Aristoteles

Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst


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      Denn das eine der Extreme ist das mehr, das andere das weniger Fehlerhafte. Da nun die rechte Mitte zu treffen äußerst schwierig ist, so heißt es im Sprichwort, man müsse, wenn man die Fahrt zum zweiten Male macht, das kleinere Übel wählen, und das wird am ehesten in der bezeichneten Weise geschehen. Man muß sehen, in welche Richtung uns die eigene Neigung lenkt; denn den einen treibt seine Natur nach der, den anderen nach jener Richtung. Das aber läßt sich aus den Gefühlen der Lust und Unlust entnehmen, die in uns rege werden; und dann müssen wir uns in die entgegengesetzte Richtung wenden. Wenn wir uns von dem was fehlerhaft ist recht weit entfernen, dann werden wir zur rechten Mitte gelangen, gerade wie man es macht, wenn man krummes Holz gerade biegen will. Überall aber muß man am meisten vor dem auf der Hut sein was uns zusagt und vor der Lust daran; denn dabei ist unser Urteil nicht unbestochen. Wie die Volksältesten der Helena gegenüber empfanden, so müssen auch wir uns unserer Neigung gegenüber verhalten und uns durchweg ihren Ausspruch zum Wahlspruch machen. Denn wenn wir die Neigung in gleicher Weise heimschicken, werden wir minder irre gehen.

      Indem wir so verfahren, werden wir im ganzen und großen am ehesten imstande sein, die rechte Mitte zu treffen. Gewiß ist das schwierig, und am schwierigsten den Einzelfällen des Lebens gegenüber. Es ist nicht leicht genau anzugeben, in welcher Weise, wem gegenüber, bei welchem Anlaß und wie lange Zeit man sich dem Zorne überlassen soll. So rühmen auch wir zuweilen diejenigen die darin zu wenig tun und nennen sie sanftmütig, während wir ein anderesmal den schwer Zürnenden charaktervoll nennen. Wer vom Richtigen nur wenig abweicht, sei es nach der Seite des Zuviel oder des Zuwenig, der erfährt keinen Tadel, dagegen wohl der, der stärker abweicht; denn dieser entgeht nicht der Beobachtung. Aber bei welcher Grenze, bei welchem Quantum das Tadelnswerte anfängt, das läßt sich nicht so leicht begrifflich genau feststellen, wie es ja auch sonst bei Gegenständen der Erfahrung der Fall ist. Dergleichen gehört zu den Einzelfällen des Lebens, und das Urteil darüber ist Sache des unmittelbaren Gefühles. So viel also ist klar, daß überall das Innehalten der rechten Mitte Beifall verdient, daß aber wo eine Abweichung nötig wird, sie bald nach der Seite des Zuviel, bald nach der des Zuwenig stattzufinden hat. Denn auf diese Weise wird man am ehesten dazu gelangen, die Mitte und das Richtige zu treffen.

      II. Das freie und das unfreie Handeln

       Inhaltsverzeichnis

       1. Zwang und Irrtum

       2. Vorsatz und Überlegung

       3. Der Willensinhalt

       4. Das freie Wollen

      1. Zwang und Irrtum

       Inhaltsverzeichnis

      Da der sittliche Charakter sich in dem Verhalten gegenüber den Eindrücken der Gegenstände und in der tätigen Einwirkung auf die Gegenstände zeigt; da ferner frei gewollte Handlungen zu Lob oder Tadel, nicht frei gewollte Handlungen zur Nachsicht, bisweilen sogar zum Mitleid Anlaß geben: so ist es für den Forscher über die Fragen des sittlichen Lebens eine unumgängliche Aufgabe, die frei gewellten und die nicht frei gewellten Handlungen gegeneinander abzugrenzen; zugleich aber ist es eine Hilfeleistung für den Gesetzgeber, schon in Hinsicht auf die Zuerkennung von Ehrenerweisungen und Strafen.

      Als nicht frei gewollt gilt das, wozu jemand durch Zwang oder durch Irrtum veranlaßt wird. Durch Zwang bewirkt ist eine Handlung, deren bewegende Ursache außerhalb des Handelnden liegt. Dahin gehören zunächst solche Handlungen, bei denen derjenige, der etwas bewirkt oder erleidet. Überhaupt nicht mittätig ist; z.B. wenn jemanden ein Luftstoß fortträgt, oder auch wenn Menschen, die ihm zu befehlen haben, ihn zu etwas drängen. Wenn dagegen etwas getan wird aus Furcht vor einem größeren Übel oder aus Liebe zu einem wertvollen Gute / z.B. ein Machthaber, der über jemandes Eltern und Kinder Gewalt hat, befiehlt ihm etwas Schändliches zu tun, mit der Bestimmung, daß sie am Leben bleiben, falls er gehorcht, und den Tod erleiden müssen, falls er nicht gehorcht, / da kann man im Zweifel sein, ob die Handlung frei gewollt ist oder nicht. Ähnlich liegt der Fall, wo im Sturm Güter über Bord geworfen werden. Denn ohne weiteres wirft niemand sein Hab und Gut ins Meer; zur eigenen Rettung dagegen wie zu der der anderen tut es jeder Verständige. Solche Handlungen tragen somit gemischten Charakter, sie stehen aber den frei gewellten näher. Denn, wo man dergleichen tut, da geschieht es mit Vorsatz; die Absicht dabei aber ist allerdings durch den äußeren Anlaß auferlegt.

      Die Bezeichnung als frei gewollt oder nicht frei gewollt kommt der Handlung also zu je nach der Situation, in der sie geschieht. Man handelt dabei frei; denn der Antrieb für die Bewegung der Glieder die als Werkzeuge dienen liegt bei derartigen Handlungen im handelnden Subjekt. Wo aber der Antrieb im Handelnden liegt, da steht es auch bei ihm, die Tat zu vollziehen oder nicht zu vollziehen, und so ist denn dergleichen gewollt, allerdings schlechthin und eigentlich nicht gewollt. Denn an und für sich würde niemand dergleichen zu tun sich vorsetzen. Für Handlungen von dieser Art erlangt man bisweilen sogar Beifall, wenn man etwas Widerwärtiges und Schmerzliches um eines bedeutsamen und hohen Zieles wegen auf sich nimmt, und man erfährt Tadel im umgekehrten Falle. Denn der müßte schon ein erbärmlicher Mensch sein, der das Schimpflichste auf sich nähme, ohne daß es durch ein hohes oder auch nur angemessenes Ziel gerechtfertigt würde.

      Dann gibt es weiter Fälle, wo man, wenn auch kein beifälliges, so doch ein nachsichtiges Urteil erlangt, wenn nämlich bei einer sonst pflichtwidrigen Handlung das Motiv das ist, solchem zu entgehen, was über menschliche Kraft hinausgeht und was nicht leicht jemand auf sich nimmt. Es gibt allerdings auch solches, wozu sich zwingen zu lassen verwerflich ist, und wo es geboten ist eher zu sterben und das Furchtbarste zu erdulden. Denn solche Gründe, wie sie für Alkmäon beim Euripides den Zwang enthalten sollen zum Muttermörder zu werden, erscheinen geradezu lächerlich.

      Zuweilen ist es schwer zu entscheiden, welche Handlungsweise einer einzuschlagen hat, und ob das Ziel sie rechtfertigt, oder was einer über sich ergehen lassen soll, und ob der Preis es wert ist; noch schwieriger aber ist es, nachdem man darüber ins klare gekommen ist, es nun auch durchzuführen. Denn in der Regel ist, was man zu erwarten hat, schmerzlich, und was zu tun die Not gebietet, abstoßend, und so wird einem denn Beifall oder Vorwurf zuteil, das eine Mal, wenn man dem Zwange nachgibt, und das andere Mal, wenn man ihm widersteht.

      Was sind es also für Handlungen, die man auf einen Zwang zurückführen darf? Doch wohl ohne weiteres jede, bei der die Ursache draußen liegt und der Handelnde gar nicht mit tätig ist. Solche Handlungen dagegen, die an und für sich nicht frei gewollt sind, zu denen man sich aber in einer gegebenen Situation und um eines bestimmten Zieles willen entschließt, so daß der bewegende Antrieb für sie doch im Handelnden liegt, / diese sind an und für sich nicht frei gewollt, aber doch im gegebenen Augenblick und um jenes Zieles willen frei gewollt: sie zeigen daher eine größere Verwandtschaft mit den frei gewollten Handlungen. Denn alles Handeln geschieht unter ganz singulären Umständen, und mit Rücksicht auf diese sind jene Handlungen gewollt. Dagegen eine Regel darüber, wie beschaffen das Ziel sein muß, um diese bestimmte Handlungsweise rechtfertigen zu können, läßt sich nicht leicht geben; denn jede einzelne Situation ist von jeder anderen gründlich verschieden. Wollte dagegen jemand dem, was Lust bereitet oder dem sittlich Angemessenen zwingende Macht zuschreiben, / denn sie übten als Äußeres eine Nötigung, / dann allerdings wären alle Handlungen erzwungen. Denn die genannten sind die allgemeinen Motive des Handelns für alle. Eine Handlung, die einer gezwungen und wider Willen tut, die ist ihm auch schmerzlich; dagegen was man um der Annehmlichkeit und um der sittlichen Angemessenheit willen tut, das ist dem Handelnden erfreulich. Es ist also töricht, die äußeren Umstände, und nicht vielmehr sich selber deshalb anzuklagen, weil man schwach genug ist, sich durch dergleichen verlocken zu