Nadine Erdmann

Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel


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die Brandschutzverordnung und eine Kopie der Schulordnung. Die lest ihr bitte bis zum Ende des Schultags durch und gebt sie mir dann unterschrieben zurück. Außerdem habt ihr hier noch eine Liste mit allen Workshops, AGs und Clubs, die in diesem Semester angeboten werden. Eins dieser Angebote müsst ihr euch als Wahlpflichtveranstaltung aussuchen. Eure Stundenpläne bekommt ihr gleich von Direktorin Carroll. Sie möchte noch kurz mit euch sprechen, bevor es losgeht.«

      Während Cam noch den Zettelwust sortierte, fragte Jules: »Ich würde gerne in die Basketball-AG, wenn das okay ist?«

      »Und ich in die Kunstwerkstatt?«, schob Ella gleich hinterher.

      »Sicher. Natürlich. Ich trage euch gleich ein.« Ms Margret wirkte erfreut, dass die beiden sich offensichtlich schon auf der Homepage über das Angebot schlaugemacht und etwas gefunden hatten, das sie interessierte.

      Sie blickte zu Cam. »Was ist mit dir? Weißt du auch schon, in welchen Wahlpflichtkurs du gehen möchtest?«

      Cam zog die Liste aus dem Zettelberg. Seine Finger waren eiskalt und seine Hände zitterten.

      Verdammte Unruhe.

      An die zwanzig Kurse standen auf der Liste und er überflog die Einträge.

      Basketball, Fußball, Leichtathletik, Kunstwerkstatt, Schach, Chor, Tanz, Theater, Computer, Naturwissenschaften, Ernährungslehre, Erste Hilfe …

      Sein Herz pochte zu schnell und die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Rasch blinzelte er ein paar Mal und zwang sich, tief durchzuatmen.

      Mann, krieg das in den Griff! Es ist nur irgendein blöder Extrakurs!

      »Keine Sorge«, hörte er Ms Margrets Stimme durch das Rauschen in seinen Ohren. »Du musst das nicht jetzt sofort entscheiden. Schau dir die Liste ganz in Ruhe in der Mittagspause an. Und wenn du Fragen hast – die Namen der Ansprechpartner stehen neben den Kursen. Innerhalb der ersten beiden Wochen des Schuljahres darfst du auch in mehrere Kurse reinschnuppern, bevor du dich endgültig entscheiden musst. Sag mir einfach heute nach der Schule Bescheid, was dich interessiert.«

      »Danke, das mache ich.« Cam war froh, dass er einen Aufschub bekam, und dass sich seine Stimme nicht so gepresst anhörte, wie sein Inneres sich gerade anfühlte. Er schaffte sogar ein kleines Lächeln, als er den ganzen Papierkram in seinen Rucksack stopfte.

      »Prima. Dann meldet euch jetzt bei Direktorin Carroll.« Ms Margret deutete auf die Tür zum Büro der Schulleiterin. »Klopft einfach an. Sie erwartet euch schon.«

      Direktorin Carroll war eine wohlbeleibte Afrobritin Ende fünfzig, und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten die drei Hunts schon vor Jahren an ihre Schule kommen dürfen. Doch der Stadtrat hatte den Modellversuch immer wieder abgelehnt und auch im Kollegium sowie bei Schülern und Eltern hatte erst einiges an Überzeugungsarbeit geleistet werden müssen. Jetzt war Carroll jedoch ihre Zufriedenheit darüber, dass endlich alles geregelt war und ihre Schule ein längst überfälliges Zeichen für ein gemeinsames Miteinander und eine neue Form von Offenheit setzen konnte, deutlich anzusehen.

      Cam, Jules und Ella kannten die Direktorin schon von verschiedenen Gesprächen, die sie im Vorfeld geführt hatten, und Cam fand sie ganz okay. Sie schien ihre Unterstützung ernst zu meinen und ihr Lächeln wirkte immer echt. Auch jetzt, als sie die drei in ihrem Büro ganz offiziell als Schüler der Ravencourt Comprehensive willkommen hieß.

      »Ich freue mich, dass ihr endlich hier sein dürft, und ich hoffe, dass ihr euch bei uns wohlfühlen werdet.« Sie reichte ihnen ihre Stundenpläne. »Um euch den Einstieg zu erleichtern, haben wir euch dieselben Kurse zugewiesen. Eure Großmutter hat einen wirklich guten Job mit euch gemacht und ihr habt die Einstufungstests mit Bravour bestanden. Ich glaube nicht, dass ihr mit eurem Abschluss im nächsten Jahr Probleme bekommen werdet. Obwohl du deinem Alter nach eigentlich ein Jahr unter deinen Brüdern eingestuft werden müsstest«, fügte Carroll an Ella gewandt hinzu. »Doch ich fürchte, da würdest du dich langweilen. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, in eurem Jahrgang die Jüngste zu sein.«

      Ella schüttelte den Kopf. »Nein, das stört mich überhaupt nicht, keine Sorge. Das kriege ich schon hin.«

      Das bezweifelte Cam nicht im Geringsten.

      Ella war zwar klein und zierlich, aber definitiv kein Push-over. Dafür hatten Sky und Gabriel mit ihrem Selbstverteidigungstraining gesorgt. Nicht, dass Ella das bisher jemals gebraucht hatte. Zum Glück. Sie hatte zwar ihren eigenen Kopf und setzte den auch durch, wenn ihr etwas wichtig war, doch sie war dabei immer so ehrlich, entwaffnend und liebenswert, dass die meisten Menschen sie schnell in ihr Herz schlossen. Oft sogar selbst die, die Totenbändigern vorsichtig oder ablehnend gegenüberstanden.

      »Prima.« Die Direktorin lächelte zufrieden und sah dann von einem zum anderen. »Ms Margret bringt euch gleich zu eurem ersten Kurs. Ich wünsche euch einen guten Start hier bei uns und wenn ihr irgendwelche Fragen oder Probleme habt, steht meine Tür euch immer offen.«

      »Danke.«

      Während ihres Begrüßungsgesprächs hatte die Glocke zur ersten Stunde geläutet und als Ms Margret die drei zu ihrem Kursraum brachte, waren die Gänge bereits leer.

      Auch im Inneren wirkte die Ravencourt hell und freundlich. Bunte Spinde standen entlang der Flure und an den Wänden hingen Poster zu verschiedenen Workshops, AGs und anstehenden Schulveranstaltungen. Außerdem gab es gerahmte Fotografien von Theateraufführungen und Chorauftritten und in Vitrinen standen Ausstellungsstücke von Kunstkursen sowie Sportpokale und Mannschaftsfotos.

      Eigentlich alles ganz nett und Cam konnte Ella und Jules ansehen, wie sehr sie sich freuten, hier zu sein und die Chance zu bekommen, überall mitzumachen.

      Er seufzte innerlich.

      Warum konnte er sich nicht genauso fühlen?

      Unwirsch zerrte er wieder an seiner Krawatte und blickte zu Jules, auch wenn er es in letzter Zeit eher vermied, ihn zu betrachten. Das weckte nur immer wieder dieses sehnsüchtige Ziehen in seinem Inneren, das er irgendwie in den Griff bekommen musste.

      Doch leider sah Jules selbst in der blöden Schuluniform verboten gut aus. Groß, schlank und sportlich, mit diesen krassen schneeweißen Haaren, die er nur durchzuwuscheln brauchte, damit sie lässig und cool aussahen. Dazu die braunen Augen, die er von Phil geerbt hatte, und in denen der gleiche warme Glanz wie bei seinem Vater lag. Und wenn er lächelte, hatten sie dieses Funkeln, das Cam seit einiger Zeit ziemlich deutlich spüren ließ, dass er liebend gern nicht mehr nur Jules bester Freund und Pflegebruder gewesen wäre.

      Aber die Chancen, mehr zu sein, lagen bei null.

      Jules wollte nichts Festes.

      Schon gar nicht jetzt, wo die Schule losging.

      Genau wie Ella war er offen und kontaktfreudig und hatte so eine Art an sich, die ihm alle Herzen zufliegen ließ. Er hatte eine Clique im Park, in der er der einzige Totenbändiger war. Trotzdem war es für ihn kein Problem gewesen, dort akzeptiert zu werden. Sie spielten Basketball, trafen sich hin und wieder zum Fußball oder fürs Kino oder hingen einfach nur zusammen herum.

      Immer wieder versuchte Jules, auch Cam mitzunehmen, doch obwohl die Clique ganz nett war, fand Cam die Gesellschaft der anderen meistens schnell anstrengend. Menschen waren einfach nicht sein Ding und er war schon froh, wenn ihm hin und wieder jemand sympathisch genug war, dass er in dessen Gegenwart nicht das Gefühl hatte, ständig wachsam sein zu müssen. Und dass er jemandem außerhalb seiner Familie vertraute, hatten bisher nur Thaddeus und Connor geschafft, und die gehörten eigentlich auch zur Familie, deshalb war Cam sich nicht sicher, ob die beiden wirklich zählten.

      Cam blieb einfach lieber für sich. Er fuhr gerne Skateboard oder ging joggen. Sich zu bewegen, half, die Unruhe in Schach zu halten. Er hing auch gerne mit seinen Geschwistern ab. Oder alleine mit Jules. Dann zockten sie Computerspiele oder schauten ihre Lieblingsserien. Und wenn Jules nachts mitbekam, wie die Todesangst Cam gefangen hielt, schaffte er es immer, ihn da rauszuholen. Für Cam bedeutete das alles, doch für Jules war es leider nicht genug.