, dass die Priorität der 10-Briefe-Sammlung gegenüber der 14-Briefe-Sammlung die plausiblere Option darstellt.30

      2.3. Methodisches Vorgehen

      Aus den beschriebenen Überlegungen ergibt sich folgende methodische Herangehensweise: Untersucht werden die drei umfangreichsten, zusammenhängenden Textdifferenzen zwischen der 10-Briefe-Sammlung (bezeugt durch Marcions Apostolos) und der 14-Briefe-Sammlung innerhalb des Römerbriefes.1 Dabei handelt es sich um Rm 4, Rm 9–11 und Rm 15–16. Letzterer Textabschnitt spielt hier deswegen eine Rolle, da das damit verbundene Problem des Römerbriefschlusses unter der heuristischen Grundannahme der vorliegenden Arbeit eine neue Lösung verspricht. Darüber hinaus ist es das zentrale textkritische Problem des Römerbriefes und darf daher an dieser Stelle nicht ignoriert werden. Dagegen wird auf die Untersuchung von Rm 2,3–11 verzichtet, da die Evidenz, auf der SCHMID sein Urteil gründet, dass die besagten Verse im von Marcion verwendeten Römerbrief fehlten, nach meinem Dafürhalten nicht plausibel genug sind.2

      Im Detail gestaltet sich die Vorgehensweise wie folgt: Zunächst wird der Text der 10-Briefe-Sammung für den untersuchten Textabschnitt genau erfasst. Dazu ist es geboten, den Text des Römerbriefes in Marcions Apostolos (10Rm) anhand der häresiologischen Bezeugung zu rekonstruieren, genau genommen die Differenz zwischen der 10- und der 14-Briefe-Sammlung so genau wie möglich zu erfassen. Anschließend ist anhand der genannten Kriterien zu prüfen, ob es sich tatsächlich (wie immer behauptet) um marcionitische Sonderlesarten (also durch Marcion erzeugte Varianten) handelt oder ob sie doch nur als durch Marcion bezeugt gelten dürfen. In diesem Fall müsste man die Entstehung der jeweiligen Lesart also auf mindestens eines der bekannten Kriterien zurückführen können. Das Zustandekommen der Lesart wäre also (1) aufgrund des Zitierverhaltens des jeweiligen Häresiologen zu erklären, oder geht (2) auf einen üblichen Fehler im Überlieferungsprozess zurück oder ist (3) auch anderweitig bezeugt.

      Da die Entstehung der besagten Textdifferenzen zwischen dem durch Marcion bezeugten Römerbrief und dem katholischen Text (also zwischen 10Rm und 14Rm) aufgrund ihres großen Umfangs kaum durch die Zitiergewohnheiten der Häresiologen (citation habits) zu erklären sind, bleibt das zweite (failures in tradition) und v. a. das dritte methodische Kriterium (attestation elsewhere) zu überprüfen. Dabei trägt Letzteres zweifelsohne das meiste argumentative Gewicht.3 Es wird also in erster Linie darum gehen, zu überprüfen, ob nicht auch andere Teile der handschriftlichen Überlieferung des Neuen Testaments das Fehlen von Rm 4 bzw. Rm 9–11 nahe legen. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, so würden auch die letzten Textabschnitte entfallen, die bisher als Beleg der Annahme einer theologisch motivierten marcionitischen Textrevision angeführt wurden.4 Folglich wäre es dann auch absolut legitim, ja sogar methodisch geboten, von der Annahme einer redaktionellen Bearbeitung Marcions und damit auch der Posteriorität der 10-Briefe-Sammlung gegenüber der 14-Briefe-Sammlung (A1) abzusehen.5 Stattdessen müsste man das redaktionelle Gefälle zwischen den beiden Briefsammlungen umkehren (A2) und prüfen, ob so die vielschichtigen textkritischen und überlieferungsgeschichtlichen Phänomene nicht besser erklärt werden können, als es die herkömmliche Hypothese zu tun im Stande ist.

      SCHMIDs Annahme einer vormarcionitischen Paulusbriefedition, die sowohl von Marcion redaktionell bearbeitet wurde, die gleichzeitig aber auch die Überlieferung der 14-Briefe-Sammlung beeinflusst hat (A3), ist nur dann sinnvollerweise aufrecht zu erhalten, sollten Marcion tatsächlich redaktionelle Eingriffe nachgewiesen werden können. Konkret also nur dann, wenn es sich bei den „größeren Auslassungen“ tatsächlich um Streichungen handelt, für die Marcion verantwortlich zu machen ist, die also gleichsam durch alle drei beschriebenen methodischen Raster fallen.

      Die vorliegende Studie liefert somit einen indirekten Beweis, d.h. einen Beweis durch Kontraposition der herkömmlichen Annahme, Marcion als Textfälscher zu verstehen. Im Schema stellt sich der Argumentationsgang wie folgt dar:

      Übersicht 3:

      10Pls → 14Pls

      In diesem Fall handelt es sich bei den Textdifferenzen zwischen den beiden Editionen also nicht um Streichungen, sondern um Interpolationen. Den Ausgangspunkt der Überlieferung stellt demnach die 10-Briefe-Sammlung dar, wie sie durch Marcions Apostolos bezeugt ist. D.h. hier geschieht methodisch also eine Gleichsetzung: Die Hinweise, die die Häresiologen für die Textgestalt von Marcions Apostolos liefern, werden ebenso für die Texte der 10-Briefe-Sammlung geltend gemacht. Dies ist dann methodisch statthaft, insofern aus den Quellen nichts Gegenteiliges herauszulesen ist bzw. die Aussagen der Häresiologen mit Textbesonderheiten korrelieren, die sich wahrscheinlich als Überreste der 10-Briefe-Sammlung erklären lassen. Sollte dies für eine große Anzahl bisher als marcionitisch gelabelter Lesarten bzw. Textmerkmale der Fall sein, ist es für die vorliegende Studie legitim, ja sogar geboten, den marcionitischen Römerbrief (McnRm) mit dem Römerbrief der 10-Briefe-Sammlung (10Rm) gleichzusetzen.

      Um bisher unentdeckte Spuren der marcionitischen Paulusbriefausgabe in der handschriftlichen Überlieferung des Neuen Testaments zu finden, wird bewusst nicht in erster Linie nur auf die griechische Handschriftentradition zurückgegriffen. Stattdessen werden Bereiche der Textüberlieferung betrachtet, die bisher nahezu ignoriert wurden. So wird die altlateinische Überlieferung eine große Rolle spielen.6 Konkret sind es v. a. die Paratexte, die ein umfangreiches Reservoir darstellen, das bislang in dieser Hinsicht kaum bzw. gar nicht ausgewertet wurde, da sie in den Apparaten der kritischen Textausgaben aus Gründen der methodischen Beschränkung gar nicht auftauchen. Zunächst ist deshalb zu klären, was überhaupt Paratexte sind und welche konkreten Paratexte für die textgeschichtliche Erforschung des Römerbriefes in der vorliegenden Studie von Relevanz sind.

      III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse

      Paratexte sind ein zentraler Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie. Dass sie für die Fragestellung so bedeutsam werden konnten, liegt grundsätzlich darin begründet, dass Paratexte Textzustände repräsentieren können, die sehr viel älter sind als die Handschriften, in denen sie heute zu finden sind. Weil sie so viel älter sind, erlauben sie einen Blick in die frühe HSS-Überlieferung, deren Analyse unverzichtbar ist, will man das Verhältnis der 10-Briefe-Sammlung und der 14-Briefe-Sammlung bestimmen. Zunächst allerdings ist zu klären, was überhaupt ein Paratext ist.

      3.1. Begriffsklärung – was sind Paratexte?

      Der Begriff Paratext geht auf den französischen Literaturwissenschaftler Gérard GENETTE zurück. GENETTE bezeichnet damit all „jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt.“1 Konkret nennt und analysiert er unter diesem Oberbegriff „Titel, Untertitel, Zwischentitel; Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Leser, Einleitungen, usw.; Marginalien, Fußnoten, Anmerkungen; Motti, Illustrationen; Waschzettel, Schleifen,