Moses Mendelssohn

Ausgewählte philosophische Werke von Moses Mendelssohn


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der Leib, im Wege, und bietet uns seine Schatten, statt der Wahrheit, an. Die Sinne halten uns, wider unsern Dank, ihre Scheinbilder vor, und erfüllen die Seele mit Verwirrung, Dunkelheit, Trägheit und Aberwitz: und sie soll in diesem allgemeinen Aufruhr gründlich nachdenken und die Wahrheit erreichen? unmöglich! Wir müssen also die seligen Augenblicke abwarten, in welchen Stille von Außen und Ruhe von Innen uns das Glück verschafft, den Leib völlig aus der Acht zu schlagen, und mit den Augen des Geistes nach der Wahrheit hinzusehen. Aber wie selten, und wie kurz sind auch diese seligen Augenblicke! –

      Wir sehen ja deutlich, daß wir das Ziel unserer Wünsche, die Weisheit, nicht eher erreichen werden, als nach unserm Tode; beym Leben ist keine Hoffnung dazu. Denn kann anders die Seele, so lange sie im Leibe wohnet, die Wahrheit nicht deutlich erkennen, so müssen wir eines von beiden setzen: entweder, wir werden sie niemals erkennen, oder, wir werden sie nach unserm Tode erkennen, weil die Seele alsdann den Leib verläßt, und vermuthlich in dem Fortgange zur Weisheit weit weniger aufgehalten wird. Wollen wir uns aber in diesem Leben zu jener seligen Erkenntniß vorbereiten, so müssen wir unterdessen dem Leibe nicht mehr gewähren, als was die Nothwendigkeit erfodert; wir müssen uns seiner Begierden und Lüste enthalten, und uns, so oft als möglich, im Nachdenken üben, bis es dem Allerhöchsten gefallen wird, uns in Freyheit zu setzen. Alsdann können wir hoffen, von den Thorheiten des Leibes befreyet, die Quelle der Wahrheit, das allerhöchste und vollkommenste Wesen, mit lautern und heiligen Sinnen zu beschauen, indem wir vielleicht andere neben uns eben derselben Glückseligkeit genießen sehen. Einem Unheiligen aber ist es nicht erlaubet, die Heiligkeit selbst anzurühren. – Diese Sprache, mein lieber Simmias! dürfen die wahren Wissensbegierigen unter einander führen, wenn sie sich von ihren Angelegenheiten besprechen, und diese Meynung müssen sie auch hegen, wie ich glaube; oder dünkt es dich anders?

      Nicht anders, mein Sokrates!

      Wenn aber dem also ist, mein Lieber! hat ein solcher, der mir heute nachfolget, nicht große Hoffnung, da wo wir hinkommen, besser als irgend wo, das zu erlangen, wornach er im gegenwärtigen Leben so sehr gerungen?

      Allerdings!

      Ich kann also meine Reise heute mit guter Hoffnung antreten, und jeder Wahrheitliebender mit mir, wenn er bedenkt, daß ihm ohne Reinigung und Vorbereitung kein freyer Zutritt zu den Geheimnissen der Weisheit verstattet wird.

      Dieses kann nicht geleugnet werden, sprach Simmias.

      Diese Reinigung aber ist nichts anders, als die Entfernung der Seele von dem Sinnlichen, und anhaltende Uebung über das Wesen und die Eigenschaften der Seele selbst Betrachtungen anzustellen, ohne sich darinn etwas, das nicht die Seele ist, irren zu lassen; mit einem Worte, die Bemühung, sowohl in diesem als in dem zukünftigen Leben, die Seele von den Fesseln des Leibes zu befreyen, damit sie ungehindert sich selbst betrachten, und dadurch zur Erkenntniß der Wahrheit gelangen möge.

      Allerdings!

      Die Trennung des Leibes von der Seele nennet man den Tod.

      Freylich.

      Die wahren Liebhaber der Weisheit, wenden also alle ersinnliche Mühe an, sich dem Tode, so viel sie können, zu nähern, sterben zu lernen: Nicht?

      Es scheinet so.

      Wäre es nun aber nicht höchst ungereimt, wenn ein Mensch, der in seinem ganzen Leben nichts gelernet, als die Kunst zu sterben, wenn ein solcher, sage ich, zuletzt sich betrüben wollte, da er den Tod sich nahen sieht, und wäre es nicht lächerlich?

      Unstreitig.

      Also, Simmias, muß den wahren Weltweisen der Tod niemals schrecklich, sondern allezeit willkommen seyn. – Die Gesellschaft des Leibes ist ihnen bey allen Gelegenheiten beschwerlich; denn wofern sie den wahren Entzweck ihres Daseyns erfüllen wollen, so müssen sie suchen die Seele vom Leibe zu trennen, und gleichsam in sich selbst zu versammeln. Der Tod ist diese Trennung, die längstgewünschte Befreyung von der Gesellschaft des Leibes. Welche Ungereimtheit also, bey Herannahung desselben zu zittern, sich zu betrüben! Getrost und fröhlich vielmehr müssen wir dahin reisen, wo wir Hoffnung haben unsere Liebe zu umarmen, ich meyne die Weisheit, und des überlästigen Gefährten los zu werden, der uns so vielen Kummer verursacht hat. Wie? gemeine und unwissende Leute, denen der Tod ihre Gebieterinnen, ihre Weiber oder ihre Kinder geraubt, wünschen in ihrer Betrübniß nichts sehnlicher, als die Oberwelt verlassen und zu dem Gegenstande ihrer Liebe, oder ihrer Begierden, hinabsteigen zu können: und diese, die gewisse Hoffnung haben, ihre Liebe nirgend in solchem Glanze zu erblicken, als in jenem Leben, diese sind voller Angst? diese beben? und treten nicht vielmehr mit Freuden die Reise an? O nein! mein Lieber! nichts ist ungereimter, als ein Weltweiser, der den Tod fürchtet.

      Beym Jupiter! ganz vortrefflich, rief Simmias.

      Zittern und voller Angst seyn, wenn der Tod winkt, kann dieses nicht für ein untriegliches Kennzeichen genommen werden, daß man nicht die Weisheit, sondern den Leib, das Vermögen, die Ehre, oder alle drey zusammen liebet?

      Ganz untrieglich.

      Wem geziemet die Tugend, die wir Mannhaftigkeit nennen, mehr als den Weltweisen?

      Niemanden!

      Und die Mäßigkeit, diese Tugend, die in der Fertigkeit bestehet, seine Begierden zu bezähmen, und in seinem Thun und Lassen eingezogen und sittsam zu seyn, wird sie nicht vornehmlich bey dem zu suchen seyn, der seinen Leib nicht achtet, und bloß in der Weltweisheit lebt und webt?

      Nothwendig, sprach er.

      Aller übrigen Menschen Mannhaftigkeit und Mäßigkeit wird dir ungereimt scheinen, wenn du sie näher betrachtest.

      Wie so? mein Sokrates!

      Du weißt, versetzte er, daß die mehresten Menschen den Tod für ein sehr großes Uebel halten.

      Richtig, sprach er.

      Wenn also diese, so genannten tapfern und mannhaften Leute, unerschrocken sterben, so geschiehet es bloß aus Furcht eines noch größern Uebels.

      Nicht anders.

      Also sind alle Mannhaften, außer den Weltweisen, bloß aus Furcht unerschrocken. Ist aber eine Unerschrockenheit aus Furcht nicht höchst ungereimt?

      Dieses ist nicht zu leugnen.

      Mit der Mäßigkeit hat es dieselbe Beschaffenheit. Aus Unmäßigkeit leben sie mäßig und enthaltsam. Man sollte dieses für unmöglich halten, und dennoch trifft es bey dieser unvernünftigen Mäßigkeit völlig ein. Sie enthalten sich gewisser Wollüste, um andere, nach welchen sie gieriger sind, desto ungestörter genießen zu können.

      Sie werden Herren über jene, weil sie von diesen Knechte sind. Frage sie, sie werden dir freylich sagen, sich von seinen Begierden beherrschen zu lassen, sey Unmäßigkeit; allein sie selbst haben die Herrschaft über gewisse Begierden nicht anders erlangt, als durch die Sklaverey gegen andere, die noch ausgelassener sind. Heißet nun dieses nicht gewisser maßen aus Unmäßigkeit enthaltsam seyn?

      Allem Ansehen nach.

      O mein theurer Simmias! Wollust gegen Wollust, Schmerz gegen Schmerz, und Furcht gegen Furcht vertauschen, gleichsam, wie Münze, für ein großes Stück viele kleine einwechseln: dieß ist nicht der Weg zur wahren Tugend. Die einzige Münze, die gültig ist, und für welche man alles andere hingeben muß, ist die Weisheit. Mit dieser schafft man sich alle übrigen Tugenden an: Tapferkeit, Mäßigkeit, und Gerechtigkeit. Ueberhaupt bey der Weisheit ist wahre Tugend, wahre Herrschaft über die Begierden, über die Verabscheuungen, und über alle Leidenschaften: ohne Weisheit aber erlanget man nichts, als einen Tausch der Leidenschaften gegen eine leidige Schattentugend, die dem Laster Sklavendienste thun muß, und an sich selbst nichts Gesundes und Wahres mit sich führet. Die wahre Tugend ist eine Heiligung der Sitten, eine Reinigung des Herzens, kein Tausch der Begierden. Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Mannhaftigkeit, Weisheit, sind kein Tausch der Laster gegen einander. Unsere Vorfahren, welche die Teleten, oder die vollkommenen Versöhnungsfeste gestiftet, müssen, allem Ansehen nach, sehr weise Männer gewesen seyn: denn sie