den Tresor wieder. Noch immer war sie etwas erstaunt, dass Baxter ohne Weiteres auf ihre Bedingungen eingegangen war. Der Mann war offensichtlich verzweifelt. Noch während Frost Kopien aller Personalakten gemacht hatte, hatte er Sanderson angerufen. Und der hatte kurz darauf die fünfhundert Pfund gebracht, ohne Fragen zu stellen.
Eine mahnende Stimme in Frosts Hinterkopf wies sie immer wieder darauf hin, dass insgesamt 1500 Pfund Honorar viel zu viel waren und man sie wegen Wucher ins Gefängnis stecken würde, doch die Bündel Banknoten im Tresor fühlten sich momentan einfach viel zu gut an, um sich Sorgen zu machen.
Sie schob den Bücherblock zurück an seinen Platz und stand auf. »Sollten Sie nicht noch im Bett liegen, Mr. Payne?«, fragte sie, als Helen den Tee und die Scones brachte. Es war erst eine gute Woche her, seit er sich einen Holzpfahl aus dem Körper gezogen und auf dem Weg zur Agentur in Frosts Armen zusammengebrochen war. Mittlerweile war auch sie davon überzeugt, dass die Explosion, die seine Wohnung zerstört hatte, ein Mordanschlag gewesen war. Payne konnte von Glück reden, hatte man die falsche Wohnung in die Luft gejagt.
Der Pinkerton murrte und legte die Zeitung beiseite. »Sie klingen wie meine Frau.«
»Und Sie sitzen auf meinem Platz«, gab sie zurück und wartete, bis Payne ihren Sessel freigeräumt und sich einen der anderen Stühle herangezogen hatte. »Danke. Sie sind sich also sicher, dass Sie bereits arbeiten können?«
Payne griff nach einem der Scones und biss herzhaft hinein. »Ich bin mir sicher, dass ich in spätestens ein paar Tagen ins Irrenhaus eingeliefert werde, wenn ich die Wände meines Wohnzimmers noch länger anstarren muss.« Frost hob eine Augenbraue. »Soll ich Ihnen sagen, wie viele Schnörkel es auf der Tapete hat?«
»Nicht nötig.«
»648. 648 gekringelte und gefranste Schnörkel!«
Frost hob die Hände. »Okay, okay. Ich glaube Ihnen. Meine Güte, Payne, Sie sind ja schlimmer als ich.«
»Also, heißt das, Sie lassen mich arbeiten?«
Frost ließ ihn eine Weile schmoren, während sie ihren Tee trank und ein paar Bissen von Helens vorzüglichen Scones aß. Ja, sie hatte den Pinkerton angeheuert und ihm sogar eine geschäftliche Partnerschaft angeboten. Er konnte gut mit Waffen umgehen, und sie konnte seine Expertise und Erfahrung als Pinkerton sehr gut gebrauchen. Außerdem hatte sie im Gegenzug versprochen, ihm bei der Suche nach seiner verschwundenen Tochter zu helfen.
Aber die Verletzung, die er davongetragen hatte, war nicht gerade ein Kratzer gewesen, auch wenn er das immer wieder behauptete. Sie wollte das Risiko nicht eingehen, dass er unterwegs irgendwo krepierte. Allerdings war ihr neuer Auftrag ziemlich wichtig – und die Zeit drängte. Sie könnte seine Hilfe wirklich gebrauchen.
»In Ordnung«, sagte sie dann, und Paynes Gesicht hellte sich auf. »Willkommen im Team. Sie können mir gleich damit helfen, diese Akten da durchzusehen.« Sie deutete mit dem angebissenen Scone auf das Paket neben ihnen auf dem Schreibtisch.
Payne stellte seine Tasse ab, öffnete das Packpapier und nahm die oberste Akte heraus. »Worum geht es? Ein neuer Auftrag?«
Frost gab ihm die Kurzfassung. »Wir haben also etwas weniger als drei Tage Zeit, um den Prototypen zu finden. Hier, sehen Sie.« Sie wühlte in den Papieren und zog ein Lichtbild heraus. Sie reichte es Payne. »Dies ist die Waffe. Dr. Baxter demonstrierte mir, wie sie funktioniert. Sagt Ihnen der Name Nikola Tesla etwas?«
Payne schaute auf. »Ich glaube, ich habe einmal etwas in der Zeitung über ihn gelesen. Er arbeitet für Edison und leitet dessen Werkstatt. Angeblich baut er in seiner Freizeit merkwürdige Apparaturen und experimentiert mit Elektrizität und Aether.«
»Dr. Baxter erwähnte, dass er und seine Leute eine solche Erfindung dieses Tesla modifiziert und in die Waffe eingebaut haben. Elektrizität war auf jeden Fall mit im Spiel, ebenso eine konzentrierte Form von Aether.« Sie schauderte, als sie an den grellen Lichtblitz, den Knall und das riesige Loch in der Wand dachte.
»Interessant« war alles, was Payne dazu sagte. Er steckte sich den letzten Bissen Scone in den Mund und blätterte durch die Akten. »Und alle diese Männer und Frauen hier sind Verdächtige?«
»Bis auf Weiteres, ja. Wir müssen den Kreis einengen, sonst sind wir in einer Woche noch keinen Schritt weiter.« Frost teilte den Stapel in zwei etwa gleich große Teile.
Eine Weile arbeiteten sie sich schweigend durch die Mappen. Helen kam ab und zu aus der Küche und brachte ihnen frischen Tee und Sandwiches.
»Was macht ein strong water handler?«, fragte Frost und starrte dabei mit gerunzelter Stirn auf ein Personalblatt. »Läuft der mit starkem Wasser herum?«
Payne lachte. »Das ist Salpetersäure. Salpeter wird für Schwarzpulver gebraucht, und Salpetersäure wird für Sprengstoff und Dünger verwendet. Ich habe eine Wissenschaftlerin zur Frau, man schnappt ein paar Dinge auf«, fügte er schulterzuckend an.
»Das mit dem Schwarzpulver wusste ich«, gab Frost zurück und legte die Akte des Salpetersäuremannes auf den Stapel mit den aussortierten Arbeitern.
Am Ende lagen nur noch vierzehn von ehemals 63 Mitarbeitern auf der Seite der Verdächtigen. Frost ging sie der Reihe nach durch. Sie war etwas überrascht, dass sie Mr. Sanderson, den Privatsekretär des Besitzers der Fabrik, darunter fand. Vier von sechs Wachmännern, drei Dampftechniker, zwei Laboranten und vier Mechaniker waren übrig geblieben. Frost notierte sich alle Namen in ihrem Notizbuch und lehnte sich seufzend im Sessel zurück.
»Das wird ein Haufen Arbeit«, klagte sie. »Wir haben nur drei Tage Zeit. Das sind 72 Stunden, wohl eher weniger. Sagen Sie Ihrer Frau, Payne, dass Sie bis dahin etwas später nach Hause kommen werden.«
»Sie ist sowieso ständig in Greenwich. Sie wird mich kaum vermissen.«
»Das ist nicht komisch. Ihre Frau hat mich nach Ihnen suchen lassen, weil Sie fast zwei Monate lang verschwunden waren. Sie sind gerade erst wieder zurück.«
»Sehen Sie? Es hat fast zwei Monate gedauert, bis sie mich hat suchen lassen.« Er grinste und fing an, sich eine Zigarette zu drehen. »Sie haben gestern Nacht wieder eine Leiche aus der Themse gefischt.«
Payne wechselte so abrupt das Thema, dass Frost verwundert die Augenbrauen hob. »Scotland Yard fischt ständig Leichen aus der Themse. Irgendein Betrunkener stürzt jeden Abend von einer Brücke.«
Das Streichholz zischte. »Es ist diesmal ein Junge, sie schätzen ihn auf vierzehn Jahre. Er hat eine mechanische Hand.«
Frost beugte sich nach vorne. »War da nicht etwas Ähnliches letzte Woche? Es stand etwas in der Zeitung darüber.«
Payne nickte. »Cecilia und ich waren auf dem Heimweg von hier. Wir sahen zu, wie sie die beiden Jugendlichen aus dem Wasser gefischt haben. Einen Moment lang dachte ich, bei dem Mädchen handelte es sich um Annabella. Sie hatte ein mechanisches Knie. Und der Junge hatte einen Arm aus Metall.«
Frost runzelte die Stirn und griff sich unwillkürlich an den Nacken. Unter dem Stoff konnte sie die vernarbte Haut an den Rändern der Metallplatte spüren, die sich zwischen ihren Schulterblättern befand. Um das Schlüsselloch zu erreichen, musste sie sich jedes Mal beinahe den Arm ausrenken, doch es war überlebenswichtig für sie. Zog sie ihr mechanisches Herz nicht regelmäßig auf, würde es einfach stehen bleiben.
Der Moment verflog, und sie schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen. »Scotland Yard wird sich darum kümmern, da bin ich mir sicher«, sagte sie matt und stand auf, um sich die Glieder zu recken. »Kommen Sie, ich habe Hunger. Mit leerem Magen kann ich nicht arbeiten. Mögen Sie chinesisches Essen?«
»Nicht sonderlich.« Payne stand ebenfalls auf und klemmte die Zigarette in den Mundwinkel. Frost reichte ihm seinen Mantel.
»Gewöhnen Sie sich daran, Payne.« Frost war zwar nicht gerade scharf darauf, ins chinesische Viertel zu gehen, doch Mr. Wong hatte einfach das beste Essen der Stadt. Die Sache mit Michael Cho und das anschließende Gespräch mit Madame Yueh, der Patriarchin des