Aristoteles

Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst


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muß man bezahlen was man schuldig ist; ist dagegen das was irgend jemandem sonst zu leisten ist der sittlichen Bedeutung nach oder des Zwanges der Lage wegen von überragendem Werte, so muß man sich nach dieser Seite hin entscheiden, ja, es kann vorkommen, daß es nicht einmal recht ist, empfangene Wohltaten zu vergelten. z.B. es kennt jemand einen anderen als einen Mann von ehrenhaftem Charakter und erweist ihm einen Dienst; dieser aber soll jenem nun das gleiche erweisen. Wirklich? auch dann wenn er von ihm die Überzeugung gewonnen hat, daß er ein Mensch von ganz unwürdiger Gesinnung ist? Und so soll man auch nicht einmal immer dem wieder borgen, von dem man geborgt hat; denn es kann sein, daß der eine einem ehrenhaften Manne ein Darlehen gegeben hat in der Überzeugung, daß er es wiederbekommen wird, der andere aber keine Aussicht hat von dem charakterlosen Menschen jemals etwas zurückzuerhalten. Verhält es sich nun so in Wirklichkeit, so ist der Anspruch nicht auf beiden Seiten der gleiche; verhält es sich aber in Wirklichkeit nicht so, und hat man nur die Meinung es verhalte sich so, so dürfte es immer noch nicht heißen, es sei wider das gesunde Gefühl gesündigt worden. Wie wir wiederholt dargelegt haben; Ausführungen, bei denen es sich um menschliche Gefühle und Handlungsweisen handelt, lassen nur das gleiche bescheidene Maß von Bestimmtheit zu, das auch diesen Gegenständen selber zukommt.

      Das also ist unzweifelhaft, daß man nicht allen dasselbe, und auch seinem Vater nicht alles zu leisten hat, wie man ja auch dem höchsten Gotte selber nicht alles opfert, und da die Pflicht den Eltern gegenüber eine andere ist als den Geschwistern, den Kollegen und den Wohltätern gegenüber, so ist die Aufgabe die, jeder Klasse das gerade ihr Gebührende und Angemessene zu erweisen. Und offenbar richtet man sich ja auch tatsächlich nach diesem Grundsatz. Zur Hochzeit lädt man seine Verwandten; denn diese sind von der gemeinsamen Abstammung und haben das gemeinsame Interesse an dem, was damit zusammenhängt. Aus demselben Grunde hält man dafür, daß auch bei Leichenbegängnissen die Verwandten zunächst zu erscheinen verpflichtet sind. Den Eltern Unterhalt zu gewähren, wird man für die nächste Pflicht halten, weil man dereinst denselben von ihnen empfangen hat, und weil ihn denen zu gewähren, denen wir das Dasein verdanken, höhere sittliche Bedeutung hat als in diesem Sinne für uns selber zu sorgen. Auch Ehre sind wir den Eltern gleichwie den Göttern schuldig, doch nicht unbedingt, nicht dieselbe dem Vater wie der Mutter, nicht die, die dem Manne von höchster geistiger Auszeichnung oder die dem Heerführer gebührt, sondern gerade die, die dem Vater und ebenso die der Mutter zukommt. So ist man auch jedem Manne in höherem Alter die Ehre schuldig, die seinen Jahren entspricht, indem man vor ihm aufsteht, ihm den Ehrenplatz einräumt und was dergleichen mehr ist. Kollegen wiederum und Geschwistern gegenüber gebührt Offenheit und Gemeinsamkeit in allen Stücken; Verwandten, Bezirksgenossen, Mitbürgern und allen anderen gegenüber gilt es immer den Versuch, jedem das Gebührende zu erweisen und das was jedem zukommt nach der Nähe der Beziehung, nach dem persönlichen Verdienst und nach dem Werte, den sie für uns haben, zu bemessen. Solches Bemessen ist leichter bei Stammesgenossen, mißlicher bei Fernstehenden. Aber darum darf man davon doch nicht abstehen, sondern muß eine Entscheidung treffen, so gut es geht.

      b) Die Auflösung freundschaftlicher Beziehungen

       Inhaltsverzeichnis

      Eine weitere Schwierigkeit bietet die Frage, ob man ein Freundschaftsverhältnis zu Leuten ohne Beständigkeit lösen soll oder nicht. Hat es irgend etwas Befremdliches, daß man eine Verbindung mit Leuten, die man um des Nutzens oder der Annehmlichkeit willen seiner Freundschaft würdigt, auflöst, wenn sie das nicht mehr gewähren, wessen man sich zu ihnen versehen hat? Hier galt die Zuneigung doch diesen Dingen, und blieben sie aus, so ist es ganz verständlich, daß auch die Zuneigung erlischt. Einen Vorwurf könnte man daraus nur dann ableiten, wenn einer, während seine Anhänglichkeit tatsächlich in der Aussicht auf Nutzen oder Annehmlichkeit wurzelt, doch so täte, als liebte er die Persönlichkeit um ihrer inneren Beschaffenheit willen. Denn, wie wir gleich zu Anfang gesagt haben, die meisten Zwistigkeiten erheben sich zwischen Freunden in dem Falle, wo das Band zwischen ihnen nicht die Begründung in Wirklichkeit hat, wie sie es sich vorstellen. Täuscht sich einer hierin und lebt er in dem Wahne, er werde um seiner Persönlichkeit willen geliebt, ohne daß der andere zu solcher Täuschung etwas beiträgt, so wird er die Schuld sich selber zuzuschreiben haben. Ist er dagegen durch die Verstellung des anderen in die Täuschung versetzt worden, so hat er ein Recht, sich über den Urheber seines Irrtums zu beklagen, und das weit mehr als über einen Falschmünzer, je mehr das durch solchen Frevel verletzte Gut an Wert höher steht als im letzteren Fall.

      Nimmt man aber den anderen für einen ehrenhaften Charakter, während er ein schlechter Mensch wird und sich auch als solcher erweist, soll man ihm dann auch noch die Freundschaft bewahren ? Oder ist das nicht vielmehr unmöglich, wenn doch nicht alles Gegenstand der Zuneigung ist, sondern nur das Gute? Ein schlechter Charakter verdient keine Zuneigung, und man soll sie ihm auch nicht gewähren. Man soll kein Freund des Bösen sein, noch sich dem niedrig Gesinnten gleichstellen. Oben haben wir gesagt, daß zwischen gleich und gleich Freundschaft herrscht. Soll man also die Verbindung auf der Stelle lösen? oder nicht in jedem Fall, sondern nur mit denjenigen, deren schlechter Charakter keine Aussicht auf Besserung gewährt? Ist es nicht eine weit höhere Pflicht, denjenigen, die einer Besserung noch fähig sind, zu ihrer Charakterbildung seinen Beistand zu leihen, als sie bloß in ihren äußeren Verhältnissen zu fördern ? Und das um so mehr, je mehr dies letztere eine edlere Handlungsweise bedeutet und wahrer Freundschaftsgesinnung in höherem Sinne entspricht? Indessen, wer das Band löst, von dem kann man doch nicht sagen, daß er etwas Ungehöriges tue. Galt doch seine Freundschaft nicht einem Menschen von dem Charakter, den er jetzt zeigt, und läßt er doch von seiner Gesinnung nur deshalb ab, weil er den Entfremdeten nicht wieder auf die rechte Bahn zu bringen vermag.

      Bleibt nun aber der eine, wie er ist, und bessert sich der andere in seinem Charakter so sehr, daß er jenen in sittlicher Haltung weit überragt, muß er ihn dann als Freund behandeln, oder verbietet sich ihm das als unmöglich? Wird der Abstand sehr groß, so tritt die Schwierigkeit am deutlichsten hervor; so bei Knabenfreundschaften. Bleibt der eine in seiner geistigen Entwicklung ein Knabe, während der andere zu einem Manne von besonderer Auszeichnung heranreift, wie könnten sie dann noch Freunde sein? Haben sie doch weder an denselben Dingen ein Gefallen, noch den Anlaß zu Freude oder Schmerz gemeinsam. Auch in ihrem gegenseitigen persönlichen Verhältnis werden sie nicht das gleiche empfinden, und ohne das, sagten wir, ist es unmöglich, befreundet zu sein, weil ein Zusammenleben unmöglich ist. Davon haben wir oben gesprochen. Muß man sich also zu dem andern in kein anderes Verhältnis stellen, als zu einem, zu dem man niemals freundschaftliche Beziehungen unterhalten hat? Oder soll man an der Erinnerung des dereinstigen vertrauten Umgangs festhalten, und so, wie wir meinen, Freunden mehr als Fremden entgegenkommen zu müssen, so auch dereinstigen Freunden um der früheren Freundschaft willen ein Zugeständnis machen, falls nicht durch einen besonders hohen Grad boshafter Gesinnung die völlige Trennung geboten ist?

      c) Selbstliebe und Nächstenliebe

       Inhaltsverzeichnis

      Man darf die Betätigungsweisen, in denen sich liebevolle Gesinnung darstellt, und dasjenige was ihren Begriff bezeichnet, als abgeleitet ansehen aus dem Verhältnis, in dem wir zu uns selber stehen. Unter einem uns liebevoll zugetanen Menschen versteht man doch einen solchen, der uns um unsertwillen alles, was gut ist oder was ihm so erscheint, zudenkt und ins Werk setzt, oder einen solchen, der für den, dem er in Liebe zugetan ist, rein um dessen selbst willen den Wunsch hegt, daß er dasei und lebe. So empfinden Mütter für ihre Kinder, so auch Freunde für einander, und das selbst dann, wenn sie durch einen Zwist völlig auseinander geraten sind. Einen Freund nennt man ferner den, der unser Leben teilt, der dieselben Dinge wie wir wert hält, der mit uns Leid und Freude gemein hat. Auch das ist in der Mutterliebe am meisten der Fall. Durch einen dieser Züge also charakterisiert man die Liebe, jedes dieser Merkmale gilt nun aber für einen Menschen von sittlicher Haltung im Verhältnis zu sich selbst, und für die übrigen gilt es gleichfalls, sofern sie solche Menschen zusein beanspruchen. Wie wir dargelegt haben, darf aber die sittliche Gesinnung und der sittlich tüchtige