Sie konnte alle Rechnungen begleichen, obwohl das Geld von Madame Yueh ausblieb, womit sie fest rechnete. Helen würde morgen ihren Lohn ausbezahlt bekommen.
Sie überlegte kurz, ob sie sich ein paar neue Schuhe gönnen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Wenn sie abermals solch eine Durststrecke in Sachen Klienten hatte, würde das Geld sehr schnell wieder knapp werden. Außerdem musste sie bald auch noch den Pinkerton bezahlen.
Noch war sie sich nicht sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, Payne ins Boot zu holen. Sie hatte bisher immer alleine gearbeitet, auch, als sie noch für die Organisation unterwegs gewesen war. Aber sie wollte sich einen Namen und die Agentur bekannter machen. Sie benötigte mehr Klienten, wenn sie überleben wollte. Und die Fähigkeiten eines Pinkertons waren genau das, was sie brauchte.
Frost beschloss, zur Feier des Tages ins Theater zu gehen. In der Zeitung hatte sie eine Anzeige für das neue Stück im Criterion Theater am Picadilly gesehen. Es war eine Komödie. Das würde sie von den drückenden Gedanken ablenken.
Mit den Händen in die Hüfte gestemmt stand sie vor dem Bett und grübelte über einer Auswahl an Kleidern. Das grüne? Sie entschied sich für den petrolblauen Brokat mit den aus Silber- und Goldfäden gewobenen Blüten. Das Korsett hatte die gleiche Farbe und war mit schwarzer Spitze besetzt. Bevor sie sich jedoch anzog, musste sie ihr Herz aufziehen. Je nachdem, wie sehr sie sich körperlich anstrengte, musste sie das zweimal am Tag oder einmal alle zwei Tage tun. Und seit dem Anfall vor ein paar Tagen, als sie es einmal vergessen hatte, ging sie lieber auf Nummer sicher. Die letzten Tage waren sehr aufregend gewesen, und das viele Rennen hatte sie körperlich gefordert.
Der Schlüssel hing wie immer an einer Kette um ihren Hals. Wenn sie ihren Arm über die Schulter nach hinten streckte, konnte sie gerade so das Schlüsselloch, das sich in einer kleinen Metallplatte zwischen ihren Schulterblättern befand, erreichen.
Es klopfte an der Tür, und Helen streckte den Kopf herein. Sie wusste um Frosts mechanisches Herz, doch der Anblick der Metallplatte auf Frosts Rücken ließ sie trotzdem jedes Mal erbleichen. »Miss, jemand möchte Sie sprechen.«
»Ein Klient?«
Helen schüttelte den Kopf. »Es ist ein Mädchen, Miss. Gehen Sie aus?«
Frost hängte den Schlüssel wieder um ihren Hals und lächelte Helen an. »Ich dachte, ich gönne mir ein Theaterstück. Sag dem Mädchen, dass ich gleich unten bin.«
»Gut. Brauchen Sie mich später noch, Miss?«
»Nein, vielen Dank, Helen. Wir sehen uns morgen früh?«
Helen nickte und schloss die Tür hinter sich.
Fertig angezogen und auf dem Weg nach unten fragte sich Frost, wer das ominöse Mädchen wohl sein mochte. Es wurde bereits dunkel draußen. Es musste also einen Grund geben, warum es hier war. Als sie ihr Büro betrat, erblickte sie das Mädchen sofort. Es hatte rabenschwarzes Haar, das ihm offen über die Schultern fiel, und trug einfache, asiatisch geschnittene Kleidung. Auf dem wollenen Umhang perlte Regenwasser.
»Hallo«, sagte Frost und setzte ein Lächeln auf. Doch als sich das Mädchen zu ihr umdrehte, gefror das Lächeln. Es war eine Chinesin, und auf ihrer Schläfe prangte das Zeichen der Organisation. Eines der Dienstmädchen.
»Madame Yueh wünscht Sie zu sehen.« Das war alles, was das Mädchen sagte. Bevor Frost etwas erwidern konnte, war es auch schon zur Tür hinaus und im Regen verschwunden.
Frost stöhnte auf. Damit konnte sie das Theater vergessen. Madame Yueh ließ man besser nicht warten. Sie zog ihren Mantel und den Schal an, verabschiedete sich von Helen und griff nach ihrem roten Schirm.
Garnet Street war dieses Mal ruhig. Nichts deutete mehr darauf hin, dass das ganze Viertel vor wenigen Tagen erst das chinesische Neujahrsfest rauschend gefeiert hatte. Nur ein paar wenige Konfetti, aufgeweicht und dreckig im Matsch liegend, ließen die Festlichkeiten erahnen. Die meisten Menschen befanden sich in ihren Häusern und Wohnungen, denn es war Zeit fürs Abendessen. Frosts Absätze klapperten über den Gehweg. Dieses Mal nahm sie den direkten Weg zum Haus von Madame Yueh. Es war eine alte Stadtvilla, die etwas zurückversetzt zur Straße lag. Dahinter breiteten sich die engen Gassen des Viertels aus, mit ihren heruntergekommenen Häusern und Absteigen. Noch weiter hinten schlossen die Docks an, wo sich die Opiumhöhlen befanden.
Je mehr sich Frost dem Haus näherte, desto langsamer wurden ihre Schritte. Sie hatte das Gefühl, dass, je näher sie kam, sich die Macht von Madame Yueh umso stärker über sie legte. Wie hatte sie nur denken können, sich jemals von ihrem Einfluss und den Dragons lösen zu können?
Frost erinnerte sich noch genau an den Tag vor etwa zwanzig Jahren, als Madame Yueh sie auf der Straße gefunden hatte. Sie konnte sich nicht entsinnen, wer oder was sie vorher gewesen war. Aber ab jenem Moment, als Madame Yueh ihr die Hand hingehalten und sie in ihr warmes Haus geführt hatte, war sie zur Schlüsselmacherin geworden.
Ihre Ziehmutter hatte ihre Gabe zufällig entdeckt, als Frost eine verschlossene Truhe öffnen wollte. Von da an musste Frost jeden Tag üben, um die Gabe zu beherrschen und stärker zu machen. Niemand wusste, warum sie Schlösser wie magisch öffnen konnte, doch Madame Yueh vermutete, dass es einen Zusammenhang mit ihrem mechanischen Herzen gab.
Wie sie zu diesem gekommen war und wer ihr diese Verstümmelung angetan hatte, wusste Frost nicht. Alles, was vor Madame Yueh war, verwandelte sich jedes Mal, wenn sie sich zu erinnern versuchte, in dicken Nebel.
Frost atmete tief durch und ging die letzten Meter zum Haus. Dieses Mal beleuchteten keine Fackeln den Eingang. Nur die zwei roten Säulen und zwei Bambushaine zierten die doppelflügelige Holztür. Frost klopfte laut an. Sogleich wurde die Tür geöffnet, und sie trat ein. Mr. Lee stand im Foyer und verbeugte sich respektvoll.
»Guten Abend, Miss Lydia. Sie werden erwartet.«
Frost erwiderte seine Begrüßung mit einer angespannten Verbeugung. Mr. Lee führte sie durch die langen Gänge. Statt Aetherlampen brannten überall altertümliche Lampions und Fackeln. Es roch nach Ruß, Lotusblüte und Sandelholz. Frosts Absätze klapperten durch die Stille. Sie gingen an diversen Räumen vorbei, die alle spartanisch und klassisch chinesisch eingerichtet waren. Madame Yueh legte großen Wert darauf, Traditionen zu pflegen.
Jemand trat aus einem dieser Räume, als Frost daran vorbeiging, und packte sie am Arm. Frost konnte gerade noch einen Ausruf unterdrücken und ballte bereits angriffsbereit die Faust, als sie Michael erkannte.
»Lass mich los«, wisperte sie energisch und beugte sich auf den Flur hinaus. Mr. Lee war stehen geblieben und wartete respektvoll darauf, bis sie ihm wieder folgte. »Madame Yueh erwartet mich.«
»Ich weiß, deswegen habe ich auch hier auf dich gewartet.« Michael lächelte sie an. Die Härte, die sie bei ihrer letzten Begegnung in seinen Augen gesehen hatte, war verschwunden. Der alte Michael stand wieder vor ihr. »Ich muss mit dir sprechen.«
»Hat das nicht Zeit für später? Du weißt genau, wie sehr sie es hasst, warten gelassen zu werden.«
Michael schüttelte den Kopf. »Lydia, ich möchte, dass du zurückkommst.«
Frost trat irritiert einen Schritt zurück. »Wie meinst du das?«
»Ich bin jetzt einer der Lóngtóu«, fing Michael an. »Die Organisation hört auf meine Befehle. Ich kann dir alles bieten, was du dir wünschst. Du brauchst nicht mehr wegzugehen. Wenn du bei mir bleibst, kannst du dir alles kaufen, was du willst, und die Dragons werden zu deinen Füßen liegen.«
Frosts Kehle schnürte sich zusammen, und in ihrem Bauch bildete sich ein schleimiger Knoten. Was redete er da? Sie liebte Michael über alles, sie waren zusammen aufgewachsen und hatten viel miteinander erlebt und durchgestanden. Er war ihr Bruder, und das wusste er.
»Ich habe bereits mit Madame Yueh gesprochen. Sie hat uns ihren Segen gegeben.«
Ein eisiger Schauer spülte über Frost hinweg. »Ich soll deine Frau werden?«, stieß sie hervor. »Du hast hinter meinem Rücken mit