Gabriela Kasperski

Zürcher Filz


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wehrte sich. «Ich sehe meine Hand vor mir. Man muss etwas Kraft aufwenden, der Stecker ist verzogen.» Wie zum Beweis führte Fischer die Bewegung aus.

      Sofort begann der Kühlschrank zu brummen.

      Sie verwarf die Hände. «Unmöglich. Es muss ein Gespenst gewesen sein. Die Frau in Weiss.»

      «Wer ist die Frau in Weiss?»

      «Das meine ich nicht ernst. Ein Gerücht, das man sich im Riesbachquartier erzählt. Immer wenn hier etwas Eigenartiges passiert, sagt man, es war die Frau in Weiss.»

      Beanie glaubte nicht an Gespenster, die Kabel herauszogen. «Kann es nicht sein, Frau Fischer, dass Ihr Hirn Ihnen einen Streich spielt?»

      «Niemals.» Fischer war ausser sich. «Ich muss ihn putzen. Wenn Philomena kommt, braucht sie den Kühlschrank.

      «Nein», sagte Beanie. «Das muss alles so bleiben.»

      Ihr Entschluss stand fest. Sie würde die Spurensicherung bestellen.

      «Ich seh mir kurz das Haus an. Warten Sie auf mich. Und nichts mehr anfassen, bitte.»

      Beanie zog Plastikhandschuhe über, ging die Treppe hoch. Den Kegel der Taschenlampe auf den Boden gerichtet, durchschritt sie die Räume. Alle hoch, alle gross, alle komplett leer. Das Badezimmer war riesig, mit einer tiefen Wanne, einem schweren Lavabo. Die Armaturen aus altem Messing, verziert, angelaufen. Immerhin gab es einige Flaschen und Tiegel. Ein Kindershampoo der Marke Penaten. Ablaufdatum: vor vier Jahren. Das Wasser aus dem Hahn war rostig, eine Brühe.

      Ganz oben im hintersten Dachzimmer erlebte Beanie eine Überraschung. In einem Warenaufzug, der sich hinter einer unscheinbaren Klappe in der Wand versteckte, befand sich eine übergrosse Puppe in einem schmutzig weissen Kleid. Klipp-klapp hoben und senkten sich die Augenlider. Das Haar wirkte echt. Beanie fasste sie vorsichtig am Bauch, um sie herauszuheben.

      Da ertönte eine Stimme, mechanisch und hoch: «Willkommen in deinem neuen Zuhause.»

      Beanie erstarrte. Die sprechende Puppe fiel zurück.

      Die restliche Untersuchung brachte Beanie in Rekordtempo hinter sich. Als sie über die breite Galerie zur Treppe ging, hörte sie ein Geräusch.

      «Hallo?» Etwas streifte ihre Wange und fiel zu Boden. Eine Wespe. Mitten im Winter. Hatte irgendwo im Gemäuer gesessen. Beanie packte das tote Insekt in einen Beutel. Besser als nix.

      In der Küche sass Eliane Fischer am Tisch, sie hatte sich gefasst. Tasse und Krug waren verräumt, alles makellos. Die Kühlschranktür war geschlossen.

      «Ich werde das später reinigen, wenn Sie hier fertig sind.»

      Beanie bemerkte Gestank. Es roch nicht nur nach Kühlschrankschimmel, es roch nach Verwesung.

      «Ein Kadaver?», fragte sie und verwünschte den atemlosen Klang ihrer Stimme.

      Fischer zuckte die Schultern. «Gut möglich. Passiert immer wieder. Es stinkt im hinteren Teil des Hauses, manchmal auch im Keller. Vielleicht ein Loch, in dem sich die Tiere verkriechen und sterben. Ich hab allerdings nie eines gefunden.»

      Ihre Antwort war unerwartet sachlich, Natur und Tier waren ihr Gebiet. Ohne Ankündigung ging Fischer los. Beanie folgte ihr verblüfft und fand sie schliesslich im Cheminéezimmer.

      «Das ist der Beweis.» Sie deutete auf die Feuerstelle. «Ich habe ein Feuer vorbereitet.» Fischer ging zu einem leeren Korb. «Als ich den aus der Scheune hereingebracht habe, war er voll. Ich habe im Cheminée einen Stapel gebaut, sodass sie nur noch ein Streichholz hineinzuwerfen brauchte.» Fischer bückte sich und nahm die Packung in die Hand, bevor Beanie sie daran hindern konnte. «Es waren noch drei drin. Nun sind sie weg. Sehen Sie die Asche im Cheminée? Jemand hat Feuer gemacht. Entweder es war Philomena, oder jemand anders war im Haus.» Fischer sah geradezu erlöst aus. «Das ist gut, nicht wahr? Nun glauben Sie mir. Ich bin nicht verrückt.»

      Beanie überlegte. Es klang stimmig. «Wer hat alles einen Schlüssel zum Haus?»

      «Philomena. Johannes und ich. Ich glaube, auch der Silberschneider, das ist der Nachbar auf der anderen Seite.»

      «Danke, Frau Fischer.» Beanie musste los. «Kommen Sie mit, Sie dürfen das Haus nicht mehr betreten, bis Sie von mir ein Okay erhalten. – Gibt es hier eigentlich Wespen?»

      «Ja. Manchmal haben wir sogar Nester. Aber um die Jahreszeit sind die alle tot.»

      Beanie bemerkte eine Tasse auf dem Kaminsims. «Stand die eben schon da?», fragte sie.

      Fischer wusste es nicht, die Tasse gehörte Alfredo Lombardi. Sie war übergross, bedruckt mit Katzenmotiven. Hässlich. Unprofessionell, dass ich das Ding eben übersehen habe, dachte Beanie. Dann rief sie im FOR an, verlangte nach Huwyler. Asap, dringend, höchste Alarmstufe. Sein Fuss fiel ihr ein. Wie er ins Wasser getaucht war. Die Farbe seiner Haut. Das karamellfarbene Braun.

      12

      Auf der verblassten Mauer suchte Meier nach der Hausnummer. Das Gebäude war hoch, acht Stockwerke, Südlage. Etwas heruntergekommen, an der Scheuchzerstrasse im Kreis 6, nahe dem Unihauptgebäude gelegen. In den Bogen über der Tür waren die Worte «SONNECK» geritzt. Bauhausstil, dachte Meier. Eine Perle.

      Die Adresse hatte er sich auf die Visitenkarte geschrieben, die ihm Charles Bonvin gegeben hatte. Ihn hatte er bei der Wohnungsbesichtigung eben kennengelernt. Er war eine echte Goldgrube gewesen. Nicht nur, dass er Meier einiges über die Lombardi-Stiftung erzählt hatte, er hatte ihm ein Angebot gemacht. Sollte für Meier und seine Familie auch ein Wohnungskauf in Frage kommen, dürfe er unverbindlich im SONNECK vorbeischauen. Das Haus werde abgerissen und neu gebaut, Meier könne sich ein Bild von der Lage machen. Einzigartig! Von den zwanzig geplanten Wohneinheiten seien fast alle verkauft.

      Hinter vorgehaltener Hand hatte Bonvin ihm ausserdem anvertraut, die Chance, die Wohnung an der Minervastrasse zu bekommen, sei gleich null. Bei über tausend Bewerbern würden sie die Vergabe strengsten Kriterien unterziehen, drei Kinder und eine Universitätsanstellung der Ehefrau – der Einfachheit halber hatte sich Meier als verheiratet bezeichnet – seien schlechte Voraussetzungen. Vermutlich würde die Stiftung die Wohnung sogar eine Weile leer stehen lassen, um keinerlei Anstoss zu erregen.

      Der kurzatmige Charles Bonvin mit seinem Siegelring hatte sich als aussergewöhnlich redselig erwiesen. Genauso wie es Meiers Freund Eli Apfelbaum, den er vor der Wohnungsbesichtigung um einen Rat bat, prophezeit hatte. «Du willst eine Auskunft über Charles Bonvin? Da hast du richtig Massel, Werner, dass du mich fragst. Ich kenne den guten Charles ein wenig. Ein diskreter Spieler, einmal im Monat fährt er nach Konstanz zum Pokern. Wir teilen den Waschsalon und den Frisierer.»

      Wäscherei und Coiffeur – soziale Anziehungspunkte für alleinstehende Herren. Nach der Besichtigung war Meier sofort losgezogen. Er wollte Barras ein perfektes Dossier übergeben, voller Informationen und vielleicht sogar mit einer Lösung des Falls.

      Meier ging ums Haus herum. Der Garten war überwuchert mit Efeu, in dem allerlei Unrat hing, es stank nach Urin. Ein wischendes Geräusch, ein zuckender Schwanz. Offenbar nahm es hier niemand mehr so genau. Zurück beim Eingang studierte Meier die Briefkästen. Einige waren übervoll, andere leer. Ein Name fiel ihm auf. Del Pietro. Italienisch, wie Lombardi. Er fand ihn auch auf einer der Klingeln. Versuchte es.

      «Willst du rein?» Eine junge Chinesin, die gerade vom Joggen zurückkam, öffnete die Tür. «Kommst du wegen dem freien Zimmer?», fragte sie auf Englisch.

      Meier nickte schnell und ging hinter ihr her. Fünf Stockwerke hoch, er kam ins Keuchen.

      Die Junge verschwand mit dem Hinweis, dass sie duschen müsse, und rief ihren Kollegen. Das klappt ja wie am Schnürchen, dachte Meier, manchmal braucht es ein wenig Glück. Vom Türrahmen aus sah er in eine uralte Küche, mit einem Spültrog aus Steingut.

      «Hei, ich bin Jonas.»

      Der Student hielt Meier für einen Bewerber, drückte ihm einen Anmeldezettel in die Hand und erklärte, wie es in dem Haus lief. Es sei eine Zwischennutzung,