Tag auf den Beinen. Wenn er des Morgens fortging, sah sie ihm mit bewundernden Blicken nach. Schritt der Tag vor und rückte die Zeit seiner Heimkehr heran, so stahl sie sich hinaus an die Gartenmauer und hielt dort manchmal stundenlang, mit der Hand die Augen beschattend, nach ihm Ausschau, nur um die köstliche und darre Freude zu genießen, ihn eine Meile entfernt über die Hügel reiten zu sehen. Hatte sie des Nachts das Feuer geschürt und versorgt, sein Bett aufgedeckt und sein Nachtzeug ausgelegt und gab es nichts mehr für seine Majestät zu tun, als seiner inbrünstig in ihren sonst recht lauen Gebeten zu gedenken und beim Schlafengehen über seine Vollkommenheiten, seine künftige Laufbahn und über die Frage nachzugrübeln, was sie ihm wohl morgen zum Essen vorsetzen sollte – ja, dann blieb ihr noch eine einzige Möglichkeit: ihm das Tablett mit dem Abendessen hineinzutragen und ihm gute Nacht zu wünschen. In solchen Fällen blickte Archie hin und wieder mit einem zerstreuten Kopfnicken und einem pflichtschuldigen Gruß, der in Wahrheit eine Entlassung bedeutete, von seinem Buche auf; mitunter jedoch – und allmählich immer häufiger – wurde der Band beiseite gelegt und ihr Eintritt mit einem erleichterten Aufatmen begrüßt; und sehr bald waren sie in ein Gespräch verwickelt, das sich bei dem schwindenden Feuer über die ganze Mahlzeit bis tief in die Nacht hinein erstreckte. Kein Wunder, daß Archie sich bei seinem einsamen Leben nach Gesellschaft sehnte; Kirstie ihrerseits führte sämtliche Künste ihrer kraftvollen Natur ins Treffen, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Sie pflegte während des Mittagessens mit einer Neuigkeit zurückzuhalten, nur um beim Hereintragen des Abendbrottabletts damit herauszuplatzen und so gleichsam den Vorhang über der abendlichen Unterhaltung aufgehen zu lassen. Hatte sich ihre Zunge erst einmal in Bewegung gesetzt, so war sie ihres Erfolges sicher. Unmerklich glitt sie von einem Thema zu dem anderen hinüber, voller Angst vor der geringsten Pause; ja mitunter ließ sie ihm kaum Zeit zu einer Antwort, aus Furcht, er könne einen Wink zum Aufbruch einflechten. Wie so viele Leute ihres Standes war sie eine vorzügliche Erzählerin; ihr Platz war der häusliche Herd, aber sie verwandelte ihn in ein Rostrum, begleitete ihre Geschichten mit der entsprechenden Mimik und schmückte sie mit lebendigsten Einzelheiten aus, indem sie sie durch endlose »Sagt er« und »Sagt sie« verlängerte und ihre Stimme bei jeder Schilderung des Übernatürlichen oder Grausigen zu einem Flüstern dämpfte. Zum Schluß sprang sie dann mit geheucheltem Erstaunen auf, deutete auf die Uhr und rief: »Liebe Zeit, Mr. Archie! Wie spät es schon geworden ist! Gott verzeih mir tollem altem Frauenzimmer!« So brachte sie es durch geschicktes Manövrieren zustande, daß sie nicht nur diese nächtliche Unterredungen anknüpfte, sondern auch unfehlbar die erste war, sie abzubrechen. Dadurch gelang es ihr, sich zurückzuziehen, ohne von ihm fortgeschickt zu werden.
III. Eine Familie aus den Grenzlanden
Eine so ungleiche Vertrautheit ist von jeher in Schottland gebräuchlich gewesen, wo der alte Clansgeist sich erhalten hat; wo die Dienerin nicht selten ihr Leben im Dienste einer Familie verbringt, anfänglich als Gehilfin, später als Tyrannin und zuletzt als Gnadenbrotempfängerin; wo auch sie mitunter sich der Auszeichnung vornehmer Geburt rühmen darf, ja vielleicht wie Kirstie eine entfernte Verwandte der Herrschaft ist, zum mindesten in den Traditionen ihrer eigenen Familie bewandert oder mit irgendwelchen illustren Toten versippt. Denn das kennzeichnet den Schotten jeden Standes: er nimmt der Vergangenheit gegenüber eine Haltung ein, die dem Engländer unfaßlich ist, und hegt und pflegt das Andenken all seiner Vorfahren, ob gut, ob böse; ja in ihm brennt als lebendiges Feuer das Bewußtsein der Identität mit den Toten, selbst bis ins zwanzigste Glied. Hierfür hätte es kein trefflicheres Beispiel geben können als Kirstie Elliott und ihre Familie. Alle, ihnen voran Kirstie selbst, waren bereit, ja brannten darauf, jedem die Einzelheiten ihrer Genealogie zu unterbreiten, geschmückt mit tausend Zügen, welche die Überlieferung ihnen vererbt oder die Phantasie ersonnen hatte; und siehe: An jeder Verzweigung des Familienstammbaumes baumelte der Strick des Henkers. Die Elliotts selbst haben eine bewegte Geschichte; aber sie leiten ihren Ursprung noch von drei der unglücklichsten Grenzclans ab – den Nicksons, den Ellwalds und den Crozers. Einen Vorfahren nach dem anderen sah man auf Schleichwegen aus dem Regen und Nebel der Berge auftauchen und mit seiner ärmlichen Beute an lahmen Pferden oder magerem Niederlandsvieh wieder nach Hause jagen; oder aber er schrie und teilte Mord und Totschlag aus bei irgendeiner elenden Hochlandsfehde der Frettchen und Wildkatzen. Einer nach dem anderen beschloß seine obskuren Abenteuer zwischen Himmel und Erde, an irgendeinem königlichen oder feudalherrlichen Galgen. Denn die rostige Donnerbüchse schottischer Kriminaljustiz, die gewöhnlich niemandem außer den Geschworenen selbst etwas zuleide tut, wurde den Nicksons, den Ellwalds und den Crozers gegenüber zur Präzisionswaffe. Jedoch im Gedächtnis ihrer Nachkommen schien allein der Rausch ihrer Taten fortzuleben, die Schande war vergessen; Stolz schwoll ihre Brust, wenn es galt, ihre Verwandtschaft mit »Andrew Ellwald von Laverockstanes« zu proklamieren, »genannt ›Dand, der Pechvogel‹ der mit sieben anderen seines Namens zu Jeddart unter König Jakob VI. hochnotpeinlich gerichtet wurde«. Bei diesem langen Gespinst von Unglück und Verbrechen konnten sich die Elliotts von Cauldstaneslap einer Sache mit Recht rühmen: Die Männer waren alle Galgenvögel, geborene Räuber, Strauchdiebe und mörderische Raufbolde; die Weiber dagegen, der nämlichen Tradition zufolge, sämtlich keusch und treu. Der Einfluß der Ahnen auf den Charakter ist nicht auf die Vererbung des Keimplasmas beschränkt. Wenn ich mir vom Heroldsamt dutzendweise Ahnen kaufe, wird mein Enkel (falls er ein Schotte ist) sich dennoch bewogen fühlen, ihre Taten nachzuahmen. Die Männer der Elliotts waren stolz, gesetzlos, gewalttätig als ihr gutes Recht und Heger und Pfleger der Familientradition. Ebenso die Frauen. Und diese nämlichen Weiber, die, selbst leidenschaftlich und wagemutig, vor den glimmenden Torffeuern kauernd, jene Geschichten überlieferten, hegten und pflegten ihr Leben lang eine wilde Integrität der Tugend.
Kirsties Vater, Gilbert, war tieffromm gewesen, ein unerbittlicher Puritaner alten Stils und dabei ein notorischer Schmuggler. »Kann mich noch besinnen, daß ich als Kind manche Ohrfeige bekam und zeitweilen wie die Hühner ins Bett gescheucht wurde«, pflegte Kirstie zu erzählen. »Das war, wenn die Jungens mit ihren Packs unterwegs waren. Oft saß das Gesindel von zwei, drei Grafschaften in unserer Küche so zwischen zwölf und drei Uhr nachts; und ihre Laternen standen derweil im Vorhof, Stücker zwanzig auf einmal. Aber gottlose Reden wurden auf Cauldstaneslap nicht geduldet; mein Vater war ein strenger Mann in seinem Wandel wie in seinen Worten; da brauchte dir nur ein einziger Fluch entschlüpfen, und schon saßest du vor der Tür! Er war ein großer Eiferer im Herrn, ein reines Wunder, was das Beten anbelangt, aber darin hat unsere Familie von jeher eine besondere Begabung gehabt!« Dieser Vater war zweimal verheiratet, einmal mit einem dunkelhäutigen Weib vom alten Ellwald-Schlage, mit der er Gilbert, den Erben von Cauldstaneslap, zeugte, und das zweitemal mit der Mutter von Kirstie. »Er war schon ‘n alter Mann, als er sie heiratete, ein häßlicher, alter Mann mit einer mächtigen Stimme – hören konnte man ihn, wenn er vom Gipfel des Kye-skairs zu uns herunterbrüllte; aber sie, Mr. Archie, sie war wahrhaftig ein Wunder. Gutes, adliges Blut floß ihr in den Adern, Mr. Archie: Euer eigenes und kein anderes. Die ganze Umgebung war rein verrückt nach ihr und ihrem goldenen Haar. Meins ist damit nicht in einem Atem zu nennen, und doch gibt’s wenige Weiber, die mehr Haar haben als ich oder von schönerer Farbe. Oft hab’ ich meinem lieben Fräulein Hannchen gesagt – Eurer Mutter, mein Herz schrecklich gesorgt hat sie sich um ihr Haar, und es war auch wahrhaftig gar zu dünne –! ›Unsinn, Fräulein Hannchen‹, sagt’ ich, ›werft Euer Haarwasser und Eure französischen Pomaden ins Feuer; das ist der Platz, wo sie hingehören; und herunter mit Euch an den Bach, und wascht Euch in dem kalten Bergwasser, und trocknet Euer hübsches Haar in dem frischen Wind der Heide, wie meine Mutter es tat und wie ich es allweg mit meinen getan habe – tut nur, was ich Euch sage, mein Liebchen, und wir wollen uns wiedersprechen! Haare werdet Ihr bekommen im Überfluß, einen Zopf so dick wie mein Arm‹ – das hab’ ich ihr gesagt – ›und von allerschönster Farbe wie die blanken, goldenen Guineen, daß die Burschen in der Kirche sich nicht werden satt sehen können!‹ Ach ja – für sie, armes Ding, hat es gereicht! Hab’ ihr eine Locke abgeschnitten, als sie da starr und kalt auf dem Totenbett lag. Eines Tages zeig’ ich sie Euch, wenn Ihr brav seid. Aber was ich sagen wollte, meine Mutter …«
Beim Tode ihres Vaters blieben die goldhaarige Kirstie, die bei ihren entfernten Verwandten, den Rutherfords, Dienste nahm, sowie der um zwanzig Jahre ältere, schwarze Gilbert zurück. Dieser übernahm Cauldstaneslap, heiratete und zeugte zwischen 1773 und 1784