Cebes. Ich sehe nicht ab, wie ich an dieser Wahrheit sollte zweifeln können?
Laß sehen, erwiederte Sokrates, ob dir folgendes eben so unleugbar scheinen wird? Mich dünkt, alles Veränderliche könne keinen Augenblick unverändert bleiben, sondern, indem die Zeit ohne zu ruhen forteilet, und das Künftige beständig zu dem Vergangenen zurück sendet, so verwandelt sie auch zugleich alles Veränderliche, und zeigt es jeden Augenblick unter einer neuen Gestalt. Bist du nicht auch dieser Meynung, Cebes?
Sie ist wenigstens wahrscheinlich.
Mir scheinet sie unwidersprechlich. Denn alles Veränderliche, wenn es eine Wirklichkeit, und kein bloßer Begriff ist, muß eine Kraft haben, etwas zu thun, und ein Geschicke, etwas zu leiden. Nun mag es thun oder leiden, so wird etwas an ihm anders, als es vorhin gewesen; und da die Kräfte der Natur niemals in Ruhe sind: was könnte den Strom der Vergänglichkeit nur einen Augenblick in seinem Laufe hemmen?
Itzt bin ich überzeugt.
Das thut der Wahrheit keinen Eintrag, daß uns gewisse Dinge oft eine Zeit lang unverändert scheinen; denn scheinet uns doch auch eine Flamme eben dieselbe, und dennoch ist sie nichts anders, als ein Feuerstrom, der aus dem brennenden Körper ohne Unterlaß empor steigt, und unsichtbar wird. Die Farben kommen unsern Augen öfters wie unverändert vor, und gleichwohl wechselt beständig neues Sonnenlicht mit dem vorigen ab. Wenn wir aber die Wahrheit suchen, so müssen wir die Dinge nach der Wirklichkeit, nicht aber nach dem Sinnenschein beurtheilen.
Beym Jupiter! versetzte Cebes, diese Wahrheit verschafft uns eine neue Aussicht in die Natur der Dinge, die uns in Erstaunen setzet. Meine Freunde! fuhr er fort, indem er sich zu uns wandte, was für wichtige Dinge wird uns Sokrates nicht entdecken, wenn er die Anwendung hievon auf die Seele machen wird!
Ich habe noch einen einzigen Satz voraus zu schicken, versetzte Sokrates, ehe ich auf diese Anwendung komme. Das Veränderliche, haben wir eingestanden, kann keinen Augenblick unverändert bleiben, sondern, so wie die vergangene Zeit älter wird, so wächst auch die aneinander hängende Reihe der Abänderungen, die da gewesen sind. Nun überlege, Cebes! findet man in der Zeit zween Augenblicke, die sich einander die nächsten sind?
Noch begreife ich nicht, sprach Cebes, was du sagen willst. –
Ein Beyspiel wird dir meine Gedanken deutlicher machen. Indem ich das Wort Cebes ausspreche, folgen hier nicht zwo Sylben auf einander, zwischen welchen keine dritte anzutreffen ist?
Richtig!
Diese beiden Sylben also sind sich einander die nächsten.
Richtig!
Aber in dem Begriffe, den wir mit dem Worte verbinden, giebt es hier auch zwey Stücke, die sich einander die nächsten sind? Mich dünkt, nein!
Und mit Recht; denn die Theile dieses Begriffs sind unzertrennlich, und machen ein stetiges Ganzes aus; da hingegen die Sylben zertrennlich sind, und in einer unstätigen Reihe aufeinander folgen.
Dieses ist vollkommen deutlich.
Ich frage also von der Zeit: Ist sie mit dem ausgesprochenen Worte, oder mit dem Begriffe zu vergleichen? Folgen ihre Augenblicke in einer stätigen, oder unstätigen Ordnung auf einander?
In einer stätigen, erwiederte Cebes.
Freylich, versetzte Simmias; denn durch die Folge unserer Begriffe erkennen wir ja die Zeit; wie ist es also möglich, daß die Natur der Folge in der Zeit und in den Begriffen nicht einerley seyn sollte?
Es giebt also keine zwey Augenblicke, die sich einander die nächsten sind?
Nein, sprach Cebes.
Und da die Veränderungen mit der Zeit in gleichen Schritten fortgehen, auch nicht zwo Zustände, die sich einander die nächsten sind?
Es scheinet also.
Unsern Sinnen kömmt es freylich so vor, als wenn die Veränderungen ruckweise geschähen; allein in der Wirklichkeit ist die Folge der Veränderungen stätig; und man mag zween Zustände so dicht aneinander setzen, als man will: so giebt es immer noch einen Uebergang dazwischen, der sie mit einander verbindet, der der Natur von einem auf den andern gleichsam den Weg zeigt.
Ich begreife dieses alles sehr wohl, sprach Cebes.
Meine Freunde! rief Sokrates, itzt ist es Zeit uns unserm Vorhaben zu nähern. Wir haben Gründe gesammelt, die für unsere Ewigkeit streiten sollen, und ich verspreche mir einen gewissen Sieg. Wollen wir aber nicht, nach Gewohnheit der Feldherren, ehe wir zum Treffen kommen, unsere Macht noch einmal übersehen, um ihre Stärke und Schwäche desto genauer kennen zu lernen?
Apollodorus bat sehr um eine kurze Wiederholung.
Die Sätze, sprach Sokrates, deren Richtigkeit wir nicht mehr in Zweifel ziehen, sind diese:
1 Zu einer jeden natürlichen Veränderung wird dreyerley erfodert: 1) Ein Zustand eines veränderlichen Dinges, der aufhören, 2) ein anderer, der seine Stelle vertreten soll, und 3) die mittlern Zustände, oder der Uebergang, damit die Veränderung nicht plötzlich, sondern allmählig geschehe.
2 Was veränderlich ist, bleibet keinen Augenblick, ohne wirklich verändert zu werden.
3 Die Folge der Zeit gehet in einem fort, und es giebt keine zween Augenblicke, die sich einander die nächsten sind.
4 Die Folge der Veränderungen kömmt mit der Folge der Zeit überein, und ist ebenfalls so stätig, so unzertrennlich, daß man keine Zustände angeben kann, die sich einander die nächsten wären, oder zwischen welchen nicht ein Uebergang Statt finden sollte. Sind wir nicht über diese Punkte einig worden?
Ja, sprach Cebes.
Leben und Tod, mein lieber Cebes, versetzte Sokrates, sind entgegengesetzte Zustände: nicht?
Freylich!
Und das Sterben der Uebergang vom Leben zum Tode?
Freylich!
Diese große Veränderung trifft vermuthlich die Seele sowohl als den Leib; denn beide Wesen standen in diesem Leben in der genauesten Verbindung.
Allem Ansehen nach.
Was mit dem Leibe nach dieser wichtigen Begebenheit vorgehet, kann uns die Beobachtung lehren; denn das Ausgedehnte bleibt unsern Sinnen gegenwärtig; aber wie, wo, und was die Seele nach diesem Leben seyn wird, muß bloß durch die Vernunft ausgemacht werden; denn die Seele hat durch den Tod das Mittel verloren, den menschlichen Sinnen gegenwärtig zu seyn.
Richtig!
Wollen wir nicht, mein Theurester! erst das Sichtbare durch alle seine Veränderungen verfolgen, und hernach, wo möglich, das Unsichtbare mit dem Sichtbaren vergleichen?
Das scheint der beste Weg, den wir einschlagen können, erwiederte Cebes.
In jedem thierischen Leibe, Cebes! gehen beständig Trennungen und Zusammensetzungen vor, die zum Theil auf die Erhaltung, zum Theil aber auf den Untergang der großen Maschine abzielen. Tod und Leben fangen bey der Geburt des Thieres schon an gleichsam mit einander zu ringen. Dieß zeigt die tägliche Erfahrung.
Wie nennen wir den Zustand, fragte Sokrates, in welchem die thierischen Veränderungen mehr auf die Erhaltung, als auf den Untergang des Leibes abzielen. Nennen wir ihn nicht die Gesundheit?
Wie anders?
Hingegen werden die thierischen Veränderungen, welche die Auflösung der großen Maschine verursachen, durch Krankheiten vermehret, oder auch durch das Alter, welches die natürlichste Krankheit genennt werden kann.
Richtig!
Das Verderben nimmt durch unmerkliche Grade allmählig zu. Endlich zerfällt das Gebäude, und