Christus ist.
9. Deßhalb bemühen sich die Heiligen auch auf Erden schon, frei zu werden von den Makeln dieser Leiblichkeit, welche uns mit tausend Fesseln binden. Darum streben sie, von den Mühseligkeiten des Lebens sich los zu machen; darum fliehen sie die Vergnügungen sündhafter Lust und ersticken die Flammen der Begierlichkeit. Wer so handelt, der trägt mitten im Leben das Gepräge des Todes an sich: ihm sollen alle Lüste des Fleisches und der Welt sterben, gleichwie er allen Lockungen der Welt stirbt. So war auch Paulus gestorben, wie er selbst bezeugt: „Die Welt ist mir, ich bin der Welt gekreuzigt.“ 10 Damit wir erkennen, daß es sich um ein Gott wohlgefälliges Sterben im Leben handelt, ermahnt er uns: „Immer müssen wir die Abtödtung Jesu an unserem Körper tragen, damit auch das Leben des Herrn Jesu an unserem Körper offenbar werde.“ 11 Die Abtödtung, das fortgesetzte Sterben soll in uns das Leben wirken: ein glückseliges Leben nach dem Tode, nach errungenem Siege, nach hartem Kampfe. Dann wird das Gesetz des Fleisches dem Gesetze des Geistes nicht mehr widerstreiten; dann wird kein Kampf mehr stattfinden mit dem Leibe des Todes; dann wird auch in ihm der Sieg nicht mehr können gefährdet werden. Wenn Das die Frucht der Abtödtung ist, so wage ich selbst nicht zu entscheiden, ob nicht dieses Sterben werthvoller vor Gott ist als selbst jenes Leben. Das Ansehen des Apostels spricht dafür, wenn er sagt: „So ist der Tod wirksam in uns, das Leben in euch.“ 12 Also hat eines Mannes Leben das Leben so vieler Völker gewirkt! Darum lehrt er, daß jener Tod auch von Denen, die noch im Leben sind, erstrebt werden müsse, damit der Tod des Herrn Jesus in unserem Körper erglänze; darum preist er jenen Tod glücklich, durch welchen der Mensch äusserlich vernichtet, aber innerlich erneuert wird; durch welchen unsere irdische Hütte abgebrochen wird, damit die himmlischen Wohnungen uns erschlossen werden. Derjenige vollzieht also das Sterben an sich selbst, welcher sich frei von der Gemeinschaft fleischlichen Sinnes macht, welcher von jenen Fesseln sich löset, über welche der Herr durch den Propheten Jsaias gesagt hat: „Löse die Bande der Bosheit, mache los die Fesseln der Bedrückung, gib frei die Gedrückten, reisse los jegliche Last!“ 13
10. Auch Derjenige stirbt im Leben, welcher sich der Begierden entäussert und zu den ewigen Freuden sich erschwingt; der im Himmel seinen Wohnsitz aufschlägt, in dem Paulus verkehrte, während er noch auf Erden lebte. Sonst hätte er sicher nicht gesagt: „Unser Wandel ist im Himmel;“ was einmal darauf hindeuten kann, daß er zum Voraus des Lohnes für seine Verdienste sicher war, zum Anderen aber auch auf betrachtende Erwägung gehen kann. Dort im Himmel haftete ja seine Betrachtung, dort war der Wandel seiner Seele, dort war seine Weisheit. Der Weise löst nämlich, wenn er jenes himmlische Gut sucht, seine Seele vom Leibe; er gibt die Verbindung auf, indem er nach einer Erkenntniß der Wahrheit strebt, welche er ganz unverhüllt und offen dargelegt wünscht: darum aber wünscht er seinen Geist von den Umstrickungen und Übeln dieses leiblichen Lebens befreit zu sehen. Mit unseren Händen, Augen und Ohren können wir jene höchste Wahrheit nicht erfassen. Was gesehen wird, ist zeitlich, was aber nicht gesehen wird, ewig. Auch werden wir oft durch unsere Augen Täuschungen ausgesetzt und sehen gar Vieles anders, als es ist. In gleicher Weise ist das Gehör Täuschungen unterworfen. Wir müssen also, wenn wir vor Trug und Täuschung sicher sein wollen, nicht Das betrachten, was sichtbar ist, sondern Das, was unsichtbar ist. Oder wie soll die Seele der Täuschung entgehen, wie soll sie dem Throne der Wahrheit nahen, wenn sie nicht gewissermaßen zuvor vom Leibe scheidet und so der Täuschung und Irreleitung desselben sich entzieht? Irregeführt wird die Seele durch den Blick des Auges, durch das Aufhorchen des Ohres: darum soll sie beiden sich entziehen. Darum sagt der Apostel: „Rühret nicht an, kostet nicht, tastet nicht an, was zum Verderben gereicht!“ 14 Alles gereicht wirklich zum Verderben, was in strafbarer Nachsicht gegen den Leib beruht. Um zu zeigen, daß er nicht durch solche Nachsicht, sondern durch Erhebung des Geistes wie durch Demuth des Herzens die Wahrheit gefunden habe, fügt er hinzu: „Unser Wandel ist im Himmel.“ Dort sucht er das Wahre und Ewige, dort sammelt er sich in sich selbst und erreicht die Höhe der Tugend; er will sich nicht Anderen anvertrauen, sondern in sich selbst will er zur Erkenntniß gelangen. Was er als wahr erfaßt, dem will er in richtiger Erkenntniß folgen; was er aber als begehrenswerth für irdische Lust erkennt. Das will er als ein Trugbild verabscheuen und fliehen.
11. Mit Recht hat der Apostel diesen Leib erniedrigt und herabgedrückt. „Einen Leib des Todes“ nennt er ihn. Und wer hat denn auch jemals mit den Augen des Leibes den himmlischen Glanz der Tugend geschaut? Wer konnte die Gerechtigkeit mit seiner Hand ergreifen und festhalten? Wer darf sagen, daß er die Weisheit mit dem Aufblicke seines Auges entdeckt habe? Ja wenn wir in besonderer Weise dem Denken uns hingeben, so sorgen wir, daß uns Niemand belästigt; wir wollen mit unseren Ohren Nichts vernehmen, und wir versenken uns so ganz und gar in geistige Thätigkeit, daß wir oft nicht einmal das unmittelbar Gegenwärtige sehen. Darum ist unser Denken zu nächtlicher Zeit reiner, und auch im Herzen erwägen wir dann besser, was uns erregt, ganz, wie der Psalmist sagt: „Was ihr sprechet in eueren Herzen, Das bereuet auf eueren Lagern!“ 15 Einige schließen auch wohl die Augen, wenn sie in besonderer Geistesanstrengung tieferer Erforschung sich zuwenden wollen: so meiden sie die Hindernisse, welche ihnen die Augen bereiten können. Wir suchen oft geradezu die Einsamkeit, damit kein fremdes Wort unser Ohr trifft, das unsern Geist, während er der Betrachtung obliegt, von der Wahrheit ablenken und die Aufmerksamkeit vernichten könnte.
12. So nimmt uns das gewöhnliche körperliche Leben schon vielfach in Anspruch, und die Gewohnheit steigert die Sorgen noch, durch welche die Frische der Seele gehemmt, ihre Aufmerksamkeit abgelenkt wird. Deßhalb sagt Job: „Gedenke, Herr, daß du, wie Thon, mich geformt hast.“ 16 Wenn aber der Leib Thon und Lehm ist, so belastet und verunreinigt er die Seele, indem er diese teilnehmen läßt an der Schmach ungezügelter Begierlichkeit. „Haut und Fleisch hast du mir angezogen,“ sagt Job, „mit Gebeinen und Sehnen mich zusammengefügt.“ Einerseits wird dadurch die Seele gebunden, andererseits zerstreut und abgelenkt. „Von Unrecht hast du, o Herr, mich nicht frei gemacht. Wenn ich nun gottlos bin, dann wehe mir! Bin ich aber gerecht, so darf ich doch mein Haupt nicht aufheben; denn mit Elend und Trübsal bin ich gesättigt.“ So spricht Job: und ist dieses Leben nicht in der That voll der Versuchungen, voll der Qualen, die uns auf dem Wege umringen? Der heilige Dulder fragt darum: „Ist das Leben des Menschen auf Erden etwas Anderes als steter Kampf?“ Er fügt aber mit gutem Grunde bei: „auf Erden;“ denn es soll das Leben des Menschen im Himmel sein. „Ja,“ sagt er ferner, „wie die Tage des Tagelöhners sind seine Tage,“ in Mühe und Ermattung geht das Leben hin; gar leicht wiegt der Lohn des Lebens, das schwankend und unsicher dahinfließt, weil es in einer Hütte von Lehm sich abschließt. Da ist keine Festigkeit, keine dauernde Entschlossenheit der Gesinnung. Am Tage wird die Nacht, während der Nacht wird der Tag wieder ersehnt. Seufzen würzt die Mahlzeit; ohne Thränen, ohne Schmerz, ohne Mühe wird das tägliche Brod nicht gegessen: da ist keine Ruhe, kein Frieden, keine Freiheit von Zorn und Hader. Zahllose Menschen sind einverstanden zu sterben; aber sie flehen doch nicht um den Tod. Haben sie ihn aber wirklich erfleht, so preisen sie sich glücklich: denn nur im Tode ist Ruhe und Frieden.
4. Weßhalb man den Tod eine Wohlthat nennen kann.
13. Vielleicht wendet Jemand ein: es stehe geschrieben, daß Gott den Tod nicht gemacht habe. In der That war das Leben im Paradiese, wo der Baum des Lebens stand, und das Leben war gewissermaßen das Tagesgestirn für die Menschen. Der Tod war also, weil er gegen den Willen Gottes eingedrungen, ein Übel. Dem halte ich aber entgegen: wie kann der Tod ein Übel sein, wenn er nach der Meinung der Heiden volle Gefühllosigkeit bringt? und noch mehr, wenn er, wie der Apostel sagt, Christum den Herrn gewinnen läßt? Wo kein Gefühl ist, da ist auch kein Schmerz über irgend welche Unbild; denn der Schmerz ist ja ein Gefühl. Nun tritt freilich, dessen sind wir gewiß, mit dem Tode nicht Gefühllosigkeit ein; es muß also auch noch das Leben herrschen, und zwar ist es die Seele, welche den Tod überdauert, wie sie Gefühl und Leben fortsetzt. Wenn aber nach dem Tode Leben und Seele noch fortbesteht, so bleibt auch der bessere Theil des Menschen nicht bloß, sondern wird in seinen Vorzügen noch gesteigert. Nach dem Tode wird die Seele durch Nichts mehr zurückgehalten oder gehindert, was früher dem Tode verfallen war: darum ist ihr Wirken und Thun auch gesteigert, weil sie die eigenen Kräfte ganz frei gebrauchen kann, ohne durch die Gemeinschaft mit dem Leibe, der im Grunde doch mehr zur Hinderung diente, gehemmt