Harries. In seiner Geburtsstadt, die zum Herzogtum Schleswig und damit zum Königreich Dänemark gehörte, wirkte Harries als Schriftsteller und Pfarrer. Mit Begeisterung hatte er die Französische Revolution im Juli 1789 aufgenommen, war sich aber sicher, einen solchen Umbruch brauche sein Land nicht, da hier Forderungen wie Pressefreiheit oder Aufhebung der Leibeigenschaft bereits verwirklicht waren. Seinem Landesherrn fühlte er sich dankbar verbunden, so dass er sein Lied am 27. Januar 1790, zwei Tage vor dem 41. Geburtstag König Christians VII. (1749–1808) im »Flensburger Wochenblatt für Jedermann« veröffentlichte. Es begann mit den Worten »Heil dir, dem liebenden Herrscher des Vaterlands! Heil, Christian, dir!«.
In Dänemark wurde dieses Lied nicht populär, auch wäre die Entstehungsgeschichte verloren gegangen, hätte nicht der in Kiel geborene Jurist Balthasar Gerhard Schumacher (1755–1802) Kenntnis von diesem Lied erlangt und dieses umgedichtet. Seit 1793 lebte er in Berlin, er verkürzte Harries’ Fassung auf fünf Strophen und veröffentlichte sie als »Berliner Volksgesang« zu Ehren des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. (1744–1797) am 17. Dezember 1793 in der »Spenerschen Zeitung«. Ein Verweis auf die Urfassung unterblieb – erst Jahrzehnte später stellte sich heraus, dass Schumacher ein Plagiat vorgelegt hatte – doch die Melodie, also die britische Königshymne war angegeben. »Heil dir im Siegerkranz« erklang erstmals im Königlichen Nationaltheater Berlin am 25. September 1795 in Gegenwart Friedrich Wilhelms II. zu Ehren seines 51. Geburtstags. Schnell wurde es im ganzen Land bekannt und beliebt und galt seitdem als preußische Herrscherhymne, die an den Geburtstagen des Landesherrn, Thronjubiläen und anderen offiziellen Feiern gespielt und gesungen wurde. In den kommenden Jahren, nach Gründung des Deutschen Bundes 1815, nahmen sich die Königreiche Bayern, Hannover und Württemberg, die Großherzogtümer Hessen und Baden sowie die Fürstentümer Anhalt und Schaumburg-Lippe ein Vorbild an der Preußenhymne und ehrten mit entsprechender Abweichung bei Beibehaltung der englischen Melodie ihren jeweiligen Landesherrn, in Bayern etwa mit »Heil, unserm König, Heil!«. Die Melodie wird dem englischen Dichter und Komponisten Henry Carey (1687–1743) zugeschrieben.
Mit Gründung des Deutschen Kaiserreichs und der Ausrufung des preußischen Königs Wilhelm zum Deutschen Kaiser Wilhelm am 18. Januar 1871 wurde aus der Preußenhymne die Kaiserhymne. Als solche wurde sie erstmals am Tag der Proklamation im Spiegelsaal des Versailler Schlosses gespielt und gesungen, wie der
Abb. 5: Flagge des Deutschen Kaiserreichs mit der Aufschrift »Heil Dir im Siegerkranz«, Postkarte von 1914.
Historiker und Verleger Theodor Toeche-Mittler (1837–1907), ein Teilnehmer der Festversammlung, rückblickend schilderte:16
»Die Stille in der Versammlung hielt nach dieser Verkündigung noch einen Augenblick an. Da verneigte sich der Großherzog von Baden gegen den Kaiser und bat um die Erlaubnis, an die Versammlung sich zu wenden. In dem er mit freudig lauter, klangvoller Stimme rief: ›Seine Kaiserliche und Königliche Majestät, Kaiser Wilhelm, lebe hoch! hoch! hoch!‹, entzündete er die allgemeine Begeisterung. Aber wie könnte man den Jubel schildern, der jetzt den Saal durchbrauste! Was aller Herzen erfüllte und überschwellte, brach sich in einem Hoch und Hurra Bahn, das dem Glücksgefühl dieses Augenblickes, der Liebe zum greisen Herrscher und dem Treueschwur für ihn Ausdruck gab. Die Helme wurden hoch geschwenkt, alle Augen leuchteten dem geliebten Herrn zu; sie füllten sich mit Tränen der Rührung und der Freude, die Fahnen senkten sich ihm zu Häupten; ›Heil Dir im Siegerkranz‹, erscholl es von den Musikkorps. Und wahrlich, die tiefe Bewegung des hohen Herrn selbst entfachte immer neue Zurufe.«
Abb. 6: Kaiserproklamation zu Versailles, 18. Januar 1871, Postkarte um 1900.
Mit diesem epochemachenden Ereignis hatte »Die Wacht am Rhein« als patriotisch-vaterländisches Lied weitgehend ausgedient, es wurde abgelöst von der »Kaiserhymne«. Bei den zahlreichen Feiern, so dem Reichsgründungstag, den Geburtstagen der Kaiser, dem Sedantag, der an die kriegsentscheidende Schlacht im Deutsch-Französischen Krieg und die Gefangennahme Kaiser Napoleons III. (1808–1873) am 2. September 1870 erinnerte, erklang stets »Heil dir im Siegerkranz«. Ebenso ertönte der Jubelgesang bei den vielen Denkmalseinweihungen zu Ehren Wilhelms, Bismarcks sowie der Teilnehmer und Gefallenen des Krieges von 1870/71:
Heil dir im Siegerkranz,
Herrscher des Vaterlands!
Heil, Kaiser, dir!
Fühl in des Thrones Glanz
die hohe Wonne ganz,
Liebling des Volks zu sein!
Heil, Kaiser, dir!
Nicht Ross und Reisige
sichern die steile Höh,
wo Fürsten stehn:
Liebe des Vaterlands,
Liebe des freien Manns
gründet den Herrscherthron
wie Fels im Meer.
Heilige Flamme, glüh,
glüh und erlösche nie
fürs Vaterland!
Wir alle stehen dann
mutig für einen Mann,
kämpfen und bluten gern
für Thron und Reich!
Handlung und Wissenschaft
hebe mit Mut und Kraft
ihr Haupt empor!
Krieger- und Heldentat
finde ihr Lorbeerblatt
treu aufgehoben dort
an deinem Thron!
Sei, Kaiser Wilhelm, hier
lang deines Volkes Zier,
der Menschheit Stolz!
Fühl in des Thrones Glanz
die hohe Wonne ganz,
Liebling des Volks zu sein!
Heil, Kaiser, dir!
Veröffentlicht war die Hymne in Kommersbüchern, eine größere Verbreitung fand sie jedoch in den unzähligen Liederbüchern, die zumindest in jedem bürgerlichen Haushalt vorhanden waren. So findet sich in »Erk’s Deutschem Liederschatz« (1879) unter der Rubrik »Vaterlandslieder« »Heil dir im Siegerkranz« neben den bereits zitierten Liedern »Die Wacht am Rhein«, »Des Deutschen Vaterland«, »Deutschland über alles« oder »Freiheit, die ich meine«. In dem prachtvoll ausgestatteten, illustrierten Band »Klänge aus aller Herren Länder« (1904) ist es gar an erster Stelle abgedruckt und wird als »Deutsche National-Hymne« bezeichnet. Als »Kaiserlied« steht es in einem ab 1890 in vielen Auflagen herausgegebenen Bändchen »100 der schönsten Volkslieder«. Aber auch die Choralliteratur und Posaunenbücher, die sich ab Ende des 19. Jahrhunderts an eine stetig wachsende Leserschaft wandten und die zwischen »Geistlichen Werken« und »Weltlichen Werken« differenzierten, enthielten »Heil dir im Siegerkranz« wie auch andere Vaterlandslieder.
In den süddeutschen Ländern, die per se eine gewisse Distanz und Vorbehalte gegenüber dem im Reich dominierenden Preußen hatten, war das Lied nicht ganz so beliebt, hier erklangen häufiger patriotische Gesänge wie »Die Wacht am Rhein« oder das »Lied der Deutschen«. Im Gegensatz zu diesen Liedern verloren die Herrscherhymnen mit dem Untergang der Monarchie in Deutschland 1918 ihre Bedeutung.
Abb. 7: Auguste Viktoria von Preußen (1858–1921) und Wilhelm II. von Preußen (1859–1941) mit der »Kaiser-Hymne« von H. Hunold-Liek, Postkarte von 1914.