Max Weber

Gesammelte Beiträge von Max Weber


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derjenigen »Gesetzgebungen«, welche unzweifelhaft in ältere Zeit hinaufreichen und der angeblichen Göttlichkeit ihrer Herkunft wegen ein relativ hohes Maß von Garantie für Treue der Ueberlieferung bieten. Ein kurzer Blick auf die von ihnen illustrierten Zustände rechtfertigt sich dadurch, daß nur hier aus dem eigenen Munde eines Volkes Kunde aus einer Zeit vor der Stadtsässigkeit der politischen und priesterlichen Gewalten geboten zu werden scheint. Freilich: die Annahme, man habe es im ältesten »Gesetz« (Exodus 19 ff.) mit irgendwie »ursprünglichen« Zuständen zu tun, mit dem Recht eines primitiven Bauernvolkes, noch frei von allem städtischen und geldwirtschaftlichen Einschlag, ist ganz unhaltbar, wie unter den neueren Darstellungen namentlich A. Merx, bei aller Betonung der großen Kulturunterschiede zwischen der Periode dieses »Gesetzes« und der des Deuteronomiums, anerkennt. Trotz der – wie überall – großen Bedeutung des Viehes, als der wichtigsten Quelle der Differenzierung des Reichtums, scheint eines sicher: ein eigentliches Nomadenvolk oder ein »Beduinenstamm« sind die historischen Israeliten, auch ihre herrschenden Schichten, niemals gewesen3): das Kamel nicht nur, sondern auch das Pferd fehlen, der Ochse ist, wie im ältesten Rom, vor allem Arbeitstier. Leder ist (wie in Aegypten) das älteste Kleidungsmaterial. Getreide als Hauptnahrung, daneben Gemüse und Wein finden sich von Anfang an, ebenso wohl auch Oel; tägliche Fleischmahlzeiten kennt natürlich nur der König, andere Leute schlachten nur an den Festtagen (und dann in Form des Opfers) aber z.B. von einer besonderen Bedeutung des Käses (wie in Althellas) finden wir nichts. Unter dem Viehbesitz, der hier, wie überall, Kennzeichen des reichen Mannes und namentlich in den Händen der Könige groß ist, spielen die Schafe aus Gründen der Landeseigenart mit dem Vordringen der Wollkleidung eine große Rolle. Die Bodenbebauung (Hakenpflug, Düngung wie es scheint wenig entwickelt) und Brotbereitung (Handmühle, Backtopf) blieben ziemlich primitiv. – Jedenfalls dürfen, nach dem Gesagten, die Hebräer trotz der größeren Rücksicht, welche das alte Gesetz gegenüber dem Deuteronomium auf die Verhältnisse des Viehbesitzes nimmt, schwerlich als ein in jener Zeit auch nur vornehmlich viehzüchtendes Volk angesehen werden (Genesis 47, 3 pointiert den Gegensatz gegen die Aegypter). Aber allerdings sind die Hebräer der vorköniglichen Zeit ein aus dem »jenseitigen«, d.h. ostjordanischen Lande über den Fluß und dann weiter über das Bergland vorgedrungenes, und nun weiter nach der Küste zu abwechselnd vordrängendes und seinerseits bedrängtes »Bergvolk«, welches »Milch und Honig«, die Produkte der Bergabhänge, schätzt. Es ist ihnen, als ein »Aisymnet« (im hellenischen Sinn): »Moses«, ihnen das »Gesetz« gibt, erst teilweise gelungen, die größeren kanaanäischen Städte in den Flußtälern zu erobern. Ihre Macht liegt dem Schwerpunkt nach in den vom Stamme Joseph okkupierten Bergtälern, von wo aus sie – wie Aitoler und Samniten – in die Ebenen vorbrechen und sie allmählich in ihre Gewalt bringen, dabei abwechselnd in die Botmäßigkeit der philistäischen oder anderer Stadtkönige gelangend und sie abschüttelnd, überdies von den von Osten her sie bedrängenden Wüstenstämmen bedrückt und ihnen oft tributpflichtig. Ganz abgesehen aber von der Frage der Realität ihres Aufenthaltes in Aegypten, als Fronbauern eines der pharaonischen »Diensthäuser« (Exod. 20, 1: eine recht gute Kenntnis der ägyptischen Verhältnisse – selbst der Titel Josephs ist historisch – seitens der Verfasser dieser Partien steht völlig fest, beweist aber bei der Nähe des Landes natürlich an sich nichts), – ist der Einfluß der lange vor ihrem Auftreten bestehenden syrischen Stadtkultur unverkennbar. Das »Gesetz« setzt nicht nur ein ansässiges, ackerbautreibendes Volk voraus, sondern es fehlt auch jede Spur von Kollektivbesitz. Auch der Grund und Boden ist voll appropriiert, wenn schon, wenigstens normalerweise, nur intrafamiliares Verkehrsobjekt. Das Bestehen der Blutrache, die in Athen nach einer nicht sicheren, aber wenigstens auch nicht unmöglichen, Annahme erst Drakon beseitigt haben soll, ist gewiß kein Beweis für »primitive« Zustände. Ebenso nicht die Festsetzung der Bußen in Vieh, die in Griechenland und Rom tief in die historische Zeit hineinragt und weniger der absoluten Seltenheit, als dem Schwanken des jeweiligen Vorrats von Edelmetallen entspricht: die Pflicht, unbedingt auf Verlangen in Geld zahlen zu müssen, ist, wie bei den Sumerern und in Babylon unter Hammurabi, so in Athen unter Solon und zu jeder Zeit überhaupt, das, was dem Bauern gefährlich und verhaßt ist. Das »Gesetz« zeigt in charakteristischer Weise jenes Streben nach einer Verbindung von Festigung der guten alten patriarchalen Sitte mit den Interessen von bäuerlichen Schuldnern, welches auch allen »Gesetzgebern« des Okzidents, heißen sie Zaleukos, Charondas, Pittakos oder Solon, gemeinsam ist. Der Dekalog verordnet (an nicht rein religiösen Pflichten) die Elternpietät, Achtung vor fremder Ehe, Verwerflichkeit des Totschlags und Diebstahls, Sicherung des Rechtsganges und der bona fides im Alltagsverkehr (das Nicht-»Machinieren«, – wie Merx es ausdrückt, – gegen den Besitz anderer), endlich – das Originellste und Folgenschwerste –: Innehaltung der Sabbatruhe und ihre Gewährung an Arbeiter, Sklaven, Vieh. An rein »sozialpolitische« Quellen dieser letzteren, weitaus am lautesten von der schon damals gewaltigen Macht religiöser Rücksichten zeugenden, Vorschrift zu denken, wäre natürlich unangängig, obwohl das Gebot unzweifelhaft auch – aber eben nicht: nur – den Schuldsklaven zugute kam. Aber die Einzelausführungen dieser, epigrammatisch im Dekalog vorausgeschickten, Gedanken im »Gesetz« zeigen, daß der Schutz der Gemeinfreien gegen die Folgen der Besitz- und Machtdifferenzierung jedenfalls ein sehr stark hervortretendes Leitmotiv der Gesetzgebung ist. Dahin gehören vor allem 1. die zeitliche Begrenzung der Schuldsklaverei des Israeliten, 2. sein Schutz gegen gewalttätige Versklavung, 3. eine gewisse Sicherung der Ehe von Freien mit Sklaven (d.h. wesentlich; Schuldsklaven, wie der Text ergibt), 4. ebenso: der zur Frau gekauften Israelitin gegen Gleichbehandlung mit gewöhnlichen Kaufsklavinnen, 5. Schutz der (Schuld-)Sklaven gegen schwere, vor allem tödliche, Körperverletzung durch den Herrn, 6. der Schutz gegen Schaden durch Vieh: – da der Viehbesitz Hauptbestandteil des aristokratischen Besitzes ist, liegt hier das antike Pendant unserer »Wildschaden«-Kontroversen vor (daß gegen das Vieh die Rache geübt wird wie gegen den Menschen, ist vielen alten Rechten gemeinsam und steckt als Rest in der altrömischen Schadenersatzpflicht, wenn das Vieh »contra naturam sui generis« Schaden zufügt: der moderne Mensch würde das gerade Umgekehrte erwarten und das jüdische Gesetz ist im Grunde »moderner«). 7. »Bauernschutz« ist auch die Pfändungsschranke (Freiheit der Kleidung des Schuldners) und 8. die späterhin zum »Zinsverbot« sich auswachsende Mahnung, die Strenge des geschäftlichen Schuldrechts nicht gegen Volksgenossen walten zu lassen. 9. Die Regelung des Mord- und Blutrechts und der Grundsätze des Kriminal-, das heißt: des Vergeltungsrechts überhaupt – wobei aber anscheinend noch keine dauernd geregelte Existenz einer zur Judikatur bestimmten Instanz vorausgesetzt ist – gehört natürlich hier ebenfalls, wie in allen antiken, »Gesetzgebungen«, unter die Kategorie: Schutz der Gemeinfreien gegen die infolge der differenzierenden Verkehrswirtschaft steigende Uebermacht der reichen Ratsadelssippen. – Die Bestimmungen, welche die Beugung des Rechts sowohl zugunsten der Reichen als auch (ausdrücklich) zugunsten der Armen verbieten, entsprachen einem Zustand, bei dem ein Gesetzgeber den Gegensatz der Klassen durch vermittelndes Eingreifen beseitigen will, wie bei den meisten »Gesetzgebern« des Altertums. Deutlich aber zeigt die nachdrückliche Mahnung: die Metöken nicht zu bedrücken, die Wirkungen des nahe bei und zum Teil quer durch das Siedelungsgebiet der Israeliten gehenden Handelsverkehrs. Selbstverständlich ist auch das Edelmetallgeld dem Gesetze sehr wohl bekannt, wie aus ihm selbst hervorgeht. Daß es in den Bestimmungen eine geringe Rolle spielt, liegt in erster Linie in der Verkehrstechnik und der daraus folgenden rechtlichen Behandlung des Geldes im alten Orient überhaupt begründet; daneben könnte ja recht wohl gerade in der Erhaltung der naturalwirtschaftlichen Tradition der Bauernschaft die »sozialpolitische« Seite der Gesetzgebung liegen. Ob das Gebot: den Acker im siebenten Jahre unbestellt zu lassen, in irgendeiner Form je einem ernstlich gemeinten Gesetz angehört hat, erscheint sachlich naturgemäß problematisch. Dieses »Sabbatjahr« präsentiert sich in der ältesten Fassung (Exod. 23, 10. 11.) auch als eine Vorschrift zugunsten der »Armen«, – d.h. hier: der Landlosen –, welche in diesem Jahr die Früchte des Ackers sollten genießen dürfen. Allein jeder Versuch, die Vorschrift in der uns heute vorliegenden Formulierung ihres utopistischen Charakters zu entkleiden und, sei es landwirtschaftstechnisch, sei es sozialpolitisch (etwa als ursprünglich an den Pfandbesitzer gerichtet zugunsten des – wie so oft in Babylon und offenbar auch in Athen – auf dem Pfandstück als Kolon sitzenden Schuldners, oder allgemein als Pachtremission