Uschi Zietsch

Elfenzeit 8: Lyonesse


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»Dann habe ich nie Zeit verloren, nicht wahr? Ich kehre an meinen Ursprung zurück!«

      »So wie ich«, sagte der Getreue.

      »Und ist unsere Begegnung dann ein Zufall?«

      »Da müsste ich wiederum meinen Bruder fragen. Und er würde vermutlich sagen: nichts ist vorherbestimmt, und nichts geschieht zufällig.«

      »Was für ein Unsinn!«, meinte Kurus.

      »Er will damit ausdrücken«, sagte der Getreue ruhig, »dass es keine singulare Linearität gibt. So, wie die Menschen die Zeit wahrnehmen, ist es nur eine sehr beschränkte Sichtweise, die lediglich einen Ausschnitt des großen Ganzen erfasst.«

      »Und sie sind nicht in der Lage, mehr zu sehen?«

      »Nein. Aber du. Hör mir also weiter zu.«

      »Ja, Herr.«

      »Sei weiterhin ein braver, aufmerksamer und gelehriger Schüler.«

      »Danke, Herr.«

      Kurus galoppierte weiter, während das Gebirge immer schroffer und abweisender wurde. Nichts lebte hier mehr, nur selten streifte ein Geier hoch oben darüber hinweg, auf der Suche nach einem verirrten Tier. Aber nicht einmal Insekten fanden sich hier, alles war staubtrocken und tot.

      Die Ohren des Mantikors spielten, während er seinem Lehrmeister zuhörte. Der Tag neigte sich dem Ende zu, ging in dämmrige Kühle und schließlich sternglitzernde kalte Nacht über.

      »Ich habe Hunger«, beklagte Kurus sich unterwegs. »Meine Kräfte werden mich bald verlassen.«

      »Es ist kühl, da kannst du viel besser laufen«, erwiderte der Getreue. »Also schneller, umso eher kommst du an Nahrung.« Kurus war tatsächlich der Erschöpfung nahe, seine Flanken flogen, und die Muskeln zitterten. Aber sie durften jetzt keinesfalls anhalten, nicht hier im Gebirge in der Nacht. Die Ley-Linie war zu weit entfernt, um sie in Anspruch nehmen zu können, die Grenzen zwischen den Welten hingegen waren fast nicht mehr vorhanden.

      Doch ein Ende war abzusehen, allmählich ging es wieder abwärts, und die Ebene hinter dem Gebirge war als tiefschwarzes Band in der Tiefe erkennbar. Kurus entdeckte eine schmale Passage zwischen zwei Steilhängen, die ziemlich abschüssig war, aber seine Zehen und starken Krallen fanden genug Halt. Ab und zu löste er kleine Steinlawinen aus, die vor ihm den Weg hinab rutschten. Doch auch hinter ihnen und an den Steilhängen kamen die Felsen in Bewegung. Immer wieder knisterte es, dann stürzten größere Gesteinsbrocken herab.

      »Lauf schneller«, befahl der Getreue. »Das gefällt mir nicht.«

      »Ich kann nichts wittern«, sagte Kurus. Aber er gehorchte und beschleunigte, wobei er mehrmals gefährlich ins Rutschen und Schlingern geriet. Der Getreue achtete nicht darauf, er konnte das Ende des Gebirges jetzt deutlich erkennen, und trieb Kurus noch mehr an. Der Mantikor hatte einen Weg von Tagen in wenigen Stunden zurückgelegt. Sie konnten es schaffen.

      Doch schließlich waren sie gezwungen, anzuhalten. Direkt vor ihnen, an einer Verengung, stürzte plötzlich eine gewaltige Steinlawine herab. Die größten Brocken dabei hatten den Umfang eines Kinderrumpfes, die kleinsten entsprachen einer kindlichen Faust.

      »Was ist das?«, fragte Kurus ängstlich.

      »Steinmänner«, antwortete der Getreue.

      Und tatsächlich, die Steine blieben nach dem Sturz keinesfalls liegen, sondern sprangen wieder hoch, purzelten übereinander und fingen an, sich zusammenzusetzen. Groteske Geschöpfe wuchsen, mit vier Gliedmaßen und quaderförmigen Felshüten auf den runden Köpfen. Sogar Gesichter bildeten sich aus kleinen Steinchen darauf – Augen, Ohren, Mund und Nase. Es mochten Hunderte sein, die ihnen nun den Weg versperrten, teils gestapelt.

      »Soll ich einen anderen Weg suchen?«, fragte Kurus.

      »So funktioniert das nicht«, erwiderte der Getreue. »Außerdem haben sie uns eingekreist.«

      Es stimmte, im schwachen Mondlicht waren die Bewegungen schwankender Steine ringsum zu erkennen.

      Dann begannen sie zu sprechen, und es klang, als würden Steine gegeneinander gerieben oder geschlagen, klickend und knirschend. Es war sehr irritierend, ihnen zuzuhören, denn wer einen Satz begann, vollendete ihn nie. Die Worte kamen von allen Seiten und nicht unbedingt im selben Rhythmus und Tempo.

      »Was …«

      »… wollt ihr …«

      »… hier? Ihr habt …«

      »… keinen Durchgang.«

      »Stürzt euch …«

      »… die Felsen hinab!«

      Kurus versammelte sich unruhig. »Was haben die vor?«

      Der Getreue gab gleichmütig Auskunft: »Sie wollen uns zerschmettern, zerquetschen, auspressen, zu Brei verrühren und dann aufschlürfen.«

      Der junge Mantikor fing an zu zittern. »Aber ich schmecke bestimmt nicht gut!«

      »Wohl wahr. Du bist giftig. Das macht denen allerdings nichts aus. Nur an mir werden sie sich die Zähne ausbeißen, weil nicht viel dran ist … kaum Substanz und nur ein bisschen Krokodilsblut. Dennoch auch für mich ein sehr unangenehmer und schmerzhafter Tod, dem ich lieber entgehen möchte.«

      Die Steinmänner rückten näher und klickten gierig mit scharf gezackten Steinzähnen. Ihre Stimmen schwirrten durcheinander, dass nur einzelne Wortfetzen ausgemacht werden konnten, und kein Zusammenhang mehr.

      »Was tun wir jetzt?«, fragte Kurus.

      »Du bist ein Mantikor«, sagte der Getreue. »Laufe weiter und werfe jeden, der sich dir in den Weg stellt, in den Abgrund!«

      »Aber es sind so viele …«

      »Setze deine Pranken, deine prächtigen Zähne und den Skorpionschwanz ein! Dein Gift kann ihnen nichts anhaben, wohl aber die Wucht deines Schlages. Sie besitzen keine sehr stabilen Körper.«

      »Töten!«, schnarrten plötzlich viele Steinmänner unisono, und das Echo schallte vielfach verstärkt durchs Gebirge. »Töten! Töten! Töten!«

      »Los!«, schrie der Getreue und hieb die Beine in Kurus’ Seiten.

      Erschrocken machte Kurus einen Satz nach vorn, prallte auf die ersten Steinmänner und brach durch deren Front hindurch. Er brüllte auf, als Steinzähne nach ihm schnappten, Fell und Haut zusammenquetschten und Löcher hineinrissen. Sein Überlebenswille übernahm nun die Führung, sein Skorpionschwanz peitschte wild, und er schlug mit den Vordertatzen um sich, schnappte nach allem, was ihm zu nahe kam.

      Und es klappte! Überall wo er auf Widerstand traf, fegte er Steinköpfe herunter, zerschlug ganze Strukturen, dass die Figuren förmlich auseinanderplatzten und über den Felsgrat hinabregneten.

      »Weiter, weiter!«, befahl der Getreue. »Halte nicht inne!«

      »Aber ich …«

      »Das ist nur von kurzer Dauer. Eile dich, voran!«

      Kurus rannte weiter, obwohl der Weg immer steiler nach unten ging. Eine Felswand wich endgültig zurück, und der Pfad verwandelte sich in einen schmalen Grat, der erst am gegenüberliegenden Hang endete, dem letzten Berg vor der Ebene.

      Egal, wie viele Steinmänner als ungeordnete Felsbrocken hinabstürzten – was übrig blieb, setzte sich wieder zusammen und nahm die Verfolgung auf. Der Lärm war unbeschreiblich, als würden ganze Berge explodieren und ins Tal hinabpoltern.

      Der Getreue lenkte den Mantikor durch das Chaos, doch das Vorankommen wurde trotz der Riesenkräfte des magischen Geschöpfes immer schwieriger. Egal, wie viele Lawinen nach unten ausgelöst wurden, von oben regneten weitere herab und warfen sich ihnen in den Weg. Kurus blutete bereits aus vielen Wunden, und auch der Getreue musste sich heftiger Angriffe erwehren. Was von seiner Kutte übrig war, ging noch mehr in Fetzen, und er spürte die wütenden Bisse inzwischen deutlich.

      Kurus versuchte eine letzte verzweifelte