Alexander Goldmann

Über die Textgeschichte des Römerbriefs


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der Literatur der Moderne. Für die antiken und mittelalterlichen Texte konstatiert er, dass diese „häufig beinahe im Rohzustand, in Form von Handschriften ohne jegliche Präsentationsformen, zirkulierten.“3

      Doch hier irrt der moderne Literaturwissenschaftler. Denn sowohl die antike Literatur im Allgemeinen4 als auch die biblische Texttradition im Speziellen bieten überaus reichhaltiges paratextuelles Material. Das aktuelle Forschungsprojekt „Paratexts of the Bible“ (ParaTexBib) der Universität Basel hat sich die Erfassung und Untersuchung sämtlicher paratextueller Elemente der griechischen Bibelhandschriften zur Aufgabe gemacht und in diesem Zuge festgestellt, dass fast alle der zahlreichen Handschriften und Handschriftenfragmente der Bibel einiges mehr als nur den eigentlichen Text beinhalten. Entgegen der Einschätzung GENETTEs existiert darin eine Fülle von zusätzlichem Material wie Einleitungen, Vorworte, Gedichte, Gebete, Illustrationen, aber auch strukturelle Elemente wie z.B. Kapitelverzeichnisse.5

      Die Ergebnisse des Projekts unter der Leitung von Martin WALLRAFF und Patrick ANDRIST versprechen wichtige Einsichten und schärfen den Blick auf das Überlieferungsgeschehen der biblischen Texte als einen komplexen, kulturellen Prozess.6 Zu Recht weisen die Projektleiter auf ein Forschungsdesiderat hin, denn eine systematische Erfassung und Aufarbeitung der zahlreichen und diversen paratextuellen Elemente seitens der Biblischen Theologie steht bisher noch immer aus. Insbesondere die vom INTF beeinflusste Textkritik hätte demnach alles außerhalb des (eigentlichen) biblischen Textes bisher größtenteils als irrelevant verstanden, da es nicht dazu beitrage, den entfernten Urtext zu rekonstruieren.7

      Die vorliegende Arbeit versteht sich u. a. auch als Beitrag, diese Lücke zu füllen bzw. dieses Missverständnis zu entkräften. So soll deutlich gemacht werden, dass die in der Folge untersuchten Paratexte gleichsam als Beschreibungen von Handschriften verstanden werden müssen. Sie liefern wichtige Informationen, die auf den Umfang und den Inhalt der ihnen zugrunde liegenden HSS schließen lassen. Sie sind also textgeschichtlich alles andere als irrelevant. Dass diese Einsicht nicht gänzlich neu ist, zeigt ein Blick auf die neutestamentliche Forschung des 19. Jahrhunderts. So bewertet der französische Theologe Samuel BERGER die Bedeutung der paratextuellen Beigaben (genauer gesagt der Kapitellisten) hinsichtlich der Erforschung der Textgeschichte der biblischen Bücher überaus hoch, ja sogar als unerlässlich.8

      Im vergangenen Jahrhundert allerdings scheint diese Einsicht in Vergessenheit geraten zu sein. Möglicherweise trug der immense Zuwachs an auswertbaren biblischen Handschriften dazu bei, dass sich das Forschungsinteresse mehrheitlich auf die Texte selbst konzentrierte. Zusätzliche Textelemente werden als bloßes Beiwerk verstanden.9 Erst in der jüngeren Zeit scheint hier wieder ein Paradigmenwechsel wahrnehmbar: Die Etablierung des o.g. Forschungsprojektes (ParaTexBib), die Neuauflage von Donatien de BRUYNEs wegweisender Ausgabe der lateinischen Kapitellisten,10 aber auch einzelne Studien zu den paratextuellen Beigaben der biblischen Handschriften (z.B. SCHERBENSKE) – diese Aufzählung will nur einige Beispiele nennen, die allerdings verdeutlichen, dass das Interesse an den Paratexten wieder deutlich ansteigt. Nun ist es an der Zeit, dass auch die gegenwärtige textkritische Forschung dies wahrnimmt. Aus diesem Grund sollen die Paratexte zum Römerbrief für die Lösung der schwerwiegenden textkritischen Probleme nutzbar gemacht werden.

      Neben der griechischen Handschriftentradition (auf welcher der ausschließliche Fokus von ParaTexBib liegt) bietet die lateinische Überlieferung des Neuen Testaments sogar noch einen reichhaltigeren Fundus an paratextuellen Beigaben zu den tatsächlichen Texten.11 Für die aktuelle Studie sind v. a. Prolog- und Kapitelreihen in den Fokus der Untersuchung gerückt. Grundsätzlich sind die beiden Elemente deswegen interessant, weil sie wichtige Hinweise auf die Existenz sowie das Aussehen von Texten, Textformen bzw. Textcorpora liefern, für die sich – wie noch gezeigt wird – ein sehr früher Ursprung nahelegt. Man kann davon ausgehen, dass die Überlieferung der paratextuellen Beigaben in vielen Fällen gänzlich losgelöst von ihren eigentlichen Bezugstexten geschieht, d.h. die Paratexte sind oftmals zeitlich und geographisch „weit gewandert“12. So taucht eine Vielzahl von ihnen heute nur noch in Vulgatahandschriften auf, weist tatsächlich aber auf altlateinische Vorlagen, also prä-Vulgata-HSS zurück. Dies wird in den nachfolgenden Ausführungen eingehend dargelegt. Unter bestimmten Bedingungen können Paratexte also Textzustände überliefern, die um einiges älter sind als die Handschriften, in denen sie auftauchen. Moderne textkritische Studien sollten daher nicht darauf verzichten, die paratextuellen Beigaben in ihre Untersuchungen mit einzubeziehen.13Auch HOUGHTON weist ausdrücklich darauf hin, dass z.B. die Auswertung der Kapitelverzeichnisse unumgänglich für die Erforschung der Geschichte der biblischen Texte bzw. der Textcorpora ist.14

      3.2. Die altlateinischen Kapitelverzeichnisse

      Während die Prologe an späterer Stelle der vorliegenden Arbeit noch ausführlicher thematisiert werden,1 sei hier zunächst der Fokus auf die Kapitelverzeichnisse gelegt. Diese treten in der griechischen Handschriftentradition als κεφάλαια bzw. τίτλοι auf.2 In den lateinischen Manuskripten werden sie zumeist als tituli, breves bzw. capitula bezeichnet.3 Die ältesten Kapitelverzeichnisse gehen auf das dritte Jahrhundert zurück.4 Tatsächlich wird die vorliegende Studie den Nachweis erbringen, dass einige dieser Kapitellisten sogar auf Texteditionen hinweisen, die noch um einiges älter sind.5

      Die Entstehung eines solchen Kapitelverzeichnisses stellt sich wie folgt dar: Zunächst wird der Bezugstext in einzelne Sinnabschnitte (Sektionen) gegliedert, deren Inhalt knapp zusammengefasst wird.6 Diese Zusammenfassungen werden durchnummeriert und in einer Liste zusammengestellt. Die Nummern der Sektionen werden dann an den betreffenden Stellen in den Bezugstext – in der Regel marginal – eingefügt. Die kompletten Kapitelreihen tauchen in den lateinischen Kodizes des Corpus Paulinum meist zwischen den Prologen und dem tatsächlichen Brieftext auf.7 In einigen Fällen orientieren sich die altlateinischen breves stark an griechischen Bibelhandschriften, „deren τίτλοι manchmal nur übersetzt wurden.“8

      Der übergeordnete Zweck dieser Kapitelverzeichnisse ist es, dem Leser eine schnelle Orientierung über den gesamten Text zu ermöglichen, gleichsam eine Gliederung bzw. eine Art Inhaltsverzeichnis zu liefern. Mit Hilfe einer dem Text vorangestellten Kapitelliste kann der Leser des Kodex deutlich schneller und gezielter auf den von ihm gesuchten Abschnitt bzw. die konkrete Textstelle zugreifen.9

      Neben der genannten Orientierungs- und Gliederungsfunktion fungieren die Kapitelverzeichnisse auch als Interpretationshilfe. Denn in der Art und Weise, wie die einzelnen Textabschnitte zusammengefasst und überschrieben werden, beeinflussen die breves auch das Textverständnis der Leser.10 Diese hermeneutische Funktion der Leserlenkung tritt in einigen Kapitelreihen deutlicher, in anderen weniger deutlich zutage. Für die vorliegende Studie sind v. a. zwei Kapitelverzeichnisse von Bedeutung. Beide werden nachfolgend ausführlich vorgestellt.

      3.2.1. Die Capitula Amiatina

      Die Capitula Amiatina sind ein lateinisches Kapitelverzeichnis, das bisher v. a. hinsichtlich der Frage nach dem Schluss des Römerbriefes in den Fokus der textkritischen Untersuchungen gerückt ist. Das Verzeichnis zum Römerbrief (in der Folge mit KA Rm A bezeichnet)1 unterteilt den Text desselben in 51 Sektionen, die relativ ausführliche und teilweise sehr umfangreiche Zusammenfassungen der jeweiligen Textabschnitte bieten. Keine andere bekannte lateinische Kapitelreihe weist für den Römerbrief eine annähernd große Zahl an Sektionen auf. Der Textumfang im Bezugstext, den die einzelnen Sektionen beschrieben, ist uneinheitlich, d.h. die Zusammenfassungen der Textabschnitte geschieht unterschiedlich ausführlich.2

      Seine Bezeichnung verdankt sich das Verzeichnis der ältesten Handschrift, in der es auftaucht – dem Codex Amiatinus (Vg A),3 der ältesten erhaltenen Vollbibel der lateinischen Vulgata. Darüber hinaus findet sich die besagte Kapitelreihe auch noch in weiteren lateinischen Handschriften, z.B. dem Codex Carolinus4 (K → VgO bzw. ΦG → VgS), dem Codex Frisingensis5 (Vg M), dem Codex Laudianus6 (O → VgO), dem Codex Vallicellianus7 (V → VgO bzw. ΦV → VgS) und dem Codex Harleianus8 (Z → VgO = VL 65).9 Das Verzeichnis war also sehr weit verbreitet – vergleichbar mit den altlateinischen Paulusprologen, die oftmals in denselben