er sich dann … äh … das Leben nahm, veränderte das Tobias merklich. Er fing an, sein Verhalten zu ändern. Normalerweise hatte er zusammen mit den anderen in der Werkstatt zu Mittag gegessen, aber dann begann er, in der Pause zu verschwinden. Niemand wusste, was er machte, aber er wirkte sehr angespannt, wenn er zurückkam.«
»Davon wussten wir nichts.«
»Ja, das habe ich mir schon gedacht. Poul hält eine Menge von dem Jungen, er will sicher kein schlechtes Licht auf ihn werfen.«
»Und Sie glauben, das hat etwas zu bedeuten?«
»Man sollte zumindest darüber nachdenken. Damals, bei der Sache mit seinem Vater, ist er auch verschwunden und niemand hat gewusst, wo er war. Aber bei Poul ist er in der Regel höchstens eine Stunde weg gewesen, daher hat Poul das nur ihm selbst gegenüber angesprochen und es gegen all die Male abgewogen, wo Tobias bereitwillig Überstunden gemacht hat. Es ist ja auch eine turbulente Zeit für ihn gewesen, und dann seine Großmutter als der einzige Vormund – es ist nicht gut für einen jungen Mann, mit einer alten Frau zusammenzuwohnen.«
In Süditalien wohnte oft die ganze Familie zusammen, darin sah Roland nichts Ungesundes. Im Gegenteil.
»Das heißt, Sie glauben also, sein Verschwinden hat etwas mit dem Tod seines Vaters zu tun?«
»Das weiß ich natürlich nicht, aber da er angefangen hat zu verschwinden, nachdem er ihn gefunden hat, ist das wohl ziemlich wahrscheinlich.«
»Hat Tobias seinen Vater gefunden – erhängt?«
»Nicht direkt, aber nach dem Tod seiner Mutter hat er allein mit seinem Vater zusammengewohnt, deswegen war er der Einzige, der die Nachricht entgegennehmen konnte, als die Polizei geklingelt hat. Er ist, so schnell er konnte, auf seinem Moped zur Kirche gefahren. Er musste seinen Vater identifizieren. Sicher kein schöner Anblick. Nach dem, was erzählt wird, war der Kopf wohl fast vom Körper abgetrennt und …«
»Zur Kirche?«
»Ja, die Sankt-Lukas-Kirche. Da hat er sich erhängt. Vom Kirchturm aus.«
Roland fiel es schwer, den Kaffee herunterzuschlucken. »Das hat Tobias’ Großmutter gar nicht erwähnt, als wir gestern mit ihr gesprochen haben.«
»Es ist schon immer eine ziemlich verschlossene Familie gewesen. Auch als die Mutter noch gelebt hat, sind sie nicht zu den Elternabenden in der Schule gekommen, weder bei Tobias noch bei seiner Schwester. Deshalb hat auch niemand in der Schule sie sonderlich gut gekannt.«
»Schwester?«
»Ja, das hat die Großmutter wohl auch nicht erzählt. Natürlich. Das Mädchen ist ebenfalls verschwunden. Ja, sogar schon bevor sie mit der Schule fertig war. Na, aber all das hier hätte ich Ihnen ja genauso gut auch am Telefon erzählen können. Aber ich habe etwas mit, von dem ich glaube, dass Sie einen Blick drauf werfen sollten. Tobias war, wie gesagt, ein fleißiger Schüler, seine Aufsätze waren für sein Alter verblüffend gut.«
Er griff nach seiner Tasche, die er auf den Boden gestellt hatte. Die wiederum war eine richtige Volksschullehrertasche mit der richtigen Lederfarbe, dem dazugehörigen Abnutzungsgrad und sichtbaren Einkerbungen von einem Fahrradgepäckträger. Er zog einen Stapel Aufsatzhefte heraus und legte sie vor Roland hin.
»Tobias wollte die Hefte nie zurückhaben, er meinte, ich könne sie wegwerfen. Hier sind Geschichten über mehrere Jahre hinweg aus verschiedenen Klassenstufen.«
Sigurd Due schaute auf die Uhr und stand auf. Ein wenig verwirrt folgte Roland seinem Beispiel.
»Wie sollen uns Tobias’ Aufsätze dabei helfen, ihn zu finden?«
»Vielleicht können sie das auch nicht, aber immerhin erzählen sie etwas über einen Jungen, über den niemand viel weiß. Ist es nicht leichter, eine Person zu finden, wenn man sie kennt? Ich weiß nicht, wie ich manche der Geschichten deuten soll, vielleicht sind sie reine Fantasie – vielleicht aber auch etwas, was Sie gebrauchen können.«
»Sie wissen also nicht, was mit der Schwester passiert ist?«
»Nein, sie war ebenfalls keine von denen, die besonders beachtet wurden. Gerüchten zufolge ist sie weggezogen. Manche verschwinden eben einfach. Aber mit Tobias wird das nicht passiert sein, er ist ein guter Junge. Jetzt muss ich aber gehen.« Er schaute wieder auf die Uhr, als habe er beim ersten Mal nicht richtig hingesehen.
»Wie heißt die Schwester?«
»Wenn ich mich recht erinnere, Mona.«
Roland öffnete seinem Gast die Tür. Als Sigurd Due hastig den Flur hinuntereilte, drehte er sich plötzlich noch einmal um wie ein zweiter Columbo und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Übrigens, ich habe im Fernsehen gesehen, dass Tobias letzten Samstag mit einigen seiner alten Klassenkameraden unterwegs war. Diese Jungs sollten Sie auch ein wenig im Auge behalten. Bertram Dinesen und Aksel Møller Lund waren die größten Unruhestifter der Schule – von der gröberen Sorte.« Dann war er weg, auf dem Weg zu seinem eigenen Dilemma im Rathaus.
Roland schloss die Tür wieder und öffnete das Fenster. Die Morgenluft war noch kalt und roch nach Meer, die Möwen segelten wie geübte Windsurfer am Himmel. Der Lehrer hatte einige hässliche Bilder in seinen Kopf gesetzt. Als hätte es davon nicht schon genug gegeben. Erst gestern Abend war wieder eins dazugekommen: Olivia mit Brautschleier und schwangerem Bauch. Er ließ sich schwer auf den Stuhl fallen und lehnte sich so weit zurück, wie es die Rückenlehne zuließ. Bei einem billigen Bürostuhl war das nicht besonders weit. Er blickte zur Decke. Sich von einem Kirchturm aus zu erhängen. Er erinnerte sich vage an den Fall, der wegen des unzweifelhaften Selbstmordes nicht in seiner Abteilung gelandet war. Aber die bizarre Methode hatte in allen Abteilungen und nicht zuletzt in der Presse für Gesprächsstoff gesorgt – so lange, bis ein neuer und größeres Aufsehen erregender Fall aufgetaucht war. Leider geschah das meist viel zu schnell.
Er richtete den Stuhl auf und starrte auf die Hefte. Aufsätze? Geschichten, erzählt von einem verschwundenen Jungen. Er öffnete das erste Heft an einer zufälligen Stelle. Der Text war mit blauem Kugelschreiber geschrieben, ordentlich und leserlich. Eine Seltenheit in unserer Computerzeit. Er legte das Heft zur Seite und zog das Telefon zu sich. Der zuständige Beamte war glücklicherweise gerade vom Morgenkaffee aus der Kantine zurückgekehrt. Roland bat ihn, den alten Selbstmordfall herauszusuchen und mit den entsprechenden Unterlagen zu ihm hochzukommen, dann rief er Mikkel Jensen an und beorderte ihn, sich für ein neues Gespräch mit Tobias’ Vormund bereitzumachen; es gab da zu viel, was sie ihnen verschwiegen hatte.
»Er war erst neunundvierzig.« Mikkel Jensen saß angeschnallt auf dem Beifahrersitz und las den Bericht über Victor Abrahamsens Selbstmord. »Der Sankt-Lukas-Kirchturm ist verdammt noch mal fünfunddreißig Meter hoch. Pfui Teufel, sich von da mit einem Strick um den Hals herunterzustürzen!«
»Warum sich das Leben von einer Kirche aus nehmen, steckt da eine Botschaft dahinter?«
»War wohl praktisch, ist in der Nähe vom Friedhof«, antwortete Mikkel mit einer Prise Zynismus.
Roland warf ihm den warnenden Blick zu, den Mikkel nur allzu gut kannte. »Aber wie, verdammt, ist er auf diesen Turm gekommen, und das mit einem Seil? Ist der nicht abgesperrt? Zugeschlossen?«
Mikkel blätterte in den wenigen Unterlagen. Über einen offensichtlichen Selbstmord wurde in der Regel nicht viel geschrieben.
»Darüber steht hier nichts. Jedenfalls es ist ihm gelungen hineinkommen, egal ob es eine verschlossene Tür oder sonst eine Absperrung gegeben hat, die er überwinden musste. Und es klingt so, als hätte er genau gewusst, was er tat. Der Knoten war genau unter dem Kinn platziert. Er wog achtzig Kilo, und aus dieser Höhe … die Obduktion hat einen Bruch im Schädelboden am ersten Halswirbel ergeben, der Tod ist augenblicklich eingetreten.«
»Woher wusste er das wohl mit dem Knoten unter dem Kinn?«
»Bestimmt aus dem Internet. Heutzutage kann man da alles nachlesen: wie man Bomben baut, einen Einbruch begeht, sich das Leben nimmt. Manche begehen sogar Selbstmord vor der Webcam, damit alle zusehen können, und es gibt Clips auf