widerrechtlich vergangen hat.
Zweitens aber, versteht man unter einem ungerechten Menschen einen solchen, der bloß widerrechtlich handelt, ohne doch sonst eine widerrechtliche Gesinnung zu haben, so ist es auch in diesem Sinne nicht möglich sich selbst Unrecht zu tun. Hier liegt die Sache anders als vorher. Der Ungerechte ist etwa in dem Sinne ein schlechter Mensch wie es der Feigling ist, nicht als hätte er alle möglichen Arten von Schlechtigkeit an sich; also tut er auch nicht in diesem Sinne sich selbst Unrecht. Denn dann müßte immer einem und demselben Menschen ein und dasselbe zugleich weggenommen und zuerteilt werden können. Das aber hat keinen Sinn; sondern wo von gerechter und ungerechter Zuerteilung die Rede sein soll, da muß sie notwendig immer unter einer Mehrheit von Personen stattfinden. Es muß ferner die Handlung frei gewollt, vorsätzlich und ohne Herausforderung geschehen sein. Denn wer tätig wird aus dem Grunde, weil er Unrecht erfahren hat, und in der Absicht dieses zu vergelten, der, meint man, tut kein Unrecht. Wer aber sich selbst Unrecht täte, würde in einer und derselben Person dasselbe Unrecht, was er zufügt, auch erleiden. Weiter aber müßte es dann auch möglich sein, mit Willen Unrecht zu erleiden. Außerdem, niemand fügt Unrecht zu, ohne daß seine Handlung eine besondere Art von rechtswidrigen Handlungen darstellte; es treibt aber niemand Ehebruch mit seiner eigenen Frau oder bricht in sein eigenes Haus ein oder bestiehlt sich selbst. Überhaupt, auch die Frage, ob jemand sich selbst Unrecht tun kann, findet ihre Beantwortung auf Grund der Entscheidung darüber, ob jemand mit seinem Willen Unrecht erleiden kann.
Augenscheinlich nun ist beides übel, Unrecht leiden und Unrecht zufügen. Das eine bedeutet so viel wie weniger, das andere wie mehr empfangen als die rechte Mitte gebietet; dieser rechten Mitte entspricht das was in der Heilkunst der gesunde, in der Gymnastik der kräftige Körper bedeutet. Aber Unrecht zufügen ist doch das Schlimmere. Denn Unrecht zufügen beweist einen sittlichen Mangel und erregt Mißbilligung; dieser sittliche Mangel ist entweder ein vollständiger und uneingeschränkter, oder er grenzt doch daran; denn nicht alles mit Willen begangene Unrecht deutet auf eine rechtswidrige Gesinnung. Dagegen beweist Unrecht leiden keinen sittlichen Mangel noch rechtswidrige Gesinnung. An und für sich ist also Unrecht leiden das geringere Übel; doch hindert nichts, daß begleitende Umstände es zum größeren Übel machen. Indessen, das geht die wissenschaftliche Behandlung des Gegenstandes nichts an. Diese erklärt eine Lungenentzündung für eine schwerere Erkrankung als eine Verletzung durch einen Stoß; gleichwohl kann dieser durch zufällige Komplikation zum schlimmeren Übel werden; es kann sich etwa treffen, daß einer durch den Stoß zu Falle kommt und infolgedessen von den Feinden gefangen genommen oder getötet wird.
Nur in übertragenem Sinne, nur im Sinne der Analogie kann die Rede davon sein, daß jemand gegen sich selbst gerecht sei. Nicht er selber ist gerecht gegen sich selbst, er ist es vielmehr nur gegen gewisse Seiten seiner Persönlichkeit, und gerecht auch so nicht in jeder Bedeutung, sondern gerecht nur wie ein Herr gegen den Sklaven oder wie ein Hausvater gegen seine Kinder. Bei Überlegungen von dieser Art unterscheidet man in der Seele den vernünftigen Teil von dem vernunftlosen, und wenn man die Sache so ansieht, dann läßt sich allerdings verstehen, wie es ein Unrecht geben kann gegen die eigne Person. Denn dann gibt es eine Möglichkeit, daß diese verschiedenen Seelenteile der eine etwas von dem anderen erleiden, was ihrem eigenen Antriebe widerspricht. So gebe es also, sagt man, ein Gerechtes auch für diese, wie es ein Gerechtes gibt im gegenseitigen Verhältnis zwischen dem Herrschenden und dem Beherrschten.
So mag denn die Frage nach der Gerechtigkeit und den anderen Formen sittlicher Willensrichtung auf diese Weise ihre Beantwortung gefunden haben.
II. Teil. Das sittliche Subjekt
I. Verstandesbildung
1. Der Intellekt und seine Vermögen
3. Die Formen intellektueller Betätigung
5. Intellektuelle Bildung und Sittlichkeit
1. Der Intellekt und seine Vermögen
Wir haben oben auseinandergesetzt, daß die sittliche Aufgabe darin besteht, die rechte Mitte innezuhalten und ebenso das Zuviel wie das Zuwenig zu meiden, daß aber diese Mitte zu finden Sache rechten Denkens ist. Wir haben mithin jetzt dieses letztere genauer zu bestimmen. In allen den Formen sittlicher Willensbestimmtheit, von denen die Rede gewesen ist, gibt es gerade so wie auch bei anderen Eigenschaften ein Ziel, auf das hinblickend das Subjekt vermittels des Vermögens der Vernunft seine Kräfte anspannt oder nachläßt. Und so gibt es denn auch eine begriffliche Bestimmung für jeden Fall der richtigen Mitte, die, wie wir gesehen haben, indem sie der rechten Vernunft entspricht, zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig liegt, indessen, wenn die Fassung des Satzes auch an sich zutreffend ist, so hat sie doch keineswegs schon ein hinlängliches Maß von Genauigkeit. Auch auf anderen Gebieten menschlicher Tätigkeit, für die es eine wissenschaftliche Regel gibt, ist es ganz ebenso die gültige Wahrheit, daß man in der Anwendung seiner Kräfte wie in der Zerstreuung weder zuviel noch zuwenig tun, sondern das Mittelmaß innehalten soll, so wie es der rechten Vernunft entspricht. Wenn aber einer bloß diesen Satz innehätte, so wäre er deshalb um nichts klüger; er wäre in derselben Lage, wie wenn einer auf die Frage, was man seinem Leibe zugute tun müsse, die Antwort erhielte: alles was die ärztliche Kunst und was der Mann, der diese Kunst besitzt, verordnet. Es ist darum zu fordern, daß auch hier, wo es sich um die geistigen Beschaffenheiten handelt, das was man vorbringt nicht bloß richtig sei, sondern daß es auch begrifflich völlig bestimmt bezeichnet werde, was denn nun die rechte Vernunft ist und was ihre begriffliche Bestimmung enthält.
Als wir von den verschiedenen Formen rechter geistiger Beschaffenheit handelten, da haben wir solche unterschieden, die die Willensbeschaffenheit, und solche, die den Intellekt betreffen. Diejenigen, die die Willensbeschaffenheit betreffen haben wir durchgegangen; von den übrigen wollen wir im folgenden handeln, aber zuvor einige Bemerkungen über die Seele überhaupt vorausschicken.
Wir haben oben bemerkt, daß es in der Seele zwei Gebiete gibt, das eine, das mit Vernunft ausgestattet ist, und das andere, von dem dies nicht gilt. Jetzt müssen wir in gleicher Weise das mit Vernunft ausgestattete Gebiet weiter einteilen. Als Grundlage mag uns gelten, daß es in diesem vernunftbegabten Teil zwei Unterteile gibt, einen, vermittels dessen wir diejenigen Arten der Gegenstände betrachten, deren Prinzipien kein Anderssein zulassen, und eines, vermittels dessen wir das erfassen was auch anders sein könnte. Das Objekt, das seiner ganzen Art nach ein anderes ist, das wird auch von einem seiner Art nach anderen Vermögen der Seele erfaßt werden müssen, das seiner Natur nach auf das eine der beiden Gebiete angelegt ist, wenn doch Erkenntnis im Sinne einer Angleichung und einer Verwandtschaft zwischen beiden verstanden wird. So mag denn das eine von diesen Vermögen das Erkenntnisvermögen, das andere das Reflexionsvermögen genannt werden. Denn sich etwas überlegen und über etwas reflektieren bedeutet dasselbe, niemand aber stellt Überlegungen an über das was gar nicht anders sein kann. Mithin ist das Vermögen zu reflektierender eine Bestandteil des mit Vernunft ausgestatteten Seelenteils. Die Aufgabe ist demnach die, zu bestimmen, welches die beste Verfassung eines jeden dieser beiden Seelenvermögen ist. Denn das würde seine rechte Beschaffenheit bedeuten; die rechte Beschaffenheit eines Gegenstandes aber wird sich nach dem richten, was die eigentümliche