Fällen. Vielleicht trug auch die Tatsache, dass sie mit einem Kriminalkommissar verheiratet war, dazu bei, dass sie den Vorfall für sich behielt. Würde sie die anderen einweihen, würden sie sich bestimmt darüber wundern, warum Rolando in der Sache nichts unternahm. Der aber hatte genug Probleme.
Sie drehte den Stuhl zum Fenster und schaute hinaus ins Licht des Vormittags. Der Rathauspark war gut besucht. Leute mit Hunden und Kinderwagen gingen dort unten spazieren. Rolando hatte die Neuigkeit von Olivias Schwangerschaft und bevorstehender Hochzeit glücklicherweise recht ruhig aufgenommen. Doch seine Augen waren kohlschwarz geworden, daher wusste sie, dass der Zorn in ihm schwelte. Aber er musste das einfach als ein freudiges Ereignis sehen – nach jenem Schrecklichen, das der Familie zugestoßen war. Vielleicht war es Salvatores Seele, die nun in dem kleinen neuen Menschen wiedergeboren wurde. Glaubten die Katholiken eigentlich an so etwas? Sie drehte den Stuhl zurück zum Schreibtisch, suchte die entsprechenden Papiere heraus und bereitete sich darauf vor, den nächsten Klienten zu empfangen; einen Drogensüchtigen, der zum Entzug wollte – zum zweiten Mal. Sie fühlte sich jetzt ruhiger, schloss aber die Tür nicht, als er sich setzte. Birthes Tür direkt gegenüber war ebenfalls angelehnt.
»Kommst du auch mit zu mir herüber zum Mittagessen?« Sonja Dam Andersen steckte ihren ergrauten Kopf zur Tür herein.
»Wir essen heute bei dir?«
»Ja, ich habe etwas, was wir feiern sollten, deswegen habe ich eine Kleinigkeit bestellt.«
Sonja war ihre Vorgesetzte, wenn man das so nennen konnte. Jedenfalls hatte sie die Verantwortung für das gesamte Büro, führte sich aber nicht wie eine Chefin auf. Sie war ganz bodenständig und jovial, sodass Irene eigentlich nie an den Hierarchieunterschied zwischen ihnen dachte – nur in Momenten wie jetzt, wenn sie in Sonjas Büro trat. Es war das größte im Haus, mit einem Konferenztisch in der einen Hälfte. Deswegen wurde das Büro auch für größere Meetings benutzt, an denen Sonja in der Regel teilnahm. An den Wänden hingen moderne Gemälde und ein weicher Teppich lag auf dem Boden. Irene und Birthe mussten sich dagegen mit Parkettboden begnügen, auf dem die hohen Absätze laut klackten. Das Essen war gekommen und duftete vom Konferenztisch. Praktisch und unzeremoniös wurde es auf Papptellern und mit Plastikbechern für die Getränke serviert. Typisch Sonja.
Es gab eine Fischplatte, dazu frischgebackenes Brot und Remouladensoße; etwas anderes als das typische Kantinenessen. Sonja verkündete ihnen mit freudiger Erregung in der Stimme, dass sie feierten, weil sie nun zum ersten Mal Oma werden sollte. Irene hätte fast nachgeschoben, dass sie wiederum bald zum zweiten Mal Oma werden würde, wollte aber Sonja, die vor Stolz strahlte, diesen Augenblick nicht nehmen. Daher begnügte sie sich damit, mit Mineralwasser im Plastikbecher anzustoßen und sie zu beglückwünschen. Das Telefon klingelte. Sonja ließ es nach einem Blick auf ihre Armbanduhr läuten. »Alle haben das Recht auf eine Mittagspause«, meinte sie, und im selben Augenblick begann die Rathausuhr mit ihren zwölf Schlägen. Alle drei lachten.
»Ich soll euch übrigens von Birgit aus dem Büro in Aalborg grüßen«, sagte Sonja. »Ich habe sie gerade angerufen und ihr die gute Neuigkeit mitgeteilt, sie kennt meinen Sohn ja auch. Bei der Gelegenheit hat sie mir erzählt, dass sie gestalkt wurde. Was sagt ihr dazu? Ist das nicht unheimlich?«
»Gestalkt? Wie die Promis?«, fragte Birthe und legte den Brotkanten weg, den sie sich gerade hatte in den Mund stecken wollen.
»Ja, ein Mann verfolgt sie. Er hat sie nicht direkt kontaktiert, aber er versucht auch nicht, sich unsichtbar zu machen.«
»Wenn sie ihn gesehen hat, hat sie es denn nicht der Polizei gemeldet?«
»Doch, Birthe, natürlich, aber was kann die Polizei schon machen, wenn er ihr nichts getan hat?«
»Nein, dann noch nicht. Ich erinnere mich gut an einen, der mich mal bedroht hat. Mit dem hat die Polizei sich aber zumindest mal unterhalten.«
»Es kann doch nicht sein, dass erst etwas passieren muss, bevor jemand eingreift«, bemerkte Irene mit schwacher Stimme. Ihr schlug das Herz bis zum Hals.
»Ich gebe zu, dass mich Birgits Nachricht beunruhigt hat. Bestimmt ist es ein Klient, der entweder auf sie wütend oder heillos in sie vernarrt ist. Sie ist ja nicht gerade hässlich. Aber das Ganze ist eine traurige Entwicklung. Wir machen doch bloß unsere Arbeit.« Sonja reichte Irene das Schälchen mit den Garnelen. »Die Gesamtzahl der Drohungen soll laut der Untersuchung des Dänischen Sozialarbeitervereins von 2007 nicht gestiegen sein, trotzdem ist jeder fünfte Sachbearbeiter Gewalt und Drohungen ausgesetzt.« Sie signalisierte Birthe, ihr die Butter zu reichen. »Und inzwischen hat es sich ja herausgestellt, dass so etwas mit Mord enden kann. Zuletzt im Januar drüben in Holstebro. Hier hatte der Klient das Ganze offenbar geplant und auf dem Parkplatz auf sein Opfer gewartet – mit einem Messer. Und könnt ihr euch an den Zwischenfall im Rathaus von Frederiksberg erinnern? Und an all die anderen Fälle im Laufe der letzten Jahre? Niemand kann sich mehr in Sicherheit wiegen.«
»Sonja, hör auf. Das ist nicht lustig. So etwas solltest du deinem zukünftigen Enkelkind aber nicht erzählen. Guck, selbst Irene ist blass geworden.«
Sonja lachte mit ihrem klingelnden Lachen, das Irene sonst immer ansteckte. »Sie muss von ihrem Mann doch noch viel schlimmere Dinge gewohnt sein.«
»Wie geht es Rolando eigentlich? Das mit der Beerdigung in Italien ist doch sicher hart für ihn gewesen«, meinte Birthe, die offensichtlich noch lange nicht mit dem Essen fertig war. Sie schaufelte eine große Portion Fischpastete aus der Schüssel und nahm sich noch ein Stück Brot.
Irene hätte gerne auch noch mehr gegessen, aber sie konnte nicht. In der Tasche steckte ihr Handy – ausgeschaltet. »Ganz gut«, log sie.
Während des restlichen Essens erzählte Sonja überschwänglich von den Erwartungen, die sie damit verband, Oma zu werden. Wie es wohl erst werden würde, wenn das Kind auf der Welt war? Dann würde in der Pause wohl nur noch über Kinder geredet werden. Birthe hatte eine einjährige Tochter, aber auch Irene konnte ja reichlich Gesprächsstoff beisteuern. Olivia sollte im November entbinden. Sie freute sich darauf, heute Abend mit ihr zu sprechen, ob Olivia es nun wollte oder nicht.
Die Telefone begannen wieder zu läuten – genauso wie die Rathausuhr, deren Schläge nun verkündeten, dass die Mittagspause vorbei war. Irenes letzter Klient kam in einer halben Stunde, danach stand für den Rest des Tages nur noch Papierkram an. Sie lösten die Tafel auf und bedankten sich für das gute Mittagessen. Sonja erinnerte die beiden noch an ihr erstes gemeinsames Zumba-Training am Freitagabend. Diesen neuen Fitnesstrend mussten sie natürlich unbedingt einmal ausprobieren.
Während Irenes Abwesenheit waren einige Mails gekommen. Die erste war zehn nach zwölf eingegangen. Ihr Blut gefror zu Eis, als sie sie las: Wieso gehst du nicht an dein Handy, Bitch!!!???
10
Nach seinem Auftritt im Fernsehen am vorhergehenden Abend hatte Roland bereits mit dem Besuch eines verärgerten Vizepolizeidirektors mit zorngeschwellter Brust gerechnet.
»Was zum Teufel geht hier vor, Roland? Wieso ermittelst du im Fall eines jungen Mannes, der einfach bloß über Nacht nicht heimgekommen ist? Ist das nicht etwas zu früh? Meines Wissens wurde seine Leiche schließlich noch nicht gefunden, oder?« Kurt Olsen sah aus, als würde er den letzten Satz sofort wieder bereuen. Vielleicht erinnerte er sich daran, dass Salvatore noch nicht allzu lange unter der Erde lag. »Findest du nicht, wir sollten erst einmal eine Leiche haben, bevor sich die Abteilung Mord in den Fall einmischt?«
Roland sah keinen anderen Ausweg, als einen Fehler einzuräumen, aber zugleich auch auf seine Bedenken aufmerksam zu machen. »Darüber habe ich nicht nachgedacht, doch an dieser Sache ist etwas faul. Überhaupt an der ganzen Familie. Wir haben die Großmutter noch mal verhört, den Vormund des Jungen, sie spricht von einer Strafe Gottes für etwas, was ihr Sohn in der Vergangenheit getan hat. Warum hat er Selbstmord begangen? Und dazu ausgerechnet einen Kirchturm gewählt?«
Kurt Olsen setzte sich müde auf Rolands Schreibtischkante. »Sie hat Alzheimer, Roland.«
»Trotzdem, dieser Selbstmord wurde nicht gründlich genug untersucht.«
»Da