sichtlich beleidigt zurück. »Mein Vater war immer dagegen und wollte, dass ich eine Frau aus der alten Heimat heirate. Aber nun, da er tot ist und ich seinen Platz eingenommen habe, ist der Weg frei.«
»Das glaube ich nicht.« Frost traute ihren Ohren kaum. Es war kein Wunder, hatte sich Michaels Vater gegen eine Heirat gewehrt. Frost war eine Westlerin, ein Findelkind, aufgelesen von der Straße. Der Sohn eines Lóngtóu musste unter seinesgleichen heiraten. Die zukünftige Braut musste rein und devot sein und aus einer angesehenen Familie stammen. »Madame Yueh hätte das niemals zugelassen.«
»Madame Yueh war diejenige, die sich ihm gegenüber für uns eingesetzt hatte.« Michael griff nach Frosts Händen, doch sie entzog sich ihm. Michael verstand. »Überleg es dir. Bitte.«
Frost wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Ihre Gedanken rasten wild durcheinander. Emotionen stürmten auf sie ein, Emotionen, die sie nicht zuordnen konnte und mit denen sie sich noch weniger beschäftigen wollte. Jedenfalls nicht jetzt. Sie musste zu Madame Yueh.
Sie schaute zu Michael auf. Sie wollte etwas sagen, doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Ohne sich zu verabschieden, drehte sie sich auf dem Absatz um.
Frost bemühte sich, ihr aufgewühltes Inneres zur Ruhe zu zwingen, als sie Mr. Lee wieder folgte. Sie durfte sich nichts von ihren Gefühlen anmerken lassen. Madame Yueh verstand sich sehr gut darauf, diese Schwäche auszunutzen und für ihre Zwecke einzusetzen. Eine Lektion, die Frost damals sehr früh gelernt hatte. Zeige Madame Yueh niemals deine wahren Gedanken!
Auf dem Weg ins Herz des Hauses, wo sich das Reich ihrer Ziehmutter befand, begegneten sie keinen weiteren Menschen. Frost wusste jedoch, dass das Haus nicht leer war. Hausmädchen und Diener schlichen auf leisen Sohlen umher, doch sie waren so unsichtbar, dass man sie nicht wahrnahm.
Mr. Lee blieb vor einer Doppeltür stehen und verbeugte sich ein zweites Mal vor Frost. »Es hat mich gefreut, Sie wiederzusehen, Miss Lydia.«
Frosts Kehle war zugeschnürt, weswegen sie sich nur verbeugte. Mr. Lee verschwand augenblicklich und ließ sie alleine zurück. Doch sie zögerte.
Warum fürchtete sie sich so vor dieser Begegnung? Madame Yueh machte ihr keine Angst. Sie war nur eine alte, zierliche Frau. Doch sie führte ein Imperium, sie war die Opiumkaiserin, die Allmutter.
Frost atmete tief durch, glättete ihre Kleidung und klopfte dann an. Wie von unsichtbarer Hand öffnete sich eine der Türen. Frost trat ein und straffte die Schultern. Sie schob die Gedanken an Michael und seinen ziemlich unerwarteten und ziemlich miesen Heiratsantrag beiseite und versuchte sich auf das anstehende Gespräch zu konzentrieren.
Der Raum war von Kerzen und Laternen erhellt. Ein riesiges Gemälde zierte die rechte Wand. Ein in China sehr berühmter Künstler hatte es in wochenlanger Arbeit direkt auf die Wand gemalt. Frost konnte sich erinnern, wie Michael und sie ihm lange dabei zugesehen hatten.
Links stand ein bedruckter Parawan aus Bambus und Papier. Ein roter Drache schlängelte sich darüber. Neben dem Parawan standen Lackmöbel und ein niedriger Tisch. In der hinteren Ecke befand sich der Altar, wo die Ahnen verehrt wurden. Frische Räucherstäbchen waren eben erst entzündet worden, und ihr feiner Rauch kringelte in die Höhe. Es roch stark nach Sandelholz.
Am Rande von Frosts Blickfeld bewegte sich etwas. Vor einem zweiten Parawan, der auf einem erhöhten Podest stand, befand sich ein Stuhl. Frost hörte das Geräusch des Gehstocks, bevor sie Madame Yueh sehen konnte. Es war so sinnbildlich für die alte Patriarchin, dass Frost nicht umhinkonnte, leise zu lächeln.
Madame Yueh war klein und ging auf ihren Stock gebeugt. Ihre dunkle Haut war so runzlig wie ein verschrumpelter Apfel, doch ihre schwarzen Augen leuchteten und strahlten scharfe Intelligenz aus. Ihr graues Haar war zu einem ordentlichen Knoten gesteckt, und ihre traditionelle Kleidung bestand aus schimmernder Seide. Madame Yueh setzte sich auf den Stuhl, nahm den Stock zwischen die Knie und legte ihre Hände auf den Knauf.
Sofort spürte Frost ihren Blick auf sich, und sie senkte respektvoll den Kopf. Sie trat vor das Podest, machte eine tiefe Verbeugung und kniete sich dann hin, den Blick immer noch gesenkt.
»Lydia«, durchbrach Madame Yuehs raue, kraftvolle Stimme die Stille des Raumes. »Wir haben viel zu besprechen.«
Jackson Payne hatte Cecilia dazu überredet, noch nicht gleich nach Hause zu gehen. Sie mussten reden. Auch wenn es Cecilia für keine gute Idee hielt, nicht sofort zu einem Arzt zu gehen, gab sie nach. Payne sah ihr an, dass sie froh war, ihn wiederzuhaben. Und dass ihre Befürchtungen, wo (und mit wem) er die letzten vier Wochen verbracht hatte, sich nicht bewahrheitet hatten. Trotzdem war sie wütend auf ihn. Payne war sich bewusst, dass er einiges investieren musste, um ihr Vertrauen wiederzugewinnen. Sie waren bereits zwei Jahre lang voneinander getrennt gewesen, was ihre Ehe stark strapaziert hatte, und der Verlust von Annabella saß immer noch tief.
Auf dem Weg zur London Bridge hatten sie ein kleines Restaurant entdeckt. Payne bestand darauf, etwas essen zu müssen. Er konnte sich nur vage an seine letzte Mahlzeit erinnern, und die hatte aus einem schalen Bohneneintopf bestanden.
»Manchmal, wenn die Trauer zu schwer wird, wünsche ich mir, ich hätte die Stelle hier niemals angenommen.«
Payne schaute von seinem Teller auf und runzelte die Stirn. »Das meinst du nicht ernst, Cecilia. Ich weiß, wie viel dir deine Arbeit hier bedeutet.«
Cecilia presste die Lippen aufeinander. »Ich hätte Annabella niemals hierherbringen dürfen.«
»Und sie stattdessen bei mir gelassen? Ich war ständig unterwegs, meine Arbeit war gefährlich. New York hat genauso üble Ecken wie London.«
Cecilia griff nach ihrem Weinglas und leerte es in einem Zug. Payne runzelte wieder die Stirn. Er mochte es nicht, wenn seine Frau zu viel trank.
»Danke«, sagte sie dann und nahm seine Hand.
»Wofür?«
»Dass du zu mir zurückgekommen bist. Ich habe mir fürchterliche Sorgen gemacht und jeden Tag die Polizei erwartet, die mir mitteilt, man habe deine Leiche in der Gosse gefunden.«
Payne musste lächeln. Vielleicht konnte doch alles wieder wie früher werden. Fast alles.
»Miss Frost scheint mir eine respektable Person zu sein«, sagte Cecilia, als sie später an der Themse entlangschlenderten. Ihr Haus lag in Southwark, unweit des Borough Markets. »Etwas exzentrisch, aber respektabel. Wann beginnst du deine Arbeit bei ihr, Jackson?«
»Sobald mein Kratzer verheilt ist«, antwortete Payne und zwang sich, langsam durch den Schmerz zu atmen. Frost oder ihre Haushälterin musste die Wunde genäht haben, denn der Verband fühlte sich immer noch trocken an. Die Schmerzen allerdings waren nicht weniger geworden. Payne hoffte, dass der Holzpfahl keine Splitter hinterlassen hatte. Er wollte nicht unbedingt an einem Wundinfekt sterben, der durch einen winzigen Holzsplitter verursacht wurde.
»Gut. Morgen früh werde ich Dr. Miller holen lassen, damit er dich untersucht.« Cecilia schien zufrieden. »Und dann werden wir zu Scotland Yard gehen. Du hast heute einen Mann erschossen, Jackson.«
Payne ächzte auf. »Damit er mich nicht erschießt, Cecilia. Der Mann war ein… Jemand, der mit meiner Arbeit unzufrieden war. Er hätte uns alle erschießen können.«
»Trotzdem, Miss Frost und du, ihr solltet zur Polizei gehen und die Sache klären. Ich will nicht, dass du im Gefängnis landest. Mit dieser Schande könnte ich nicht leben.«
Payne schnaubte und wandte den Blick hinaus auf die Themse. Es herrschte Ebbe, und die dunklen Wasser schwappten sanft ans Ufer. Gusseiserne Aetherlaternen beleuchteten den Gehweg entlang des Flusses und warfen ihr helles Licht auf das Wasser und die umliegenden Häuserfassaden. Ein paar dutzend Meter vor ihnen rannten mehrere Gestalten hin und her. Payne sah die kleinen Lichtpunkte von getragenen Laternen. Wahrscheinlich nur irgendwelche Gauner.
»Jackson, was hältst du davon, wenn wir nächste Woche – Jackson? Hörst du mir überhaupt zu?« Cecilia fasste Payne am Arm und schaute ihn