Aristoteles

Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst


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der Eingriff in fremdes Recht wider das was man voraussehen konnte, so ist es ein bloßer Unfall. Geschieht sie nicht wider solche mögliche Voraussicht, aber doch ohne rechtswidrige Gesinnung, so ist es Fahrlässigkeit; denn ein fahrlässiges Vergehen liegt vor, wo der Anstoß zum Kausalverlauf vom Täter, ein Unfall, wo er von einem Äußeren stammt. Hat er mit Bewußtsein, aber ohne Vorbedacht gehandelt, so ist es ein Unrecht von der Art, wie man es im Zorne und in sonstigen Affekten begeht, die einen Menschen mit Notwendigkeit oder doch der menschlichen Natur gemäß befallen. Wenn man in dieser Weise andere schädigt und sich vergeht, so tut man zwar unrecht und begeht einen Eingriff in fremdes Recht; aber man ist deshalb noch kein Mensch von widerrechtlicher und auch nicht von niedriger Gesinnung; denn die Schädigung ist nicht aus niedriger Gesinnung hervorgegangen. Geschieht sie dagegen mit Vorbedacht, dann zeigt der Täter eine widerrechtliche und niedrige Gesinnung. Mit Recht beurteilt man darum Handlungen im Affekt nicht als vorbedachte; denn der schuldige Teil ist hier nicht eigentlich der der im Affekte handelt, sondern der den Affekt hervorgerufen hat. Dabei wird nun ferner auch nicht über den Tatbestand gestritten, sondern über die Frage, ob der Täter recht getan hat. Denn in Zorn gerät man über eine vermeintlich erfahrene Verletzung. Da streiten nicht, wie bei Rechtsgeschäften, die Parteien, von denen die eine, falls sie nicht aus reiner Vergeßlichkeit handeln, notwendig schlechtgläubig ist, über den Tatbestand; sondern während man über die Sachlage gleicher Meinung ist, streitet man darüber, auf welcher Seite das Recht liegt. Wo einer auf Schädigung des anderen ausgeht, ist Irrtum ausgeschlossen; dort aber glaubt der eine in seinem Rechte geschädigt zu sein, während der andere es bestreitet. Wenn einer vorsätzlich den andern schädigt, dann handelt er unrechtlich, und solchen unrechtlichen Handlungen zufolge ist derjenige der sie begeht ein unrechtlich gesinnter Mann, sofern er in seiner Handlungsweise gegen die Gleichheit nach Proportion oder gegen die einfache Gleichheit verstößt; und ebenso ist einer ein rechtlich gesinnter Mann, wenn sein Vorsatz ausdrücklich darauf gerichtet ist, das Recht innezuhalten. Dagegen dazu daß er das Recht innehält gehört nur dies, daß er frei wollend handelt.

      Unter den nicht frei gewollten Handlungen sind solche, denen man eine nachsichtige Beurteilung gewährt, andere, denen man sie versagt. Die Verstöße gegen das Recht, die nicht bloß im Irrtum, sondern auf Grund des Irrtums begangen werden, verdienen solche Nachsicht; diejenigen, die man nicht auf Grund des Irrtums, sondern zwar im Irrtum, aber auf Grund eines Affektes begeht, der weder naturgemäß noch einem Menschen zuzutrauen ist, erlangen solche nachsichtige Beurteilung nicht.

      d) Unrecht gegen den Einwilligenden

       Inhaltsverzeichnis

      Eine Schwierigkeit könnte man darin finden, ob die Begriffe Unrecht erleiden und Unrecht tun hinlänglich genau bestimmt worden sind, und zunächst ob ein Fall denkbar ist, wie Euripides ihn schildert, der sich seltsam genug so ausdrückt:

      Die eigne Mutter tötet' ich, ein kurzes Wort!

       Wollend gleich ihr? nicht wollend die nicht wollende?

      Denn ist es wirklich möglich, mit seinem Willen schuldvolles Unrecht zu leiden? Oder geschieht es nicht vielmehr immer wider Willen, gerade wie andererseits das schuldvolle unrechtliche Handeln immer mit Willen geschieht? Und sollte es sich damit immer auf diese oder jene Weise verhalten, so daß es immer gewollt oder nicht gewollt wäre, wie das unrechtliche Handeln immer frei gewollt ist? oder ist es bald frei gewollt, bald nicht? Die gleiche Frage erhebt sich dann auch in dem Fall, wo einem sein Recht wird. Denn alle Erfüllung des Rechts geschieht frei wollend, und es liegt deshalb die Annahme nahe, daß der Gegensatz auf beiden Seiten der gleiche sei und daß ungerecht behandelt werden und sein Recht erhalten beides entweder frei gewollt oder nicht gewollt sei. Indessen scheint es undenkbar, auch da wo einem sein Recht wird, daß es einem immer mit seinem Willen geschehe; denn es kommt vor, daß einem sein Recht wird, ohne daß er es will.

      Weiter kann man auch die Frage aufwerten, ob jedem das Unrecht, das ihm widerfahren ist, durch eine unrechtliche Handlung widerfahren ist, oder ob es mit dem Erleiden eines Unrechtes ebenso ist wie mit dem Zufügen. Denn in beiden Fällen, ob einem Unrecht widerfährt oder ob einer es anderen zufügt: die Möglichkeit ist immer gegeben, daß man das Recht nur zufällig treffe oder erlange, und offenbar ist es beim Unrecht ganz ähnlich. Bedeutet doch in seinem Handeln das Recht verletzen nicht dasselbe, wie unrechtlich handeln, und Unrecht erfahren nicht dasselbe wie eine unrechtliche Handlung erleiden. Das gleiche gilt wo die Rechtsvorschrift erfüllt wird und wo einer sein Recht erlangt. Denn es ist unmöglich, daß einer eine unrechtliche Handlung erleide, wo nicht einer ist, der unrechtlich handelt, oder daß einer rechtlich behandelt werde, wo nicht einer da ist, der rechtlich verfährt. Bedeutet aber unrechtlich handeln ohne weiteres, frei wollend einen anderen an seinem Rechte kränken, und bedeutet dies frei wollend tun so viel wie es mit Kenntnis der Person, des Werkzeugs und der Art und Weise tun; schädigt ferner wer sich nicht zu beherrschen weiß sich selbst mit freiem Wollen: so würde dieser mit Willen Unrecht leiden, und mithin wäre es möglich, daß einer sich selbst Unrecht tue. Es ist aber auch dies eine der aufgeworfenen schwierigen Fragen, ob einer sich selbst Unrecht zuzufügen vermag, und andererseits könnte auch der Fall vorkommen, daß einer der sich nicht in der Gewalt hat, mit seinem Willen von einem anderen mit dessen Willen geschädigt wird, und so wäre es wieder möglich, mit Willen Unrecht zu leiden. Oder sollte etwa die Begriffsbestimmung des wissentlichen Unrechts nicht zutreffend sein, sondern sollte es noch des Zusatzes bedürfen, daß wenn einer mit Kenntnis der Person des Werkzeugs und der Art und Weise den andern schädigt, es auch noch gegen den Willen des anderen geschehen muß? Es kommt nun wohl vor, daß jemand mit Willen an seinem Recht geschädigt wird und Unrecht erleidet; aber niemand erleidet mit Willen eine unrechtliche Handlung. Denn niemand, auch nicht der Mensch ohne Selbstbeherrschung, hat den Willen, Unrechtliches zu erdulden; er handelt nur gegen seinen eigenen Willen. Denn niemand will etwas, dem er nicht einen Wert beilegt, und auch der Unenthaltsame tut bloß nicht, was er zu tun für geboten hält. Wer aber das Seinige weggibt, wie Homer erzählt daß Glaukos es dem Diomedes gegenüber getan habe, »Gold für Erz, was hundert an Wert, für solches was neun wert«, dem widerfährt kein Unrecht. Denn wohl steht es bei ihm fortzugeben; aber eine unrechtliche Behandlung zu erfahren, das steht nicht bei ihm; sondern dazu gehört, daß einer da sei, der eine unrechtliche Handlung begeht.

      e) Rechtliche Gesinnung

       Inhaltsverzeichnis

      Was also das Unrechtleiden anbetrifft, so leuchtet ein, daß man Unrecht nicht mit Willen leidet. Nun bleiben aber von dem was wir uns vorgesetzt haben, noch zwei Punkte zu erörtern. Handelt derjenige unrechtlich, der dem anderen mehr zuerteilt als ihm zukommt? oder der andere, der es empfängt? Und zweitens, ist es möglich, sich selbst Unrecht zu tun? Wenn nämlich möglich ist, was wir vorher bezeichnet haben, und wenn derjenige unrechtlich handelt, der dem anderen zuviel zuerteilt, und nicht derjenige, der es empfängt, so tut einer sich selbst Unrecht, wenn er mit Wissen und Wollen dem anderen von dem Seinigen zuviel zuerteilt. So aber verfahren, sollte man denken, gerade rechtlich gesinnte Leute; denn ein billig denkender Mann hat eher die Neigung, für sich zu wenig zu beanspruchen. Oder läßt sich auch das nicht so schlechthin sagen? Ein solcher Mann nimmt ja dafür von einem anderen Gute wo möglich mehr in Anspruch, etwa Ehre oder sonst ein an und für sich wertvolles Gut. Die Lösung liegt in dem was über den Begriff der unrechtlichen Handlung gesagt worden ist. Denn es widerfährt einem nichts wider den eigenen Willen; es ist also kein Unrecht was er deshalb erleidet, sondern wenn irgend etwas, dann doch immer nur eine Schädigung. Offenbar aber ist es jedesmal der Zuerteilende, der Unrecht tut, und nicht der zuviel Empfangende; denn nicht derjenige handelt unrechtlich, bei dem das was wider das Recht ist sich findet, sondern derjenige, bei dem sich der Wille findet, das Widerrechtliche zu tun; dies aber findet sich bei dem, dem die Urheberschaft der Handlung zukommt, und diese kommt dem Zuerteilenden zu und nicht dem Empfangenden.

      Ferner spricht man von einem Tun in mehrfachem Sinne. Man sagt von unbeseelten Dingen, daß sie töten; man sagt es von der Hand; man sagt es auch von dem Sklaven, der tut, was ihm sein Herr befohlen