Aviatik, die in unseren Zeiten endlich ihr Ziel erreicht, ihre infantile erotische Wurzel.
Indem uns Leonardo eingesteht, daß er zu dem Problem des Fliegens von Kindheit an eine besondere persönliche Beziehung verspürt hat, bestätigt er uns, daß seine Kinderforschung auf Sexuelles gerichtet war, wie wir es nach unseren Untersuchungen an den Kindern unserer Zeit vermuten mußten. Dies eine Problem wenigstens hatte sich der Verdrängung entzogen, die ihn später der Sexualität entfremdete; von den Kinderjahren an bis in die Zeit der vollsten intellektuellen Reife war ihm das nämliche mit leichter Sinnesabänderung interessant geblieben, und es ist sehr wohl möglich, daß ihm die gewünschte Kunst im primären sexuellen Sinne ebensowenig gelang wie im mechanischen, daß beide für ihn versagte Wünsche blieben.
Der große Leonardo blieb überhaupt sein ganzes Leben über in manchen Stücken kindlich; man sagt, daß alle großen Männer etwas Infantiles bewahren müssen. Er spielte auch als Erwachsener weiter und wurde auch dadurch manchmal seinen Zeitgenossen unheimlich und unbegreiflich. Wenn er zu höfischen Festlichkeiten und feierlichen Empfängen die kunstvollsten mechanischen Spielereien verfertigte, so sind nur wir damit unzufrieden, die den Meister nicht gern seine Kraft an solchen Tand wenden sehen; er selbst scheint sich nicht ungern mit diesen Dingen abgegeben zu haben, denn Vasari berichtet, daß er ähnliches machte, wo kein Auftrag ihn dazu nötigte: »Dort (in Rom) verfertigte er einen Teig von Wachs und formte daraus, wenn er fließend war, sehr zarte Tiere, mit Luft gefüllt; blies er hinein, so flogen sie, war die Luft heraus, so fielen sie zur Erde. Einer seltsamen Eidechse, welche der Winzer von Belvedere fand, machte er Flügel aus der abgezogenen Haut anderer Eidechsen, welche er mit Quecksilber füllte, so daß sie sich bewegten und zitterten, wenn sie ging; sodann machte er ihr Augen, Bart und Hörner, zähmte sie, tat sie in eine Schachtel und jagte alle seine Freunde damit in Furcht.« Oft dienten ihm solche Spielereien zum Ausdruck inhaltschwerer Gedanken: »Oftmals ließ er die Därme eines Hammels so fein ausputzen, daß man sie in der hohlen Hand hätte halten können; diese trug er in ein großes Zimmer, brachte in eine anstoßende Stube ein paar Schmiedeblasebälge, befestigte daran die Därme und blies sie auf, bis sie das ganze Zimmer einnahmen und man in eine Ecke flüchten mußte. So zeigte er, wie sie allmählich durchsichtig und von Luft erfüllt wurden, und indem sie, anfangs auf einen kleinen Platz beschränkt, sich mehr und mehr in den weiten Raum ausbreiteten, verglich er sie dem Genie.« Dieselbe spielerische Lust am harmlosen Verbergen und kunstvollen Einkleiden bezeugen seine Fabeln und Rätsel, letztere in die Form von »Prophezeiungen« gebracht, fast alle gedankenreich und in bemerkenswertem Maße des Witzes entbehrend.
Die Spiele und Sprünge, die Leonardo seiner Phantasie gestattete, haben in einigen Fällen seine Biographen, die diesen Charakter verkannten, in argen Irrtum gebracht. In den Mailänder Manuskripten Leonardos finden sich zum Beispiel Entwürfe zu Briefen an den »Diodario von Sorio (Syrien), Statthalter des heiligen Sultan von Babylonia«, in denen Leonardo sich als Ingenieur einführt, der in diese Gegenden des Orients geschickt wurde, um gewisse Arbeiten auszuführen, sich gegen den Vorwurf der Trägheit verteidigt, geographische Beschreibungen von Städten und Bergen liefert und endlich ein großes Elementarereignis schildert, das dort in Leonardos Anwesenheit vorgefallen ist.
J. P. Richter hat im Jahre 1883 aus diesen Schriftstücken zu beweisen gesucht, daß Leonardo wirklich im Dienste des Sultans von Ägypten diese Reisebeobachtungen angestellt und selbst im Orient die mohammedanische Religion angenommen habe. Dieser Aufenthalt sollte in die Zeit vor 1483, also vor der Übersiedlung an den Hof des Herzogs von Mailand fallen. Allein der Kritik anderer Autoren ist es nicht schwer geworden, die Belege für die angebliche Orientreise Leonardos als das zu erkennen, was sie in Wirklichkeit sind, phantastische Produktionen des jugendlichen Künstlers, die er zu seiner eigenen Unterhaltung schuf, in denen er vielleicht seine Wünsche, die Welt zu sehen und Abenteuer zu erleben, zum Ausdruck brachte.
Ein Phantasiegebilde ist wahrscheinlich auch die »Academia Vinciana«, deren Annahme auf dem Vorhandensein von fünf oder sechs höchst künstlich verschlungenen Emblemen mit der Inschrift der Akademie beruht. Vasari erwähnt diese Zeichnungen, aber nicht die Akademie. Müntz, der ein solches Ornament auf den Deckel seines großen Leonardowerkes gesetzt hat, gehört zu den wenigen, die an die Realität einer »Academia Vinciana« glauben.
Es ist wahrscheinlich, daß dieser Spieltrieb Leonardos in seinen reiferen Jahren schwand, daß auch er in die Forschertätigkeit einmündete, welche die letzte und höchste Entfaltung seiner Persönlichkeit bedeutete. Aber seine lange Erhaltung kann uns lehren, wie langsam sich von seiner Kindheit losreißt, wer in seinen Kinderzeiten die höchste, später nicht wieder erreichte, erotische Seligkeit genossen hat.
VI. KAPITEL
Es wäre vergeblich, sich darüber zu täuschen, daß die Leser heute alle Pathographie unschmackhaft finden. Die Ablehnung bekleidet sich mit dem Vorwurf, bei einer pathographischen Bearbeitung eines großen Mannes gelange man nie zum Verständnis seiner Bedeutung und seiner Leistung; es sei daher unnützer Mutwillen, an ihm Dinge zu studieren, die man ebensowohl beim erstbesten anderen finden könne. Allein diese Kritik ist so offenbar ungerecht, daß sie nur als Vorwand und Verhüllung verständlich wird. Die Pathographie setzt sich überhaupt nicht das Ziel, die Leistung des großen Mannes verständlich zu machen; man darf doch niemand zum Vorwurf machen, daß er etwas nicht gehalten hat, was er niemals versprochen hatte. Die wirklichen Motive des Widerstrebens sind andere. Man findet sie auf, wenn man in Erwägung zieht, daß Biographen in ganz eigentümlicher Weise an ihren Helden fixiert sind. Sie haben ihn häufig zum Objekt ihrer Studien gewählt, weil sie ihm aus Gründen ihres persönlichen Gefühlslebens von vornherein eine besondere Affektion entgegenbrachten. Sie geben sich dann einer Idealisierungsarbeit hin, die bestrebt ist, den großen Mann in die Reihe ihrer infantilen Vorbilder einzutragen, etwa die kindliche Vorstellung des Vaters in ihm neu zu beleben. Sie löschen diesem Wunsche zuliebe die individuellen Züge in seiner Physiognomie aus, glätten die Spuren seines Lebenskampfes mit inneren und äußeren Widerständen, dulden an ihm keinen Rest von menschlicher Schwäche oder Unvollkommenheit und geben uns dann wirklich eine kalte, fremde Idealgestalt anstatt des Menschen, dem wir uns entfernt verwandt fühlen könnten. Es ist zu bedauern, daß sie dies tun, denn sie opfern damit die Wahrheit einer Illusion und verzichten zugunsten ihrer infantilen Phantasien auf die Gelegenheit, in die reizvollsten Geheimnisse der menschlichen Natur einzudringen.
Leonardo selbst hätte in seiner Wahrheitsliebe und seinem Wissensdrange den Versuch nicht abgewehrt, aus den kleinen Seltsamkeiten und Rätseln seines Wesens die Bedingungen seiner seelischen und intellektuellen Entwicklung zu erraten. Wir huldigen ihm, indem wir an ihm lernen. Es beeinträchtigt seine Größe nicht, wenn wir die Opfer studieren, die seine Entwicklung aus dem Kinde kosten mußte, und die Momente zusammentragen, die seiner Person den tragischen Zug des Mißglückens eingeprägt haben.
Heben wir ausdrücklich hervor, daß wir Leonardo niemals zu den Neurotikern oder »Nervenkranken«, wie das ungeschickte Wort lautet, gezählt haben. Wer sich darüber beklagt, daß wir es überhaupt wagen, aus der Pathologie gewonnene Gesichtspunkte auf ihn anzuwenden, der hält noch an Vorurteilen fest, die wir heute mit Recht aufgegeben haben. Wir glauben nicht mehr, daß Gesundheit und Krankheit, Normale und Nervöse, scharf voneinander zu sondern sind und daß neurotische Züge als Beweise einer allgemeinen Minderwertigkeit beurteilt werden müssen. Wir wissen heute, daß die neurotischen Symptome Ersatzbildungen für gewisse Verdrängungsleistungen sind, welche wir im Laufe unserer Entwicklung vom Kinde bis zum Kulturmenschen zu vollbringen haben, daß wir alle solche Ersatzbildungen produzieren, und daß nur die Anzahl, Intensität und Verteilung dieser Ersatzbildungen den praktischen Begriff des Krankseins und den Schluß auf konstitutionelle Minderwertigkeit rechtfertigen. Nach den kleinen Anzeichen an Leonardos Persönlichkeit dürfen wir ihn in die Nähe jenes neurotischen Typus stellen, den wir als »Zwangstypus« bezeichnen, sein Forschen mit dem »Grübelzwang« der Neurotiker, seine Hemmungen mit den sogenannten Abulien derselben vergleichen.
Das Ziel unserer Arbeit war die Erklärung der Hemmungen in Leonardos Sexualleben und in seiner künstlerischen Tätigkeit. Es