Luzia Pfyl

Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel


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so verworren an. Der Deal mit Madame Yueh hatte garantiert eine Kehrseite, doch das Risiko musste Frost eingehen. Mit Michael würde sie schon fertigwerden, wenn der Zeitpunkt dafür gekommen war.

      Wieder holte sie tief Luft und schaute Madame Yueh mit festem Blick an. »Ich bin einverstanden.«

      Die alte Patriarchin klatschte in die Hände. »Wunderbar.«

      Das Bimmeln einer entgegenkommenden Straßenbahn riss Frost aus der Vergangenheit. Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie, dass sie ihre Station erreicht hatte und sprang ab. Auf dem Gehweg gab es kaum ein Durchkommen. Frost hatte vergessen, dass heute Markttag war. Die gesamte Garnet Street war vollgestellt mit Ständen und Tischen, über die man bunte Markisen gespannt hatte. Verkäufer und Käufer riefen laut durcheinander. An einem Stand pufften Apparaturen kleine Dampfwölkchen aus diversen Löchern. Zwei Tische weiter gab ein Feuerspucker sein Können preis.

      Auch wenn Frost diese Markttage in Chinatown liebte, so hatte sie heute kein Auge dafür. Sie drängte sich durch die Menge, bis sie die richtige Gasse erreichte, in deren Schatten sie eintauchen konnte. Sie musste Michael finden.

      Payne sah die Faust nicht kommen. Er stand vor dem Büro von Newman, Lord Greysons Sicherheitschef, und wartete darauf, dass man ihn einließ. Zwei Männer saßen neben der Tür auf einer Holzbank und kauten Tabak. Payne registrierte die Ausbuchtung unter ihren Jacken und befand, dass die beiden Männer Holster und Waffen trugen. Sein Kontaktmann hatte entweder hohen Besuch oder brauchte selbst solchen Schutz. Für einen kurzen Augenblick fragte Payne sich, warum.

      Einer der Männer betrat auf ein unsichtbares Kommando hin das Büro, schloss die Tür hinter sich und kam gleich darauf wieder heraus. Das war der Moment, in dem die Faust geflogen kam. Heißer Schmerz explodierte in Paynes Kiefer, und sein Kopf schrammte an der Wand, an die er sich gelehnt hatte, entlang. Die halb gerauchte Zigarette flog in weitem Bogen durch den Flur und landete auf dem Boden, wo sie der zweite Mann mit dem Stiefel austrat.

      Payne wartete mit zusammengekniffenen Augen auf den zweiten Schlag, doch als der nicht kam, richtete er sich vorsichtig auf. Der Mann, der ihm die Faust verpasst hatte, stand direkt vor ihm und starrte ihn feindselig an. Er war etwas kleiner als Payne und hatte sich seit mindestens vier Tagen nicht mehr rasiert. Payne roch den Kautabak und den alten Schweiß, der am speckigen Halstuch klebte.

      Jemand erschien hinter dem Mann in der Tür des Büros. Es war Newman, wie immer in einen tadellosen Anzug gekleidet. Er lehnte sich an den Türrahmen und fing in aller Seelenruhe an, seine Pfeife neu zu stopfen.

      »Mr. Payne«, sagte er wie beiläufig, »ich dachte schon, Sie hätten uns vergessen.«

      »Der Kratzer hat mich etwas mehr als erwartet außer Gefecht gesetzt.«

      »Ich bin sehr enttäuscht von Ihnen.«

      »Ich kann alles erklären.«

      Der Mann im Anzug hielt im Stopfen seiner Pfeife inne und gab mit einem Blick seinen zwei Wachhunden zu verstehen, dass sie beiseitetreten sollten. Payne wischte sich mit der Hand über den Mund und rückte seine Kleidung zurecht. Er konnte bereits jetzt den blauen Fleck spüren, der spätestens morgen früh seinen Kiefer zieren würde. Die Blicke der Wachhunde bohrten sich in seinen Rücken, als er Newman ins Büro folgte.

      »Sie haben nicht zufälligerweise das Buch dabei, das Sie uns zurückbringen sollten?«, fragte Newman und kramte in seiner Jackentasche nach Streichhölzern. Er bot Payne keinen Platz an.

      »Nein«, gab Payne zerknirscht zu. Die Sache mit dem Folianten, den Frost gestohlen hatte und den er eigentlich ihr abnehmen sollte, war ziemlich kompliziert. Newman würde ihm wohl kaum ein Wort glauben.

      »Und wieso nicht? Ich dachte, ich hätte Ihnen einen klaren Auftrag erteilt.« Als Payne schwieg, fixierte Newman ihn mit einem wütenden Blick. »Erklären Sie mir bitte, warum ich erfahren musste, dass Sie nun sogar gemeinsame Sache mit der Schlüsselmacherin machen? Angeblich arbeiten Sie jetzt für sie. Wie hat sie Sie um den Finger gewickelt, hm?« Newman redete sich in Rage. »Sie arbeiten für mich, verdammt! Sie hatten einen Auftrag, den Sie vermasselt haben, und ich will verdammt noch mal eine Erklärung dafür.«

      Payne steckte die Hände in die Hosentaschen und bemühte sich darum, eine gelassene Haltung zu wahren. Innerlich brodelte er jedoch. Ja, Newman war zurecht wütend, und er hätte früher hierherkommen sollen, um die Sache zu erklären. Dennoch konnte er nun nichts mehr daran ändern.

      »Es war nicht der Russe. Sie hat für die Chinesen gearbeitet.«

      Newman runzelte die Stirn. »Die Dragons? Herrgott noch mal, Payne. Was haben Sie sich dabei gedacht, mit denen gemeinsame Sache zu machen?«

      »Hm, ich weiß nicht, vielleicht, weil man mehrere Male versucht hat, mich umzubringen?«

      »Sparen Sie sich Ihren Sarkasmus.« Newman paffte wütend seine Pfeife. »Sie sind gefeuert.«

      Damit hatte er gerechnet, also nickte er nur. Wenn er ehrlich war, hätte er selbst gekündigt, wenn Newman ihn nicht rausgeworfen hätte. Auch wenn es Wahnsinn war, die beste Quelle für den Londoner Untergrund zu verlassen. Wie sollte er nun ohne Newmans Ressourcen den Russen ausfindig machen?

      Payne nickte und machte Anstalten, das Büro zu verlassen, als Newman ihn zurückhielt. »Da fällt mir ein, vor ein paar Wochen hat sich ein Amerikaner in einer von Lord Greysons Reedereien nach einem Pinkerton erkundigt. Es wurde mir lediglich gemeldet, weil der Mann darauf bestanden hatte, die Passagierlisten zu sehen und dabei sehr ausfallend geworden ist. Ein Freund von Ihnen?«

      Payne runzelte die Stirn. Was hatte Frost erzählt? Beim Mann, der sie direkt vor der Agentur angegriffen hatte, waren amerikanische Dollars gefunden worden. Ob das derselbe Mann war?

      Für einen kurzen Moment veränderte sich das Gefüge des Raumes, und Paynes Herz begann zu rasen. Hastig kniff er die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Nein, niemand wusste, dass er die Staaten verlassen hatte. Sie konnten ihn nicht gefunden haben. Es gab bestimmt noch mehr Pinkertons in London. Es musste ein Zufall sein. Oder?

      »Mr. Payne, ich habe heute noch sehr viel zu tun.«

      Der Raum kam zurück in den Fokus, und Payne schluckte hart. Seine Kehle war staubtrocken. Dann nickte er und verließ Newmans Büro.

      Der alte Mann saß an einem Ecktisch im Pub und nippte an einer Tasse Tee, als Inspektor Jones und Constable Manju sich zu ihm setzten.

      »Inspektor Welsh, vielen Dank, dass Sie uns treffen konnten«, fing Jones an, doch der alte Mann winkte ab.

      »Ich bin schon zu lange in Rente, um noch Inspektor genannt zu werden, Inspektor.« Er machte eine kurze Pause und musterte dabei Manju. »Ich habe gehört, dass sie nun auch Frauen ins Yard lassen.«

      »Constable Nilima Manju, Sir. Es ist mir eine Ehre. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.« Manju lächelte. Ihre vielen Armreife klimperten, als sie die Hände auf der Tischplatte faltete.

      »Sie sagten, es geht um einen meiner alten Fälle?«

      Jones schmunzelte. Man hatte ihn gewarnt. Basil Welsh war kein Mann für Höflichkeitsfloskeln und Smalltalk. »Das tut es, Sir.« Er holte die vergilbte Akte aus seinem Mantel und schob sie zu Welsh über den Tisch.

      »Ah«, sagte er, als er seine eigene Handschrift darauf sah. »Ich hatte schon fast damit gerechnet, dass jemand aus dem Yard damit zu mir kommt. Die Zeitungen sind voll davon, seit sie die ersten beiden aus der Themse gezogen haben.« Seine Hände bebten, als er nach der Tasse griff. »Schreckliche Sache.«

      »Inspektor … Mr. Welsh, gibt es etwas, das Sie uns erzählen können, was nicht in der Akte steht?«

      Welsh blickte auf. »Jones war der Name, nicht? Wie lange sind Sie schon im Yard?«

      Jones blinzelte überrascht. Was hatte das mit dem Fall zu tun? »Nächstes Jahr sind es 15 Jahre, Sir. Davor war ich sechs Jahre in Edinburgh