Inger Gammelgaard Madsen

Die Beichte - Roland Benito-Krimi 4


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den Soldaten förmlich am Arsch kleben und ihnen hörig in den Krieg folgen.«

      Roland antwortete nicht. Die Informationsgesellschaft konnte man nicht stoppen und man sollte es wohl auch gar nicht versuchen, aber der gegenwärtige Eifer, sich ständig über alles und jedes auf dem Laufenden zu halten, grenzte oft einfach an Geschmacklosigkeit.

      »Was war eigentlich der Beweis dafür, dass Victor Abrahamsen wirklich Selbstmord begangen hat?«

      »Ein Brief an den Sohn.«

      Mikkel legte die Papiere ins Handschuhfach und schnallte sich ab – sie hatten die gesuchte Adresse im Jens Baggesens Vej erreicht.

      Dorthea Abrahamsen öffnete nicht sofort, aber dann hörten sie Geräusche hinter der Tür, die nun leise einen Spaltbreit geöffnet wurde. Roland kannte die eher kleingewachsene Frau dahinter von ihrem ersten kurzen Gespräch am Tag zuvor, auch wenn es da nichts besonders Bemerkenswertes zu erinnern gab. Er schätzte sie auf Ende sechzig. Das Haar war grau und kurz geschnitten, die Haut blass, runzelig und leblos. Sie wiederum schien ihn nicht zu erkennen, und er musste seine Dienstmarke zeigen und den Beamten neben ihm zweimal vorstellen, bis sie sie hereinließ. Auf dem Weg zum Wohnzimmer passierten sie die offene Tür zu einem Schlafzimmer, in dem ein ungemachtes Bett stand. Roland bemerkte aus dem Augenwinkel, dass ein Kreuz über dem Bett hing. Im katholischen Neapel war das ein gewöhnlicher Anblick, aber hier in Dänemark sah er das nicht allzu häufig. Überhaupt bekam er selten Einblick in dänische Schlafzimmer, außer natürlich, wenn es sich um einen Tatort handelte.

      »Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«

      »Nein danke, wir bleiben nicht lange. Wir haben nur ein paar Fragen, hauptsächlich den Tod Ihres Sohnes betreffend.«

      »Victor?«

      »Ja. Dürfen wir Platz nehmen?«

      »Ja, ja. Natürlich.« Sie ging in die Küche hinüber und kam dann gleich wieder zurück ins Wohnzimmer, wo sie sich in einen Sessel setzte. »Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«

      »Nein danke. Aber wenn Sie selbst einen möchten, dann …« Roland warf Mikkel, der sich verwundert am Hals kratzte, einen raschen Blick zu.

      »Nein, nein, vielen Dank. Worüber wollten Sie noch mit mir sprechen?«

      »Vor einem Jahr ist Ihr Sohn gestorben. Können Sie uns erzählen, was passiert ist?«

      »Victor. Ja, ach, der kommt sicher gleich. Der bringt gerade den Müll raus.«

      »Ja, aber Frau Abrahamsen. Ihr Sohn ist doch tot. Wie kann er da …«

      »Wir haben gehört, dass Tobias als Erster bei der Kirche war, er hat ihn …«, unterbrach Mikkel.

      »Tobias, ja. Vielleicht war es Tobias, der mit der Mülltüte rausgegangen ist.« Dorthea Abrahamsen runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach.

      »Tobias ist verschwunden, wir haben doch gestern darüber gesprochen.« Roland erinnerte sich, dass sie geweint hatte. Ein merkwürdiges Weinen, das sofort wieder aufgehört hatte, als sein Telefon klingelte. Fast wie ein Kind, das sich gestoßen hat und das, als nun etwas anderes passiert, plötzlich merkt, dass es gar nicht wehtut.

      Dorthea Abrahamsen erhob sich und trat hinüber in die Küche. »Möchten Sie einen Kaffee?« Sie holte eine Thermoskanne aus dem Schrank und versuchte, sie unter die Kaffeemaschine zu stellen. Die eigentliche Kaffeekanne stand halbvoll in der Spüle. Roland stand auf und nahm ihr die Kanne aus der Hand. Ihre Augen flackerten, als sie ihn anschaute. Der Abwasch war nicht gemacht worden. Der Boden klebte von etwas Verschüttetem, das nicht aufgewischt worden war. Irgendetwas war in einem Topf auf dem Herd angebrannt. Zwei Abfalltüten standen auf dem Boden, eine in der Nähe der Tür und eine direkt an der offenen Küchenschranktür. Die Frau hatte offensichtlich Gedächtnisprobleme. War sie dement? Hatte sie nicht schon gestern ein wenig seltsam auf ihn gewirkt? Warum hatte sie sich nicht darüber gewundert, dass ihr Enkel nicht nach Hause gekommen war? Das Bett in seinem Zimmer war unberührt gewesen. Gestern hatte Roland das dem Schock über sein Verschwinden zugeschrieben. In so einer Situation geraten schließlich die meisten aus dem Gleichgewicht. Vielleicht sorgte Tobias auch einfach ganz allein für sich und sie hatte in seinem Zimmer nichts zu suchen. Es konnte vielerlei Gründe geben. Aber trotzdem, hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Alzheimer vielleicht. Jedenfalls sollte sie in diesem Zustand nicht allein sein. Er bedeutete Mikkel, ihm die Jacke der alten Frau zu geben, die im Eingangsbereich hing. Mikkel rollte mit den Augen, als er sie Roland reichte, was ihm erneut einen warnenden Blick seines Kollegen einbrachte. Er legte die Jacke um Dorthea Abrahamsens schmale Schultern und führte sie, einen Arm um ihren Rücken gelegt, die Treppe hinunter.

      »Also, Sie möchten keinen Kaffee? Victor kommt bestimmt bald zurück und …«

      »Ich glaube, es ist am besten, wenn wir den Kaffee bei uns trinken.«

      Mikkel öffnete die Autotür und Roland half der kleinen Frau auf den Rücksitz.

      9

      War er es womöglich? Schaute er sie nicht so merkwürdig an? Und hatte er das nicht auch die anderen Male gemacht, als er vor ihr auf dem Stuhl gesessen hatte? Ging sein Atem nicht ein bisschen schwer und keuchend, so wie der, den sie immer am Telefon hörte? Wirkte er nicht auch ein wenig … Oder waren das genau die Vorurteile, die sie sonst nicht haben wollte? Die sie absolut nicht haben durfte? Aber waren solche Ängste nicht oft auch berechtigt? Wenn sie an die Fälle zurückdachte, in denen Sozialarbeiter überfallen worden waren, war der Täter nicht oft genug jemand mit einer anderen ethnischen Herkunft gewesen?

      Irene lächelte so selbstsicher und entgegenkommend, wie sie konnte, und reichte ihm die Papiere. »Sie können sie draußen im Vorzimmer unterschreiben und sie dort abgeben, dann kümmere ich mich um den Rest.« Ihre Hände berührten sich, als er die Papiere entgegennahm, sie fürchtete, dass er sie festhalten, ein Messer ziehen würde. Seine Haut war fast schwarz, die Handflächen hell. Er kam aus Simbabwe. Aber dann strahlten blendend weiße Zähne in dem dunklen Gesicht auf, auch die Augen lächelten.

      »Mache ich. Danke, Frau Benito. Bis nächste Woche.«

      Irene atmete langsam aus, während sie ihm mit den Augen hinaus vor die Tür folgte. Ihr Herz klopfte in wildem Galopp. Nein, natürlich war es nicht Solomon Kahari; seine Familie war vor Mugabes Regime geflohen, und nun half sie Solomon dabei, sich auf dem Arbeitsmarkt zurechtzufinden. Das war keine leichte Aufgabe, obwohl er ausgezeichnet Dänisch sprach, gute Qualifikationen hatte und gewillt war, jede Arbeit anzunehmen. Sie goss Wasser in ein Glas, nahm einen Mundvoll und ließ das feuchte Nass die Mundhöhle abkühlen, bevor sie schluckte. Und sich schämte. Die Arbeitgeber hatten genau dieselben Vorurteile, die ihr selbst gerade eben zu schaffen gemacht hatten. Vorurteile, gegen die sie in der Gesellschaft doch so hart ankämpfte, die sie abzubauen versuchte. Niemand sollte aufgrund seiner Hautfarbe oder Herkunft diskriminiert und vorverurteilt werden. »Irene, reiß dich zusammen«, flüsterte sie sich zu.

      Durch die halboffene Tür sah sie den nächsten Klienten ungeduldig auf der Couchecke aus kobaltblauem Stoff sitzen. Sie war nun nicht mehr so modern, wie sie es damals gewesen war, als sie sie eingerichtet hatten. Den Wartebereich hatten sie in Gemeinschaftsarbeit so gemütlich wie möglich gestaltet – mit Blumen auf dem Tisch und einem Automaten mit Kaffee, Tee und Wasser für die Wartenden. Es war nicht immer leicht abzuschätzen, wie lange jedes Gespräch dauern würde. Einige waren schnell abgefertigt, während andere unaufhörlich irgendwelche Sachverhalte diskutierten, die ohnehin nicht zu ändern waren. Birthe ging draußen auf dem Flur vorbei und grüßte den Wartenden, er erwiderte den Gruß reserviert. Sie waren drei Sozialarbeiterinnen, die nebeneinanderliegende Büros und untereinander einen guten Zusammenhalt hatten, trotzdem hatte sie weder Birthe noch Sonja von dem Telefonterror erzählt, dem sie ausgesetzt war. Birthe war auch schon einmal von einem Klienten belästigt worden; er war über eine regierungsamtliche Kürzung seines Arbeitslosengeldes ungehalten gewesen und handgreiflich geworden, sodass sie die Polizei hatten rufen müssen. Irene wälzte Nacht für Nacht ihre Fälle im Kopf, war inzwischen aber zu dem Schluss gekommen, dass sich eigentlich niemand von ihr ungerecht behandelt fühlen konnte. Oder umgekehrt eben alle: Es war nie schön, im Leben