dem Nasenrücken hinauf. Sie war selbst im katholischen Glauben erzogen worden, mit dem Auftrag, ihre Unschuld bis zur Ehe zu bewahren oder eben den Zölibat zu wählen; nun rang Schwester Laura mit dem Entschluss, so wie sie selbst es einst getan hatte. »Ist deine Familie auch dagegen, dass du Gott dienen willst?«, fragte sie die Jüngere.
»Ich bin ihr einziges Kind und ich glaube, sie wollen beide gerne mal Großeltern werden.«
»Also gibt es ja einen guten Grund dafür, dass Mutter Helene davon abrät, dass du heimfährst, wenn sie dort versuchen, dich dazu zu überreden, Gott und dem Kloster den Rücken zu kehren.« Margaretha stand auf und bürstete das Gras von der Rückseite ihres Kleides. »Komm, gehen wir frühstücken. Pater Josef kommt heute Nachmittag, daher sollten wir vor dem Mittagsgebet mit der Arbeit fertig sein.«
Sie gingen über einen der vielen Kieswege im Garten zurück. Das Kloster lag im Schein der Sonne, um die sich der Morgendunst wie ein goldener Heiligenschein gelegt hatte. Die verwitterten orangebraunen Steinmauern und der Turm mit dem giftgrünen kegelförmigen Dach sahen aus, als verbärgen sie eine Menge Geheimnisse, die niemals verraten werden würden. Der Turm und der Ostflügel stammten aus dem 12. Jahrhundert. Dieser Teil des Klosters war abgeschlossen, weil es zu teuer war, ihn zu beheizen, wenn sie ihn ohnehin nicht benutzten, außerdem war er baufällig geworden, und es fehlt das Geld, um ihn zu renovieren. Auch die Kirche stammte aus dem 12. Jahrhundert, war zusammen mit dem Ostflügel erbaut worden; dahinter lag eine kleine Kapelle. Der Rest des Gebäudes mit den Zimmern der Schwestern oben und dem Refektorium im Erdgeschoss war im 16. Jahrhundert erbaut, aber seither mehrmals renoviert worden. Dahinter lag der Küchengarten, für den Margaretha die Verantwortung trug. Mit dem Frühling und der Wärme kam auch das Unkraut. Der Einsatz von Dünger oder Spritzmittel war nicht erlaubt. Die Hühner und die Kaninchen bekamen auch nur natürliches Futter, damit sie selbst reines und unverdorbenes Fleisch essen konnten, wie Mutter Helene es ausdrückte.
Schwester Laura stolperte hinter ihr her. Sie war es gewohnt, moderne Jeans zu tragen, nicht lange Röcke. Es gab eine Menge, woran sie sich würde gewöhnen müssen. Margaretha war sich nicht so sicher, ob das Mädchen wirklich zum Dienste des Herrn berufen worden war.
»Du vermisst deine Familie also nicht?«
»Es ist sehr lange her, dass wir das letzte Mal Kontakt hatten. Aber ich vermisse niemanden. Ich habe genug in Gott. Seine Liebe ist größer als die, die meine Familie mir damals gegeben hat.« Die Worte taten trotzdem weh, als sie ausgesprochen wurden. Es war kein einziger Brief mehr von zu Hause gekommen, seit ihre Mutter sie förmlich angefleht hatte, wieder heimzukommen, und sie daraufhin Mutter Helene gebeten hatte, an ihrer statt den Brief zu beantworten, da Margaretha unsicher gewesen war, wie sie das Ganze angehen sollte. Damals war sie noch Postulantin gewesen und man hätte sie viel leichter als heute dazu bringen können zu zweifeln.
»Okay, und man gewöhnt sich also einfach daran, im Zölibat zu leben?«
»Es geht ja nicht nur darum. Wer das Ordensgelübde ablegt, erklärt sich einverstanden, ohne persönliches Eigentum in Armut, nach unseren Ordensregeln und gemäß der klösterlichen Leitung in Gehorsam sowie eben auch unverheiratet in Keuschheit zu leben, also im Zölibat – genau wie unsere Priester.«
Schwester Laura ging schweigend neben ihr her. »Hast du Pater Josef schon einmal getroffen?«
»Ganz oft. Begegnest du ihm heute denn zum ersten Mal?«
Schwester Laura nickte.
»Ich bin mir sicher, du wirst ihn mögen. Er ist ein gemütlicher alter Herr und war ursprünglich Mönch in Polen.« Sie bemerkte Schwester Lauras Unruhe und fügte lächelnd hinzu: »Aber keine Sorge, er spricht gut Dänisch, er wohnt seit vielen, vielen Jahren hier.« Die gemeinsamen lateinischen Gebete waren für das nicht allzu sprachkundige Mädchen schon Verständnishürde genug.
»Als Mutter Helene ihn überredet hat, sich unserem Kloster anzuschließen, ist er hier, nicht weit weg, aufs Land gezogen, daher kommt er oft und hilft Mutter Helene beim Unterrichten und hält Messen in der Kirche.«
Im Refektorium lärmte es von klirrenden Gläsern, Porzellan und Besteck. Es war eine Art Sturm vor der Ruhe, weil alle Mahlzeiten in absoluter Stille vonstattengingen. Vielen der Neuen fiel es zunächst schwer, sich an das Schweigen zu halten, aber ein ernster Blick und ein lautloses Sch! von Mutter Helenes Lippen wirkten Wunder und sorgten dafür, dass allen das Schweigen bald zur Routine wurde. Margaretha selbst hatte allerdings keine Schwierigkeiten gehabt, sich daran zu gewöhnen. Bei ihr zu Hause war nie besonders viel gesprochen worden, schon gar nicht während der Mahlzeiten.
8
Die Tür zu Rolands Büro schloss sich hinter dem Besucher. Der Lehrer, Sigurd Due, hatte ihn früh am Morgen kontaktiert. Er habe ohnehin in der Stadt zu tun und wolle gerne ein Gespräch mit ihm führen.
Roland musterte den Mann, den er nicht für einen Lehrer gehalten hätte, wenn er seinen Beruf hätte erraten sollen. Er war gut frisiert, frisch rasiert und roch nach einem teuren Aftershave.
»Ich muss hier heute Vormittag zu einer Konferenz«, antwortete Sigurd Due auf Rolands forschenden Blick und stopfte die Seidenkrawatte hinter das Revers seiner Anzugjacke. »Die neue Rundum-Bildungsinitiative der Regierung gibt Anlass zu einer Menge Besprechungen.«
Roland nickte verständnisvoll. So war das nun mal, wenn sich die Regierung einmischte. Nach der Polizeireform hatte es bis jetzt gebraucht, dass die Polizei wieder einigermaßen normal funktionierte. Nun stand der Volksschule das Gleiche bevor.
»Ja, ich habe in einer Radiodiskussion etwas über viele ausgefallene Stunden und die Forderung nach zusätzlichen Vertretungslehrern gehört.«
»Genau. Die Regierung hat den Kommunen auferlegt, dass immer eine Mindeststundenzahl eingehalten werden soll. Die Besprechung findet im Rathaus statt. Ich bin der Sprecher unserer Lehrergruppe, daher …« Er räusperte sich nervös. Armer Mann.
»Kaffee?«
»Ja, bitte. Ein Tässchen nehme ich gerne.«
Roland stellte einen weißen Plastikbecher vor den Lehrer hin und schenkte ein. »Wenn ich das richtig verstehe, sind Sie in der Volksschule Tobias Abrahamsens Klassenlehrer gewesen.«
»Ach ja, schreckliche Sache. Wie können Leute einfach so verschwinden, bei all der Polizei auf der Straße?«
Der Vorwurf stand ihm ins Gesicht geschrieben. Viel Polizei auf der Straße war nur eine politische Illusion, genauso wie die, dass die dänischen Volksschüler die besten der Welt werden sollten.
»Tobias kann unmöglich betrunken gewesen sein. Er hat nie Alkohol angerührt. Unterm Strich war er der Klassenbeste. Streber, würde man wohl sagen. Seine Klassenkameraden, meine ich.«
Roland lehnte sich im Stuhl zurück und prüfte den Gesichtsausdruck des Lehrers, während der aus dem Becher trank, aber der Mann verzog keine Miene. Der Kaffee im Lehrerzimmer der Schule war offensichtlich auch nicht besser. Allerdings verbrannte er sich die Finger an dem heißen Plastikbecher.
»Jetzt ist es ja zwei Jahre her, dass Tobias die Volksschule verlassen hat. Wie können Sie wissen, dass er sich seither nicht verändert hat?«
»Das hat er nicht! Bestimmt nicht. Ich war derjenige, der ihm den Ausbildungsplatz als Zimmerer bei meinem Schwager Poul verschafft hat. Er hat immer nur lobende Worte für Tobias übriggehabt. Er ist pünktlich, erledigt seine Arbeit, ist nachts nicht unterwegs, um zu saufen, und kommt also nie morgens mit einem Kater in den Betrieb, er packt immer mit an, wenn es nötig ist, und …«
»Ja, wir haben mit dem Arbeitgeber gesprochen. Ihrem Schwager. Er hat schließlich den Jungen als vermisst gemeldet. War Tobias in der Klasse ebenso beliebt? Streber sind ja in der Regel nicht die Beliebtesten.«
»Er war ziemlich unauffällig, wurde von den anderen eher ignoriert und hat sich hauptsächlich um sich selbst gekümmert. Freunde hatte er bestimmt nicht viele. Er war fleißig, wollte aber nach Abschluss der Volksschule nicht auf die weiterführende Schule gehen. Er wollte lieber etwas mit seinen Händen machen. Sein Vater ist ja auch Zimmerer gewesen, aber