Sigmund Freud

Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe


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Affektion für das heranwachsende Kind. Sie ist von der Natur eines vollbefriedigenden Liebesverhältnisses, das nicht nur alle seelischen Wünsche, sondern auch alle körperlichen Bedürfnisse erfüllt, und wenn sie eine der Formen des dem Menschen erreichbaren Glückes darstellt, so rührt dies nicht zum mindesten von der Möglichkeit her, auch langst verdrängte und pervers zu nennende Wunschregungen ohne Vorwurf zu befriedigen. In der glücklichsten jungen Ehe verspürt es der Vater, daß das Kind, besonders der kleine Sohn, sein Nebenbuhler geworden ist, und eine tief im Unbewußten wurzelnde Gegnerschaft gegen den Bevorzugten nimmt von daher ihren Ausgang.

      Als Leonardo auf der Höhe seines Lebens jenem selig verzückten Lächeln wieder begegnete, wie es einst den Mund seiner Mutter bei ihren Liebkosungen umspielt hatte, stand er längst unter der Herrschaft einer Hemmung, die ihm verbot, je wieder solche Zärtlichkeiten von Frauenlippen zu begehren. Aber er war Maler geworden, und so bemühte er sich, dieses Lächeln mit dem Pinsel wieder zu erschaffen, und er gab es allen seinen Bildern, ob er sie nun selbst ausführte oder unter seiner Leitung von seinen Schülern ausführen ließ, der Leda, dem Johannes und dem Bacchus. Die beiden letzten sind Abänderungen desselben Typus. Muther sagt: »Aus dem Heuschreckenesser der Bibel hat Leonardo einen Bacchus, einen Apollino gemacht, der, ein rätselhaftes Lächeln auf den Lippen, die weichen Schenkel übereinander geschlagen, uns mit sinnbetörendem Auge anblickt.« Diese Bilder atmen eine Mystik, in deren Geheimnis einzudringen man nicht wagt; man kann es höchstens versuchen, den Anschluß an die früheren Schöpfungen Leonardos herzustellen. Die Gestalten sind wieder mannweiblich, aber nicht mehr im Sinne der Geierphantasie, es sind schöne Jünglinge von weiblicher Zartheit mit weibischen Formen; sie schlagen die Augen nicht nieder, sondern blicken geheimnisvoll triumphierend, als wüßten sie von einem großen Glückserfolg, von dem man schweigen muß; das bekannte berückende Lächeln läßt ahnen, daß es ein Liebesgeheimnis ist. Möglich, daß Leonardo in diesen Gestalten das Unglück seines Liebeslebens verleugnet und künstlerisch überwunden hat, indem er die Wunscherfüllung des von der Mutter betörten Knaben in solch seliger Vereinigung von männlichem und weiblichem Wesen darstellte.

      V. KAPITEL

       Inhaltsverzeichnis

       Unter den Eintragungen in den Tagebüchern Leonardos findet sich eine, die durch ihren bedeutsamen Inhalt und wegen eines winzigen formalen Fehlers die Aufmerksamkeit des Lesers festhält:

      Er schreibt im Juli 1504:

      »Adì 9 di Luglio 1504 mercoledi a ore 7 morì Ser Piero da Vinci, notalio al palazzo del Potestà, mio padre, a ore 7. Era d’età d’anni 80, lasciò 10 figlioli maschi e 2 femmine.«

      Die Notiz handelt also vom Tode des Vaters Leonardos. Die kleine Irrung in ihrer Form besteht darin, daß die Zeitbestimmung »a ore 7« zweimal wiederholt wird, als hätte Leonardo am Ende des Satzes vergessen, daß er sie zu Anfang bereits hingeschrieben. Es ist nur eine Kleinigkeit, aus der ein anderer als ein Psychoanalytiker nichts machen würde. Vielleicht würde er sie nicht bemerken, und auf sie aufmerksam gemacht, würde er sagen: Das kann in der Zerstreutheit oder im Affekt jedem passieren und hat weiter keine Bedeutung.

      Der Psychoanalytiker denkt anders; ihm ist nichts zu klein als Äußerung verborgener seelischer Vorgänge; er hat längst gelernt, daß solches Vergessen oder Wiederholen bedeutungsvoll ist, und daß man es der »Zerstreutheit« danken muß, wenn sie den Verrat sonst verborgener Regungen gestattet.

      Wir werden sagen, auch diese Notiz entspricht, wie die Leichenrechnung der Caterina, die Kostenrechnungen der Schüler, einem Falle, in dem Leonardo die Unterdrückung seiner Affekte mißglückte und das lange Verhohlene sich einen entstellten Ausdruck erzwang. Auch die Form ist eine ähnliche, dieselbe pedantische Genauigkeit, die gleiche Vordringlichkeit der Zahlen.

      Wir heißen eine solche Wiederholung eine Perseveration. Sie ist ein ausgezeichnetes Hilfsmittel, um die affektive Betonung anzuzeigen. Man denke zum Beispiel an die Zornesrede des heiligen Petrus gegen seinen unwürdigen Stellvertreter auf Erden in Dantes Paradiso:

      »Quegli ch’usurpa in terra il luogo mio,

       Il luogo mio, il luogo mio, che vaca

       Nella presenza del Figliuol di Dio,

      Fatto ha del cimiterio mio cloaca.«

      Ohne Leonardos Affekthemmung hätte die Eintragung im Tagebuch etwa lauten können: Heute um 7 Uhr starb mein Vater, Ser Piero da Vinci, mein armer Vater! Aber die Verschiebung der Perseveration auf die gleichgültigste Bestimmung der Todesnachricht, auf die Sterbestunde, raubt der Notiz jedes Pathos und läßt uns gerade noch erkennen, daß hier etwas zu verbergen und zu unterdrücken war.

      Ser Piero da Vinci, Notar und Abkömmling von Notaren, war ein Mann von großer Lebenskraft, der es zu Ansehen und Wohlstand brachte. Er war viermal verheiratet, die beiden ersten Frauen starben ihm kinderlos weg, erst von der dritten erzielte er 1476 den ersten legitimen Sohn, als Leonardo bereits 24 Jahre alt war und das Vaterhaus längst gegen das Atelier seines Meisters Verrocchio vertauscht hatte; mit der vierten und letzten Frau, die er bereits als Fünfziger geheiratet hatte, zeugte er noch neun Söhne und zwei Töchter.

      Gewiß ist auch dieser Vater für die psychosexuelle Entwicklung Leonardos bedeutsam geworden, und zwar nicht nur negativ, durch seinen Wegfall in den ersten Kinderjahren des Knaben, sondern auch unmittelbar durch seine Gegenwart in dessen späterer Kindheit. Wer als Kind die Mutter begehrt, der kann es nicht vermeiden, sich an die Stelle des Vaters setzen zu wollen, sich in seiner Phantasie mit ihm zu identifizieren und später seine Überwindung zur Lebensaufgabe zu machen. Als Leonardo, noch nicht fünf Jahre alt, ins großväterliche Haus aufgenommen wurde, trat gewiß die junge Stiefmutter Albiera an die Stelle seiner Mutter in seinem Fühlen, und er kam in jenes normal zu nennende Rivalitätsverhältnis zum Vater. Die Entscheidung zur Homosexualität tritt 144 bekanntlich erst in der Nähe der Pubertätsjahre auf. Als diese für Leonardo gefallen war, verlor die Identifizierung mit dem Vater jede Bedeutung für sein Sexualleben, setzte sich aber auf anderen Gebieten von nicht erotischer Betätigung fort. Wir hören, daß er Prunk und schöne Kleider liebte, sich Diener und Pferde hielt, obwohl er nach Vasaris Worten »fast nichts besaß und wenig arbeitete«; wir werden nicht allein seinen Schönheitssinn für diese Vorlieben verantwortlich machen, wir erkennen in ihnen auch den Zwang, den Vater zu kopieren und zu übertreffen. Der Vater war gegen das arme Bauernmädchen der vornehme Herr gewesen, daher verblieb in dem Sohne der Stachel, auch den vornehmen Herrn zu spielen, der Drang »to out-herod Herod«, dem Vater vorzuhalten, wie erst die richtige Vornehmheit aussehe.

      Wer als Künstler schafft, der fühlt sich gegen seine Werke gewiß auch als Vater. Für Leonardos Schaffen als Maler hatte die Identifizierung mit dem Vater eine verhängnisvolle Folge. Er schuf sie und kümmerte sich nicht mehr um sie, wie sein Vater sich nicht um ihn bekümmert hatte. Die spätere Sorge des Vaters konnte an diesem Zwange nichts ändern, denn dieser leitete sich von den Eindrücken der ersten Kinderjahre ab, und das unbewußt gebliebene Verdrängte ist unkorrigierbar durch spätere Erfahrungen.

      Zur Zeit der Renaissance bedurfte jeder Künstler – wie auch noch viel später – eines hohen Herrn und Gönners, eines Padrone, der ihm Aufträge gab, in dessen Händen sein Schicksal ruhte. Leonardo fand seinen Padrone in dem hochstrebenden, prachtliebenden, diplomatisch verschlagenen, aber unsteten und unverläßlichen Lodovico Sforza, zubenannt: il Moro. An seinem Hofe in Mailand verbrachte er die glänzendste Zeit seines Lebens, in seinen Diensten entfaltete er am ungehemmtesten die Schaffenskraft, von der das Abendmahl und das Reiterstandbild des Francesco Sforza Zeugnis ablegten. Er verließ Mailand, ehe die Katastrophe über Lodovico Moro hereinbrach, der als Gefangener in einem französischen Kerker starb. Als die Nachricht vom Schicksal seines Gönners Leonardo erreichte, schrieb er in sein Tagebuch: »Der Herzog verlor sein Land, seinen Besitz, seine Freiheit, und keines der Werke, die er unternommen, wurde zu Ende geführt.« Es ist merkwürdig und gewiß nicht bedeutungslos, daß er hier gegen seinen Padrone den nämlichen Vorwurf erhob, den die Nachwelt gegen ihn wenden sollte, als wollte er eine Person aus der Vaterreihe dafür verantwortlich machen, daß er selbst seine Werke unvollendet