Falls sie es je tat. Bald mussten die Taucher raus, aber sie fanden selten etwas.
»Und ich bin, wie gesagt, fast ein Nachbar von Tobias, wohne gerade mal ein paar Häuser entfernt«, machte Bertram weiter.
»Aber wir sind alles alte Klassenkameraden. Wir haben verabredet, uns letzten Samstag zu treffen und ein bisschen zu feiern, weil es jetzt zwei Jahre her ist, dass wir mit der Volksschule fertig sind«, erläuterte ein Rothaariger mit schulterlanger Mähne näher. Wären da nicht die roten Bartstoppeln gewesen und die Tatsache, dass er sich als Aksel Møller Lund vorstellte, hätte er fast wie ein Mädchen gewirkt.
Miriam zupfte an einem Fleck auf ihrem Jackenärmel und nickte.
»Ihr habt ihn also mitten in der Nacht einfach allein und betrunken fortgehen lassen?« Mikkels Stimme war nicht ohne Empörung. Man vergisst schnell, wie es gewesen ist, als man selbst jung war.
»Ja, das wollte er so«, erwiderte Bertram.
»Und wir waren ja echt nicht weniger betrunken!«, fügte Aksel tonlos hinzu.
»Wir wollten weiter durch die Stadt ziehen, es war ja noch nicht sehr spät, aber Tobias wollte lieber heim, er ist nie auf Partys gewesen, also …« Trines Stimme war heiser, sie räusperte sich und nahm einen Schluck von ihrem Bier.
»Ich verstehe nicht, wie er einfach so verschwinden kann, er muss doch irgendwo sein«, murmelte Miriam. Sie schaute auch zum Fluss hinüber, aber mit einem leeren und gleichgültigen Ausdruck in den Augen.
»Wir haben heute alle extra die weiterführende Schule sausen lassen, damit wir suchen können. Jetzt haben wir die hier in der ganzen Innenstadt aufgehängt, damit uns die Leute helfen, ihn zu finden.« Bertram hielt einen der DIN-A4-Handzettel mit Tobias’ Foto vor Roland in die Höhe. »Außerdem hoffen wir, dass die Sendung heute Abend die Leute zum Helfen motiviert und …«
»Ja, und ich habe einen Suchaufruf bei Facebook gestartet«, unterbrach ihn Trine, »es sind schon fast zweitausend mit dabei.«
Die Journalistin trat an den Tisch und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. »Jetzt kommt das Kamerateam, wir müssen uns also fertigmachen. Wollen Sie dabei teilnehmen?«, fragte sie, den Blick auf Roland gerichtet.
Er nickte. »Wir haben ja nicht wirklich viele Informationen, aber es ist wichtig, dass wir eine präzise Suchmeldung rausgeben und all die Dinge vermitteln, die wir bisher wissen, daher … klar, selbstverständlich.«
Mikkel Jensen schaute ihn verwundert an. Die Presse war keine Instanz, mit der Roland normalerweise freiwillig zusammenarbeitete. Am liebsten hatte er das immer Vizepolizeidirektor Kurt Olsen überlassen. Aber nun hatte er erfahren, wie es ist, als Angehöriger zurückzubleiben und nicht zu wissen, was aus einem Familienmitglied geworden ist. Die nagende Furcht. Die schwindende Hoffnung. Es war so wichtig, dass die Leute sich an der Suche beteiligten, ihren Teil beitrugen, und es bestand ja vielleicht noch Hoffnung für Tobias Abrahamsen.
5
»Putzen?!«
Es hatte nicht so überrascht klingen sollen, wie es herauskam. Kamilla goss den Kaffee in die Thermoskanne. Es war lange her, dass sie Anne gesehen hatte. Eigentlich hatten sie sich nur einmal getroffen, seit Kamilla ihre Arbeit als Pressefotografin in der Redaktion des Tageblatts gekündigt hatte, um als Werbefotografin im Studio Pierre zu arbeiten – im Übrigen ein Glück für sie, da die Zeitungsredaktion einige Monate später ohnehin hatte schließen müssen, sodass alle, die dort gearbeitet hatten, plötzlich ohne Arbeit dastanden. Auch Anne hatte ihre Stelle als Journalistin und Kriminalreporterin verloren.
»Vielleicht im Polizeipräsidium?«, neckte Kamilla.
»Nein, bist du verrückt! Man braucht eine Genehmigung, um dort zu putzen. Die würde ich nie bekommen. Eine Journalistin, die in die Arbeit der Polizei hineingeschnüffelt und ihre Beamten mehr als einmal regelrecht auf die Palme gebracht hat! Dem würde Benito bestimmt einen Riegel vorschieben.«
»Ja, aber, putzen, bist das denn du, Anne?«
»Ich verstehe, dass du verwundert bist. Ich wollte eigentlich weiterstudieren, aber jetzt brauche ich einfach eine Pause – nach alldem mit meiner Mutter und so. Warum ist eine Reinigungskraft nicht genauso hoch angesehen wie ein Bankdirektor? Sie arbeiten beide. Wer von beiden mehr schuftet, kann man ja diskutieren. Wer im Verhältnis zu seinem Gehalt mehr leistet, ist jedenfalls offensichtlich. Von Adomas habe ich gelernt, dass eine Arbeit nicht unbedingt gut bezahlt oder besonders angesehen sein muss, Hauptsache, man kommt mit dem verdienten Geld aus, dann ist jede Arbeit gut genug. Er hatte eine Stelle als Zeitungsausträger und konnte damit mehr verdienen als mit einer qualifizierten Ausbildung zu Hause in Litauen.«
»Adomas? Dein litauischer Cousin – äh, Freund?« Kamilla schenkte Kaffee in Annes Tasse und traute sich nicht richtig, ihr in die Augen zu sehen. Es fiel ihr schwer, ihren Widerwillen dagegen zu verbergen, dass Anne mit ihrem Cousin liiert war. Aber es war das erste Mal gewesen, dass sie sie mit einem verliebten Schimmer in den Augen gesehen hatte.
»Hast du mal wieder was von ihm gehört?«, fragte sie stattdessen.
Anne rührte sich abwesend Zucker in den Kaffee. »Nein. Ich hab wirklich Angst, dass ihm etwas Schreckliches passiert ist. Es war einfach merkwürdig, wie er verschwunden ist.«
»Was ist denn passiert?«
Anne lehnte sich auf dem Sofa zurück und sah durch die Terrassentür hinaus in den Garten. Der Garten war nicht so schön wie sonst im Mai. Der harte Frost im Winter hatte das meiste erfrieren lassen. Der Rasen hatte gelbe Flecken und in einige der kleinen Büsche würde wohl nie wieder Leben kommen.
»Es war Ende Januar. Adomas’ Handy hat an dem Abend mehrfach geklingelt und er hat Litauisch gesprochen. Ich dachte, es wäre seine … unsere Familie. Aber mit jedem Gespräch wurde er unruhiger, und plötzlich hat er seine Tasche gepackt und gesagt, er müsse verreisen. Ich habe ihm oben vom Fenster aus hinterhergeschaut und beobachtet, wie er sich in ein Auto gesetzt hat, das schnell wegfuhr. Als ich gerade vom Fenster weggehen wollte, habe ich ein anderes Auto vom Bürgersteig herunterfahren und ihm folgen sehen. Im Licht der Straßenlaterne konnte ich erkennen, dass es ein litauisches Nummernschild hatte. Ich hab versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen, aber es hieß immer, dass es keine Verbindung gäbe. Entweder hatte er es ausgeschaltet, oder er hatte kein Netz, oder …«
»Hast du das der Polizei gemeldet?«
»Nein, die haben doch keine Zeit, sich um so was zu kümmern. Vielleicht ist es ja auch gar nicht so, wie ich befürchte.«
»War da nicht auch was von wegen, dass er in die Sache mit dem brutalen Raubüberfall in Trige letzten Winter verwickelt war?«
»Nein, damit hatte er nichts zu tun!« Anne funkelte sie wütend an. »Er kannte bloß ein paar von denen, die das Ding gedreht haben«, fuhr sie etwas weniger heftig fort. »Der Prozess beginnt jetzt sicher bald. Er hat sogar der Polizei dabei geholfen, einige osteuropäische Zigarettenschmuggler hochgehen zu lassen, sodass sie später auch die Hintermänner erwischt haben.«
»Ich habe den Artikel in der Zeitung gelesen. Er hat ihnen also die Informationen gegeben. Das war ja nicht ganz ungefährlich.«
»In der Tat, das hab ich ihm auch gesagt. Aber es hat nichts gebracht; als hätte er nicht geglaubt, dass ihm tatsächlich etwas passieren könne.”
»Und du hast wirklich nicht die Polizei um Hilfe gebeten?«
»Bist du wahnsinnig?! Wenn die wüssten, dass ich was mit Adomas zu tun habe, was glaubst du, wie Benito wohl reagieren würde? Er wurde doch damals verhört und die halten ihn ohne Zweifel für kriminell.«
»Dann haben sie ihn also wohl nicht gehen lassen?«
»Er hat ihnen doch geholfen. Ein Tauschhandel. Die kleinen Fische kommen davon, damit sie sich an großen ranmachen können. Solche Absprachen treffen sie bei der Polizei tatsächlich, genauso wie in der Politik.«
»Das hat bestimmt nichts zu bedeuten, Anne. Sicher gibt es eine harmlose Erklärung für Adomas’ Verhalten. Wenn