zehn Pfund zu essen zuviel, zwei aber zuwenig sind, so wird ihm der Leiter in der Ringschule nicht gerade sechs Pfund vorschreiben; denn möglicherweise ist auch dies noch für denjenigen, der es bekommen soll, zuviel oder zuwenig. Für einen Milo wäre es zuwenig, für einen, der mit den Übungen erst beginnt, aber zuviel. Ebenso ist es mit Lauf und Ringkampf. Und so meidet denn jeder vernünftige Mensch das Zuviel und das Zuwenig und sucht dagegen die Mitte herauszufinden, und für diese entscheidet er sich; die Mitte aber, das heißt hier nicht die der Sache, sondern das Mittlere in bezug auf uns.
Bedenkt man also, daß alle vernünftige Einsicht in dieser Weise ihre Aufgabe zur Befriedigung vollzieht, indem sie sich nach der Mitte umtut und ihre Tätigkeiten auf sie einrichtet, / weshalb man auch wohlvollzogenen Leistungen das Prädikat erteilt, man dürfe weder etwas davon wegnehmen, noch etwas hinzufügen, weil sowohl das Zuviel als das Zuwenig das rechte Maß verletzt, die glückliche Mitte aber es innehält; / bedenkt man ferner, daß tüchtige Werkleute, wie wir behaupten, ihre Arbeit so verrichten, daß sie eben darauf ihr Augenmerk haben; bedenkt man endlich, daß sittliche Tüchtigkeit, ebenso wie auch die Natur, noch peinlicher und sorgfältiger zuwege geht als jede Art von technischer Leistung: so wird es die rechte Mitte sein, worauf die sittliche Tüchtigkeit als auf ihr Ziel gerichtet ist.
Was ich dabei im Auge habe, ist die Tüchtigkeit in sittlicher Beziehung: denn bei dieser handelt es sich um Affekte und um Handlungsweisen, und da gibt es ein Zuviel, ein Zuwenig und eine rechte Mitte. So gibt es bei der Furcht und bei der Kühnheit, beim Begehren und Fliehen, beim Zürnen und Sicherbarmen, und ganz allgemein bei allen Gefühlen der Lust und Unlust ein Zuviel und ein Zuwenig, und das beides nicht als das Rechte. Dagegen solche Gefühle zu hegen zu der Zeit, aus dem Grunde, der Person gegenüber, zu dem Zwecke und in der Weise, wie es geboten ist, das ist die rechte Mitte, das ist das Beste, und es ist eben dies als charakteristisch für die sittliche Beschaffenheit. Und ebenso gibt es ein Zuviel und Zuwenig und eine rechte Mitte auch für die Handlungen, Um Affekte und Handlungen aber dreht sich das sittliche Leben, wo das Zuviel ein Fehler, das Zuwenig ein Vorwurf ist, die rechte Mitte dagegen sich Lob erringt und das Angemessene bedeutet. Dies beides aber ist bezeichnend für sittliche Tüchtigkeit. Mithin ist sittliche Tüchtigkeit ein Innehalten der rechten Mitte, und die rechte Mitte hat sie zum Ziele. Das Verfehlen ferner ist vielgestaltig; denn das Böse hat die Natur des Grenzenlosen, wie schon die Pythagoreer meinten, das Gute dagegen die Natur des Begrenzten. Das Rechthandeln dagegen ist eingestaltig. Darum ist jenes leicht, dieses aber schwer. Leicht ist es, das Ziel zu verfehlen, schwer, es zu treffen. Darum ist das Zuviel und das Zuwenig für die unsittliche, die rechte Mitte dagegen für die sittliche Haltung bezeichnend.
»Redliche sind einfach, Schlechte von mancherlei Art«.
4. Fertigkeit und rechtes Maß
Somit ist denn sittliche Willensbeschaffenheit die zur Fertigkeit der Selbstentscheidung gewordene Gesinnung, die jedesmal für das Subjekt angemessene Mitte innezuhalten, wie sie gedankenmäßig bestimmt ist und wie der Mann von vollkommener Einsicht sie bestimmen würde.
Mitte ist sie als zwischen zwei Irrwegen liegend, von denen der eine ein Überschreiten, der andere ein Zurückbleiben hinter dem Maß bedeutet; sie ist es auch dadurch, daß das Verfehlen das eine Mal ein Nichterreichen, das andere Mal ein Hinausgehen über das Pflichtgemäße in Affekten wie in Handlungen bedeutet, die Sittlichkeit aber die rechte Mitte findet und innehält. Ihrem Wesen und Begriffe nach, der das bleibende gestaltende Prinzip bezeichnet, ist also Sittlichkeit das Innehalten der Mitte. Fragt man dagegen nach dem Werte und dem Guten überhaupt, so bezeichnet sie darin ein Äußerstes.
Nicht jede Handlung freilich und nicht jeder Affekt läßt ein Mittleres zu. Bei manchen deutet schon gleich der Name auf Verwerflichkeit hin; so bei Schadenfreude, Schamlosigkeit, Neid, und von den Handlungen bei Ehebruch, Diebstahl, Mord. Alles dieses und dem Ähnliches tadelt man, weil es an sich verwerflich ist, und nicht erst das Übermaß darin oder das Mindermaß, und hier gibt es denn auch niemals ein richtiges Handeln, sondern immer nurein Verfehlen. Bei dergleichen handelt es sich auch nicht um die Frage des richtigen oder falschen Verhaltens, etwa mit wem, zu welcher Zeit und in welcher Weise man Ehebruch treiben soll, sondern irgend etwas dahin Gehöriges tun bedeutet schon ohne weiteres eine Verfehlung. Es ist ganz ebenso, wenn man nach einer rechten Mitte, nach einer Überschreitung des Maßes und einem Zurückbleiben hinter demselben sich umsehen wollte in der Gewalttat, in der Feigheit, in der Zuchtlosigkeit. Denn damit würde es eine rechte Mitte beim Übermaß und beim Zurückbleiben, ein Übermaß beim Übermaß, und ein Zurückbleiben beim Zurückbleiben geben. Aber wie die Besonnenheit und Mannhaftigkeit nicht ein Übermaß noch eine Mangelhaftigkeit zuläßt, weil die Mitte hier im Grunde ein Äußerstes ist, so gibt es auch für jene Verhaltungsweisen weder eine rechte Mitte noch ein Überschreiten oder ein Zurückbleiben hinter dem Maße; sondern wie auch gehandelt wird, es ist immer ein Verfehlen. Denn in Übermaß und Mangelhaftigkeit gibt es überhaupt keine rechte Mitte und ebensowenig in der rechten Mitte ein Übermaß und eine Mangelhaftigkeit.
Indessen, es gilt nicht bloß diese allgemeinen Bestimmungen anzugeben, es gilt auch sie an den einzelnen Erscheinungen durchzuführen. Denn wo es sich um die Fragen des tätigen Lebens handelt, da erweisen sich die allgemeinen Grundsätze als verhältnismäßig leer und die besonderen Anwendungen als das Inhaltsvollere. Denn alle Tätigkeit bewegt sich in den Einzelheiten der Erscheinung, und die Aufgabe ist, sich mit diesen in Einklang zu halten. Dazu nun soll die hier vorgenommene Aufstellung die Anleitung geben.
Für Furchtsamkeit und Kühnheit bildet die Mannhaftigkeit die rechte Mitte. Was hier die Überschreitung des Maßes anbetrifft, so gibt es für den, der an Furcht zuwenig hegt, wie in vielen anderen Fällen sonst, keinen besonderen Ausdruck; dagegen wer kühn ist im Übermaß heißt verwegen, und wer an Furcht zuviel, an Kühnheit zuwenig hat, der heißt feige.
Wo es sich um Genuß und Schmerz handelt, freilich nicht um jede Art davon, und insbesondere nicht um jede Art von Schmerz, da bildet die rechte Mitte die Besonnenheit, und das Überschreiten des Maßes heißt Ausgelassenheit. Solche, die in der Genußsucht hinter dem Maß zurückbleiben, werden nicht eben häufig gefunden. Man hat deshalb auch für sie keinen Ausdruck geprägt; vielleicht darf man sie unempfänglich, stumpf nennen.
In Geldangelegenheiten beim Geben und Nehmen bildet die rechte Mitte die Vornehmheit, das Überschreiten des Maßes und das Zuwenigtun Verschwendungssucht und Knickerei. Beide zeigen ein Übermaß und einen Mangel, nur beides in entgegengesetzter Richtung. Der Verschwender geht zu weit beim Ausgeben und nicht weit genug beim Erwerb; der Knickrige geht zu weit beim Erwerb und nicht weit genug beim Ausgeben. Für jetzt bezeichnen wir das alles nur im Umriß und ganz im allgemeinen und lassen es daran genug sein; an späterer Stelle werden wir darüber genauere Bestimmungen geben. Es kommen aber dem Gelde gegenüber noch andere Verhaltungsformen in Betracht, als rechte Mitte die Hochherzigkeit; zwischen dem Hochherzigen und dem Vornehmen besteht der Unterschied, daß es sich bei jenem um große, bei diesem um kleinere Summen handelt; das Überschreiten des Maßes aber heißt Protzentum und Plebejertum, das Zurückbleiben hinter dem Maße Unanständigkeit. Ein Unterschied besteht auch zwischen diesen Eigenschaften und denen, die die vornehme Gesinnung bezeichnen; welches dieser Unterschied ist, soll später dargelegt werden.
Für das Verhalten zu Ansehen und Geringschätzung bildet die rechte Mitte die Hochgesinntheit, das Überschreiten des Maßes etwa das, was man Großtuerei nennt, und das Zurückbleiben hinter dem Maß Niedrigkeit. Wir haben vorher das Verhältnis der Vornehmheit zur Hochherzigkeit dadurch bezeichnet, daß es sich bei jener um kleine Summen handelt; so steht auch der Hochgesinntheit, die auf hohe Ehren gerichtet ist, eine Gesinnung gegenüber, die sich auf geringere Ehren richtet. Denn es kann ebensowohl vorkommen, daß man nach Ansehen strebt so wie es recht ist, wie daß man mehr oder weniger als recht ist danach strebt. Wer in seinem Streben danach das Maß überschreitet, heißt ehrsüchtig; wer dahinter zurückbleibt, heißt gleichgültig; für den, der die rechte Mitte innehält, fehlt es an einem