Uschi Zietsch

Elfenzeit 8: Lyonesse


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      »Du hast keine Ahnung, was in London abgeht, Alter. Überall ist es sicherer als dort.« Chad blickte zu Anne hoch. »Kannst du uns nicht helfen, weiterzukommen? Ich möchte gern in die Bretagne. Es heißt, dass Merlin wieder da ist und das Land beschützt, also ist das der beste Ort. Ich meine, er ist schließlich der mächtigste Zauberer, oder? Wir werden dort um Asyl bitten.« Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen. »Und, hilfst du uns?«

      »Vielleicht«, sagte Anne unbestimmt und schien zu überlegen. »Wenn ihr im Gegenzug uns helft. Findet heraus, was hier los ist. Ihr braucht nur zu beobachten, ohne euch einzumischen. Haltet Augen und Ohren offen. Wir kommen morgen Abend wieder.«

      »Ich tu mich aber fürchten«, sagte Rocky, und ein knirschendes Geräusch erklang, als seine Knie zu schlottern anfingen.

      Auf Annes Gesicht trat ein misstrauischer Ausdruck. »Also wisst ihr bereits etwas?«

      »Nein-nein«, beeilte sich Chad zu versichern. »Wirklich, wir haben nur ein Gespräch von zwei Sterblichen belauscht, und die haben was von einem Monster gefaselt, das hier unten leben soll … so eine typische dunkle Menschenmär, aber Rocky regt so was immer furchtbar auf. Er kriegt die Krise, wenn einer nur Gespenstergeschichten für Dreijährige erzählt …«

      Anne verdrehte die Augen, und Robert hatte Mühe, nicht laut herauszuplatzen. Passend dazu steckte Rocky den Zeigefinger in den Mund. Ihm war nicht bewusst, wie groß und stark er war, und auch nicht, was er als Troll für einen Schrecken in der Menschenwelt darstellte. Aber anscheinend kam er kaum mit ihnen in Berührung, geschweige denn, dass er sie aß, wie es Trolle üblicherweise taten. Vermutlich war er nicht gerade der Stolz seiner Mutter, und die war deswegen gewiss nicht wütend, sondern froh, ihn los zu sein.

      »Hör mal, Rocky, Chad passt schon auf, dass euch nichts passiert«, sagte er freundlich. »Und zieh nicht jedem gleich eins mit der Keule über, okay? Menschen vertragen das nicht so gut, und die sind hier wegen der anderen Sache aufgescheucht genug. Das könnte sie ziemlich gegen euch aufbringen.«

      »Uh, nee«, sagte Rocky erschrocken. »Ich tu die Keule weg!«

      »Behalte sie, aber setze sie nicht ein, und halte dich versteckt«, befahl Anne. »Bis morgen. Wir werden so gegen Mitternacht kommen, also haltet euch bereit. Und bis dahin erwarte ich Informationen, verstanden? Belauscht vor allem die Menschen.«

      »Ja, gut«, sagte Chad. »Können wir auf deinen Schutz hoffen?«

      Anne verdrehte erneut die Augen. »Ja, sicher. Wenn euch einer von uns bedroht, sagt ihm, ihr steht unter dem Schutz von Lan-an-Schie, der Tochter Sinenomens.«

      Dem Kobold fielen eine Menge Haare aus, als er das hörte, und Rocky stammelte unter Kniekirschen: »Uh-hu-hu.«

      »Ja, Herrin, zu Befehl, Herrin, alles, was Ihr wollt, Herrin«, stieß Chad zähneklappernd hervor, und dann sausten sie in die Dunkelheit davon.

      »Wow«, sagte Robert.

      »Ach, die beiden sind doch totale Versager und eine peinliche Parodie des Volkes«, erwiderte Anne. »Die kann man leicht beeindrucken.«

      »Ach so, solche gibt es nicht viele?«

      Sie seufzte, und er lachte.

      »Elfen sind eben auch nur Menschen«, kicherte er. »Das ist das, was ich so an euch mag.«

      »Beleidige uns nicht, Freundchen, auch in deinen Adern kreist nunmehr Elfenblut und Dämonenblut.«

      »Also ein ganz besonderes, das es nur einmal gibt«, schnurrte er.

      »Zurück zum Thema«, mahnte Anne. »Wie kommen wir jetzt an weitere Informationen? Ich glaube nicht, dass die beiden Schwachköpfe von Nutzen sein werden.«

      Robert nickte. »Die Sache mit der Mär von dem Monster hier unten hat mich auf eine Idee gebracht«, sagte er. »Nadjas Freund, dieser Tom, hat sie doch mit Nicholas Abe, dem Mystiker zusammengebracht.«

      Ihre Miene verfinsterte sich. »Um Informationen über mich zu beschaffen.«

      »Genau«, bestätigte er leichthin. »Jedenfalls erzählte sie mir damals, dass Abe sich mal mit einer Sache in München beschäftigt hat, wodurch Tom ihn kennenlernte. Vielleicht ist das der Punkt, anzuknüpfen.«

      »Also dann, auf zu Tom.«

      Von Nadja wusste Robert, dass Tom regelmäßig in ihrer Wohnung vorbeischaute. Er ging von sich aus, wann er selbst das tun würde – am Vormittag, damit der Tag nicht zu zerrissen war.

      Also legten die beiden sich ab zehn Uhr vor Nadjas Wohnung »auf die Lauer«. Anne hatte vorgeschlagen, drin zu warten – schließlich stellten verschlossene Türen kein Problem für sie dar, wie sich gerade an der Eingangstür unten gezeigt hatte –, aber Robert hatte empört abgelehnt: »Das tut man nicht.«

      Sie ließ sich auf keine längere Diskussion ein, sondern gab nach.

      Und tatsächlich, gegen elf Uhr kam ein Mann Anfang dreißig die Treppe herauf, mit blondem Haar, leichtem Bauchansatz und hellwachen, blauen Augen. Mit einem Schlüssel in der Hand steuerte er auf Nadjas Wohnungstür zu, und Robert und Anne stiegen die Treppe hinab zu ihm.

      Der Mann schien weder überrascht noch besorgt. Er musterte die beiden kurz und sagte dann: »Freut mich, Sie endlich kennenzulernen. Kommen Sie herein. Ich mache uns Kaffee, und wie der Zufall – oder die Vorsehung – so will«, er hielt die linke Hand mit einer Bäckertüte hoch, »habe ich auch etwas zum Naschen dabei.«

      Robert und Anne folgten Tom in die Wohnung. Robert stellte sofort fest, dass Nadjas Duft immer noch vorhanden war, obwohl sie seit Monaten nicht mehr hier gewesen war, und alles war ihm vertraut. Tom besorgte nicht nur die Post, er pflegte auch die Pflanzen und wischte Staub. Nichts wies daraufhin, dass Nadja nicht jeden Tag hier war. Bis auf den Umstand, dass es nie so ordentlich gewesen war, als sie noch hier gelebt hatte.

      »Machen Sie es sich bequem, wo Sie möchten«, forderte Tom sie auf, während er den Mantel aufhängte, in die Küche ging und die Espressomaschine einschaltete. Dann ging er ins Wohnzimmer, packte Nadjas Laptop aus, schloss ihn an und fuhr ihn hoch. »Es kommen ja kaum mehr Nachrichten, aber ab und zu eben doch«, erklärte er und sichtete die Briefpost, die er gesammelt in den Papierkorb warf. Dann überprüfte er die Mails, kehrte in die Küche zurück und kam kurz darauf mit einem Tablett ins Wohnzimmer, auf dem ein Teller mit allerlei Gebäck und drei mit Milchschaum gefüllte Becher standen.

      »Zucker?«

      »Nein, danke«, sagte Anne. »Ein vollkommener Gastgeber.« In ihrer Stimme lag keine Ironie.

      Tom grinste und setzte sich in den Sessel gegenüber dem Sofa, auf dem das Paar sich niedergelassen hatte. »Ich kenne mich hier inzwischen fast besser aus als in meiner eigenen Wohnung, und ich bin immer auf Überraschungsgäste eingerichtet.«

      »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Robert und holte sich seinen Becher vom Tablett, ließ ihn aber vor sich auf dem Tisch stehen.

      »Oh, Verzeihung«, entfuhr es Tom, der ihn dabei beobachtete. »Sie … Sie brauchen das ja gar nicht mehr, nicht wahr?« Interessiert und ohne Scheu musterte er Robert. Der kannte diesen Blick – ein Journalistenkollege durch und durch. »Daran … muss ich mich erst noch gewöhnen, obwohl ich inzwischen schon einige Elfen und Wesen der Anderswelt kennengelernt habe. Einschließlich Dämonen und … des Getreuen.« Ein Schatten fiel kurz über sein Gesicht, aber er fing sich schnell wieder und lächelte Robert auf herzliche Weise an.

      »Das ist schon in Ordnung«, sagte Robert höflich. »Ich kann diese Dinge zu mir nehmen …«

      »Aber bitte, machen Sie sich meinetwegen keine Umstände. Ich kann mir vorstellen, was anschließend damit passiert.«

      »Haben Sie denn gar keine Angst vor uns?«, fragte Anne.

      Tom lachte. »Nein. Sie sind Nadjas beste Freunde, und Sie haben sie und Talamh im Reich des Priesterkönigs beschützt.«

      Anne zeigte sich verblüfft. »Woher wissen Sie das?«