so scheint mir, glaubt an einen Gott, den es gar nicht gibt, nämlich an das mit der jeweils herrschenden (weltlichen und auch kirchlichen) Macht verwechselbare und von der Religionskritik längst als Projektion entlarvte Über-Ich, das kontrolliert und beschützt, belohnt und bestraft, verflucht und segnet. Das ist wohl der Grund, warum mittlerweile die meisten Christen ihren Glauben mitsamt ihrer ambivalenten Kirchenerfahrung loswerden wollen, warum sie ihn einfach vergessen oder bewusst verdrängen. An den Vater Jesu Christi, der herausfordert zu entschiedener Nachfolge und leidenschaftlicher Liebe, glauben offenkundig nur die wenigsten.
Mit einem Wort: Die Magie hat es leicht, denn jeder Mensch ist von Natur aus religiös. Der Glaube aber hat es schwer, denn er braucht, um wachsen und reifen zu können, nicht nur fromme Gefühle, sondern intellektuelle Anstrengung, nicht nur das Mitmachen von Ritualen, sondern deren kritische Reflexion – psychologisch gesprochen: nicht nur Regression, sondern vor allem Individuation. Magisch empfinden faktisch zunächst alle Menschen; mystisch sind sie erst dann, wenn sie sich um eine verbindliche, aufgeklärte und handlungsbereite Spiritualität bemühen: Ora et labora. Interessant ist, dass Menschen gerade im Ringen um einen reifenden Glauben jeden Leistungsgedanken über Bord werfen und sich von Gott beschenken lassen können wie ein Kind. Ihr Glaube wird von selbst zur Nachfolge Christi; sie können gar nicht mehr anders, als auf seine Liebe und Hingabe zu antworten.
Ich bin davon überzeugt, dass die Weltgeschichte anders verlaufen wäre, wenn es mehr gereifte und erwachsen gewordene Christinnen und Christen gegeben hätte. Wie hätten sonst zwei Weltkriege von einem Land ausgehen können, dessen Kirchen zur selben Zeit noch zum Bersten voll waren? Nur wenige waren damals couragiert, reflektiert, mutig; die meisten waren gefangen in alten Gehorsamsstrukturen oder haben einfach weggeschaut. Ich bin davon überzeugt, dass die Kirche reformfähiger wäre, wenn die leitenden Persönlichkeiten wirklich erwachsen wären. Die Zugangsbedingungen zum Amt beispielsweise verhindern geradezu, dass wirklich gereifte Menschen in hohe Ämter kommen. Durch den Pflichtzölibat werden Beziehungsunfähigkeit und Infantilität faktisch gefördert und spiritualisiert. Die Auftritte mancher Kirchenoberer jedenfalls machen einen durchaus kindlich-selbstverliebten Eindruck, wenn es hauptsächlich darum geht, Papa Papst und Mutter Kirche zu gefallen; man regiert autoritär, tut dabei fromm und zieht eine Schleimspur angepasster Kirchenfrömmigkeit hinter sich her. Reformen werden verhindert, weil man selbst – wie übrigens alle Traditionalisten – an seiner eigenen Kinderkirche festhält. Die wahren Krabbelgottesdienste, so scheint mir manchmal, finden in den Hochchören unserer Kathedralen statt. Schließlich bin ich davon überzeugt, dass die heutige Weltpolitik anders liefe, wenn die darin machthabenden Christinnen und Christen im Glauben weiter gereift wären; denn dann würden sie religiöse Gefühle nicht nationalistisch missbrauchen, sondern die kritische Kraft und Herausforderung des Evangeliums entdecken.
An der persönlichen Entwicklung von der Magie zur Mystik führt deshalb kein Weg vorbei. Dazu möchte ich allen Christinnen und Christen Mut machen, denn dafür ist es nie zu spät. Ich bin davon überzeugt: Gott will keine infantilen Angsthasen, die nur perfekt gehorchen, sondern erwachsene Töchter und Söhne, die sich entwickeln zu mehr Freiheit und Verantwortung, herausgefordert zu Hingabe und Liebe.
Um eine bessere Lesbarkeit zu ermöglichen, verzichte ich an den meisten Stellen im Buch auf die Nennung beider Geschlechter sowie auf das Gender*sternchen. Gemeint sind aber immer alle (w/m/d).
Von Kindern und Zwergen
Glaube ist kein Zustand, sondern ein Weg. Der Glaube entwickelt sich im Laufe des Lebens. Bleibt ein Mensch auf einer bestimmten, meist frühen religiösen Stufe stehen, spricht man vom Kinderglauben. Wenn ein Kind nicht wächst, wird aus ihm weder ein erwachsenes Kind noch ein kleiner Erwachsener, sondern ein Zwerg. Ich betone, dass es sich hierbei um eine Metapher handelt: Mit dem Zwerg ist selbstverständlich nicht die physiologische Kleinwüchsigkeit gemeint, sondern eine verzögerte oder gar zum Stillstand gekommene religiöse Entwicklung. Man sollte den Kinderglauben deshalb nicht romantisieren, so als habe eine solche Entwicklungsstufe mit unverdorbenem Vertrauen zu tun, gar mit unverbrauchter und unangezweifelter Gottunmittelbarkeit. Es ist ein Zwergenglaube, der bei der erstbesten Lebenskrise wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. Wer aus seinen religiösen Kinderschuhen nicht herausgewachsen ist, wird bald aus allen Latschen kippen.
Nach meiner Erfahrung gehen menschliche und geistliche Reife Hand in Hand, Beziehungsfähigkeit und Spiritualität sind ein und dasselbe. Wer mit einem Menschen keine verlässliche Beziehung leben kann, wird auch Gott nicht die Treue halten; wen das Schicksal von Menschen unberührt lässt, der lässt sich auch von Gott nicht berühren; an der Nächstenliebe kann man die Gottesliebe exakt ablesen – und umgekehrt. Insofern sorgen autoritäre Strukturen einerseits und kindliche Frömmigkeit andererseits in der Kirche dafür, dass Menschen, insbesondere Amtsträger, nicht reifen können und dann später selbst die Entwicklung anderer Christen behindern. Sie sind selbst nicht beziehungsfähig, was auch noch spirituell überhöht wird. Pastoraltheologen sprachen schon vor Jahrzehnten von der Infantilität des Gottesvolkes und dessen Unmündigkeit im Glauben.
Wie sieht er denn aus, der Glaube in Kinderschuhen? Wenn Erwachsene ihren Kinderglauben nicht abgelegt haben, dann glauben sie meistens mehr an Magie als an Jesus. Gott ist dann ein Wundertäter, der zuständig ist für alles, was ich nicht verstehe, und der überall dort anzutreffen ist, wovon ich noch nichts weiß. Der Gott, der in dieser Lücke sitzt, wird zwar der liebe Gott genannt, aber man traut seiner Liebe doch nicht so recht über den Weg. Deshalb muss man sich bei ihm absichern, denn für gute Taten gibt es Lohn, für schlechte eben Strafe. So lieb ist der liebe Kindergott also doch nicht! Er ist nur ein Buchhalter, der zusammenrechnet und später im Himmel auszahlt, was man für sich selbst erarbeitet hat. Der Glaube in Kinderschuhen findet niemals wirklich zu Jesus Christus. Es geht zumeist bloß um irgendeinen Naturgott – »Herrgott« genannt –, nicht aber um den Vater Jesu Christi.
Johannes vom Kreuz, der große spanische Mystiker, sagt es so: »Nur ein Mensch, der seine hergebrachten religiösen Gewissheiten verloren hat, ist fähig zur Begegnung mit dem lebendigen Gott.« Mit anderen Worten: Nur wer seinen Kinderglauben in Frage stellt, wer ganz bewusst vor und mit Gott zu leben beginnt, findet zu einer persönlichen Gottesbeziehung. Ich bin davon überzeugt: Wer sich wirklich auf Jesus einlässt, gelangt zu einer ganz neuen Freiheit. Wer in dieser Freiheit lebt, kann fröhlich seinen Glauben bezeugen.
Der Kinderglaube ist für Kinder durchaus wichtig, man soll ihn deshalb nicht von vornherein schlechtmachen. Erwachsene können von Kindern viel lernen: Vertrauen haben, die Zeit vergessen, absichtslos neugierig sein, ganz bei einer Sache bleiben, nicht nach Anerkennung und Erfolg schielen, sich nicht mit anderen vergleichen. Der Kinderglaube ist für Kinder durchaus wichtig, denn ohne natürliche Religiosität findet niemand zum Glauben. Im Erwachsenenalter jedoch ist der Kinderglaube kontraproduktiv, denn einen Zwergenglauben will man irgendwann nicht mehr haben, sondern unbedingt loswerden.
Die religiöse Entwicklung vom Kinder- zum Erwachsenenglauben ist der Weg von der Magie zur Mystik. Wie jeder Mensch im Mutterleib Stufen der biologischen Evolution durchläuft, so durchlebt und durchleidet er biografisch den Fortgang der geistig-geistlichen Evolution der Menschheit von einer naiv-magischen Religiosität hin zum aufgeklärt-mystischen Glauben. Es gibt ja nicht nur die biologische, sondern auch die geistige und spirituelle Evolution. In der Frühzeit der Menschheit geht es ums nackte Überleben und entsprechend um die Befriedigung von Urbedürfnissen. Erst später entstehen Rituale, vor allem um die Ereignisse der Lebenswenden herum: Geburt, Heirat, Tod. Solche Rituale geben Sicherheit und Halt, sie verleihen Identität. Denn die Welt wird als magisch empfunden, sie ist unberechenbar und bedrohlich. Deshalb muss man sich wehren gegen böse Geister und gegen ein schlimmes Schicksal. Erst mit der Erfindung der Schrift entstehen Gesetze und Regeln; Könige sorgen für Ordnung, Moralvorstellungen und Traditionen für ein reibungsloses Zusammenleben. Das verheißene Jenseits bringt den Lohn für ein moralisch gutes Leben, entsprechend wird Ausreißern und Bösewichten die Hölle heiß gemacht. Durch die Wissenschaft lernt die Menschheit erst sehr viel später, sich von einer religiös legitimierten Ordnung zu emanzipieren; seit der Aufklärung muss niemand mehr an Gott glauben, um einen gesellschaftlich anerkannten Platz einzunehmen. Die Welt ist mündig geworden, sie braucht