dem Essen gingen sie zurück ins Büro. Frost wühlte durch die Akten, die sie von Baxter bekommen hatte, bis sie das Bild fand, das sie brauchte. Sie steckte es in ihre Umhängetasche.
»Ich will ein paar Erkundigungen unten in den Docks einholen«, sagte sie zum Pinkerton, der gerade dabei war, sich eine neue Zigarette zu drehen. »Kommen Sie mit?«
Er schüttelte den Kopf. »Später vielleicht. Ich möchte zuerst einen alten Freund besuchen.«
»Ich hoffe, Ihr alter Freund hat etwas mit dem Auftrag zu tun, Payne. Sie wissen, dass wir nicht viel Zeit haben.« Frost war sich bewusst, dass sie ihm gegenüber zu hart war, aber warum musste er sie auch darum bitten, bei Scotland Yard einzubrechen?
Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern nahm ihren Mantel und ihren Schal und eilte hinaus auf die Straße.
Auf dem Weg zu den Docks stählte sie sich für die Begegnung mit Michael Cho. Sie hatte ihn seit seinem Heiratsantrag nicht mehr gesehen, doch dieses Mal konnte sie die Begegnung mit ihm nicht mehr vermeiden. Als einer der Köpfe der Dragons wusste er, was auf dem Schwarzmarkt gehandelt wurde. Sie könnte sich zwar an jemand anderen wenden, aber bei Michael bekäme sie schnellere Antworten.
Sie wusste immer noch nicht, wie sie ihm antworten sollte. Sein Antrag hatte sie völlig überrumpelt. Michael und sie kannten sich seit ihrer gemeinsamen Kindheit unter Madame Yuehs Obhut, Michael war wie ein großer Bruder für sie. Aber seit er ein lóngtóu war, ein Drachenkopf, hatte er sich sehr verändert. Frost wusste nicht, was die Organisation von ihren sieben Bossen verlangte, doch Michaels Wandel gefiel ihr nicht.
Wenn sie ihn heiratete, würde sie ihre Freiheit aufgeben müssen. Sie würde die Agentur nicht mehr weiterführen können. Sie würde wieder ganz der Organisation gehören, wäre wieder ihr Werkzeug und ihre Waffe.
Madame Yueh hatte dies alles angedeutet, als Frost das lange und zermürbende Gespräch mit ihr geführt hatte. Es hatte gleich nach Michaels Antrag stattgefunden, und Frost war völlig durcheinander gewesen. Der Geruch des Weihrauchs vom Opferaltar in der Ecke des einfach eingerichteten Zimmers hatte ihr Übelkeit verursacht. Madame Yueh hatte auf dem Stuhl auf dem Podest gesessen und sie lange angeschaut, Frost in der Mitte des Raumes gekniet und nicht gewagt, den Blick zu heben.
»Lydia«, hatte sie mit ihrer rauen Stimme gesagt, »wir haben viel zu besprechen.«
Frost wartete schweigend, bis sie weiterredete. Etwas, das sie sehr früh gelernt hatte, war, ihre Ziehmutter niemals und unter keinen Umständen zu unterbrechen.
»Ich will mich nicht lange mit Höflichkeiten aufhalten, meine Gelenke schmerzen heute fürchterlich.« Frost hörte ihre Seidenrobe knistern, als sie sich im Stuhl aufrichtete. »Ich bin enttäuscht, Lydia. Dein Auftrag war, das Buch zu stehlen und es mir zurückzubringen. Warum hast du es zurückbehalten? Dachtest du, du könntest dir damit einen Vorteil erkaufen?«
Frost schaute auf. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Hatte sie wirklich geglaubt, Madame Yueh austricksen zu können? »Ich brauchte etwas mehr Zeit, mǔqīn.« Sie redete sie mit Mutter an und hoffte, dass sie damit etwas von ihrem Zorn besänftigte. Doch das Gesicht der alten Frau blieb eine Maske.
»Ich bin wirklich enttäuscht«, sagte Madame Yueh noch einmal. »Michael hat mir berichtet, dass du ihn angelogen und getäuscht hast. Dass du dich der Organisation widersetzt hast. Und damit auch mir.«
»Ich will nur meine Freiheit, mǔqīn«, erwiderte Frost und musste sich dazu zwingen, ihre Stimme ruhig zu halten. Madame Yueh würde jede Gefühlsregung sofort ausnutzen. »Ich fühlte mich geehrt, dass Ihr mir diesen Auftrag gegeben habt. Aber ich wollte sehen, wie weit ich gehen konnte. Ich gehöre nicht mehr der Organisation an.«
Jetzt schlich sich ein schmales Lächeln in Madame Yuehs Gesicht. Sie fing an zu lachen. Es war das raue Lachen einer alten Frau, trocken und hoch. Sie klopfte mit ihrem Gehstock zwischen den Knien auf den Boden, was wohl einem Schenkelklopfen gleichkam.
Frost wartete, bis das Lachen verklungen war. »Ich verstehe nicht ganz, was daran so komisch ist.«
Madame Yueh stand ächzend auf und stieg vom Podest. »Michael hat mir ebenfalls erzählt, dass er gedenkt, dich zu heiraten. Er hat mich um meinen Segen gebeten.« Frost ballte die Hände zu Fäusten und starrte auf die Holzdielen direkt vor ihren Knien. »Ich halte das für eine gute Idee. Vielleicht wirst du dann endlich vernünftig, Lydia. Frauen in deinem Alter sollten heiraten und etwas zur Familie beitragen.«
Frost kochte innerlich. Mit Familie meinte sie natürlich die Organisation. Hier in Chinatown gab es nichts anderes, was von Bedeutung war. Nahm sie den Antrag an, wäre sie für immer an die Dragons gebunden.
»Mutter, darf ich offen sprechen?«
»Natürlich, mein Kind.« Madame Yuehs Stimme war etwas sanfter geworden. Sie stand nun direkt vor ihr, die Hände auf den Gehstock gestützt. Ihr rotes Seidengewand schimmerte im Aetherlicht.
Frost atmete tief durch. »Ich will nicht heiraten. Weder Michael noch sonst jemanden. Ich will mein eigenes Leben und mein eigenes Geschäft.« Lange blieb es still, und Frost befürchtete bereits, dass sie ihre Ziehmutter beleidigt hatte. Gleich würde der Gehstock schmerzhaft auf sie niedersausen, wie damals, als sie sich trotzig geweigert hatte, Chinesisch zu lernen. Doch als sie aufschaute, sah sie etwas Neues in dem starren Gesicht der alten Frau. War es Respekt? Oder Akzeptanz?
Madame Yueh drehte sich um und ging zurück zu ihrem Stuhl. »Wie du vielleicht weißt, Lydia, war mein Mann in Shanghai ein sehr mächtiger Geschäftsmann. Meine Familie wurde damals ausgesucht, ihm die Ehefrau zu stellen, weil wir ehrenvolle und respektable Händler in Diensten des Kaisers waren. Die Heirat mit mir verlieh seinen Geschäften einen noblen Anstrich. Ich wurde also von meinem Vater an meinen zukünftigen Ehemann weitergereicht – wie wertvolle Ware. Meine Klugheit half mir jedoch, die Geschäfte meines Mannes sehr schnell zu durchschauen und mir innerhalb seiner Organisation viele Freunde zu machen. Als er nach wenigen Jahren plötzlich verstarb, nahm ich die Zügel in die Hand. Wie du weißt, florieren die Geschäfte seither.«
Frost kannte die Geschichte. Innerhalb der Organisation wurde hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, dass Madame Yueh ihren Mann entweder hatte umbringen lassen oder selbst ermordet hatte, um seine Geschäfte zu übernehmen. Frost hatte nie herausgefunden, wann genau das passiert war und welche Version der Geschichte nun tatsächlich der Wahrheit entsprach. Der Kern jedoch stimmte. Madame Yueh führte die Organisation seit Jahrzehnten und hatte sie zum mächtigsten Imperium außerhalb des Mutterlandes gemacht.
»Was ich damit sagen will, mein Kind, ist, dass ich deinen Willen respektiere. Keiner Frau sollte die Möglichkeit verwehrt werden, ein eigenes Geschäft aufzubauen.«
Verwundert schaute Frost auf. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Gab es für sie und ihre Agentur doch noch eine Chance?
»Wie ich sehe, hast du verstanden, was ich damit meine, Lydia. Ich schlage dir einen Handel vor. Du kannst deine Agentur behalten und weiterhin versuchen, ein Leben außerhalb der Organisation zu führen. Damit du einen leichteren Start hast, werde ich dir alle paar Wochen Geld zukommen lassen. Allerdings verlange ich dafür, dass du weiterhin für mich arbeitest.« Sie hob die Hand, als Frost nach Luft schnappte, um zu protestieren. »Direkt für mich, ohne die Dragons dazwischen. Du wirst keine Fragen stellen, sondern tun, was ich dir auftrage. Was meinst du, kommen wir ins Geschäft?«
Frost nagte an der Unterlippe. Es klang verlockend, sehr sogar. Sie würde ihr altes Leben behalten können und sogar finanzielle Hilfe von Madame Yueh empfangen, um über die Runden zu kommen, falls sich wie bisher nur wenige Klienten einstellten. Allerdings behagte ihr der Umstand, exklusiv für ihre Ziehmutter zu arbeiten, nicht wirklich. Einen Haken hatte die Sache garantiert.
»Muss ich dafür auch Michael heiraten?«, fragte sie, ohne zu überlegen.
Madame Yueh schmunzelte. »Ich habe lediglich meinen Segen dafür gegeben. Es wäre gut für Michael, sich eine Frau zu nehmen, nun, da er in einer so wichtigen Position steht. Aber es ist deine Entscheidung. Deine Antwort auf seinen Antrag beeinträchtigt