Gabriela Kasperski

Zürcher Filz


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Stock angelangt. Da ging die Wohnungstür auf. Ein junger Mitarbeiter, ein Hipstertyp mit Kaschmirmantel und Bart, stellte sich vor den Wartenden auf. «Einen Moment noch.»

      Er hatte keine Chance, wurde fast umgestossen. Meier umging ihn elegant, die Jungs wuselten zwischen den Beinen durch. Zita, handicapiert durch Lily, wurde vorwärtsgeschoben. Von Weitem sah sie Meier, der sich sofort zu einem offiziell wirkenden Herrn mit Gehstock und Glatze gesellte. Gut, er ist am Ermitteln, dachte Zita. Dann könnten wir ja eigentlich wieder gehen. Aber das hätte Meier misstrauisch gemacht.

      Zita versuchte, einen Eindruck zu bekommen. Der Eingangsbereich wirkte eng, das Linoleum am Boden abgenutzt. Eine Mitarbeiterin zwang ihnen hellblaue Schuh-Gummiüberzieher auf.

      «Ist wie auf einem Tatort von Papa», flüsterte Finn. Seit sich Finn für Papas Beruf interessierte, hatte er ihm einen Requisitenkoffer zusammengestellt.

      Zita kaschierte ihren Lachanfall mit Husten.

      «Geh mal zu der Frau und hilf ihr ein wenig.»

      «Du schickst dein Kind vor? Das wird dir nichts nützen», zischte Sybille neben ihr. «Ich kenne die Vormieterin, das bringt viel mehr.» Sie zog an Zita vorbei, die Kinderschar vor sich herkommandierend.

      «Unglaublich. Es muss sehr anstrengend sein für Sie», sagte Zita zu der Mitarbeiterin.

      «Das können Sie laut sagen, die Leute haben zum Teil überhaupt keine Manieren.» Sie drückte Zita ein Formular in die Hand. «Es ist das letzte. Ab jetzt nehmen wir nur noch die Adressen der Leute auf.»

      Zita beugte sich vor, gleichzeitig bekam sie einen Stoss in den Rücken. In diesem Moment krachte Theos Ball in die Milchglasscheibe. Alle sahen auf den kleinen Jungen mit der Rotznase und der Superman-Mütze. Sybille, bereits wieder von der Besichtigung zurück, durchbrach die Stille und drückte der Frau das ausgefüllte Formular in die Hand, versehen mit krakeligen Zeichnungen und einigen Familienfotos. Sie muss es vorbereitet haben, dachte Zita.

      «Wir sind die mit den drei bis vier Kindern», sagte Sybille und hob ihr T-Shirt, um ihren Schwangerschaftsbauch zu zeigen. Darauf stand: «Frisch verliebt in diese Wohnung.»

      Draussen im Garten begann Theo zu weinen.

      «Tut mir leid. Bekommen wir jetzt meinetwegen Wohnung nicht?»

      Zita tröstete ihn. «Es wäre sowieso unmöglich gewesen. All die vielen Leute, hast du ja gesehen.» Sie kniete sich zu Theo, auch Finn kam dazu, eine Riesenumarmung. «Entschuldigt, Kinder. Wir hätten niemals herkommen sollen.»

      «Wer sagt eigentlich, wer die Wohnung bekommt? Der liebe Gott?», fragte Finn.

      Ihr Ältester hatte es voll erfasst. Zita sah zu Meier. Sein welliges Haar war in die Stirn gefallen, die Lederjacke stand offen, die Turnschuhbändel waren lose.

      «Hör mal, Schatz, kannst du die Kinder übernehmen?», sagte er. «Ich müsste was erledigen. Es gibt da so ein kleines Projekt.»

      10

      «Ihr Projekt NESTBAU konnte leider nicht berücksichtigt werden. Die Zwischennutzung der alten Wäscherei wird endgültig gekündigt. Abgesagt.»

      Erst nachdem Tine Kohlmann die letzten drei Silben laut gelesen hatte, zerriss sie den Brief in zwei Teile.

      NESTBAU bekam den Zuschlag für das Wohnprojekt nicht, das Provisorium in der geliebten Lombardi-Wäscherei wurde nicht definitiv.

      «Mama!», erklang die Stimme ihrer Tochter durch die Halle. «Wann kommst du? Wir warten auf dich.»

      Erin und die Kinder der anderen Wohngenossinnen waren in der Gemeinschaftsküche beim Keksebacken. Es war nach dem Mittagessen und der Geruch nach Zimtsternen machte sich breit. Die Kleinen hatten alles allein gemacht, nur für die Glasur brauchten sie Tines Hilfe. «Gleich, Maus.»

      Tine sah ihr Spiegelbild in der Scheibe: die Schlüsselbeinknochen wie Waffen, das Gesicht wie ein Totenkopf, die Frisur wie Unkraut.

      «Entweder du arbeitest oder du planst. Wann bekommen wir unser Familienleben zurück?», hatte ihr Partner gestern Nacht gefragt, als sie seine Annäherung ablehnte. Seit sie in die alte Wäschereifabrik der Lombardi-Stiftung eingezogen waren, hatte Tine praktisch Tag und Nacht durchgearbeitet. «Die NESTBAU-Familie». Mit dem Slogan hatten sie Runde um Runde im Bewerbungsverfahren überstanden.

      «Scheissfilz!», schrie Tine in die Luft hinaus.

      Die anderen warteten nur darauf, mit ihr den Bio-Champagner zu öffnen. Niemand wusste, dass Tines heimliche Beziehung zum Projektleiter die Eintrittskarte für die letzte Runde gewesen war. Tine holte ihr Handy heraus und rief Noah Sanders an. Damit, dass er rangehen würde, rechnete sie nicht.

      «Arschloch!», sagte Tine auf die Combox. «Ich bringe dich um.»

      Bestimmt hatte er sich ausgerechnet, wann sie das Schreiben bekommen würde. Er war penibel, ein Hipster, der die Bleistifte parallel zur Tischkante deponierte. Ob er den Brief eigenhändig unterschrieben hatte? Tine drehte sich einmal um sich selbst, taumelte mitten in die riesige Gemeinschaftsfläche, auf der sie so manches Fest gefeiert hatten. Sie glaubte, ein Gitarrenriff zu hören, das Stampfen der Füsse, glaubte, die Spaghetti Vongole zu schmecken, das tiefe Gefühl der Verbundenheit.

      Tränen liefen ihr über die Wangen. Die ganzen Pläne, das viele Nachdenken, all die Wochen, in denen sie nach der perfekten Lösung gesucht hatten, wie man elf Erwachsene, fünf Kinder, drei Katzen und ein Schwein auf dreihundert Quadratmetern glücklich machen konnte … NESTBAU war einzigartig. Und nun war es abgeschmettert.

      Wieso hatte Tine Noah vertraut? Er hatte es ihr versprochen, in die Kuhle ihres nackten Bauches hineingesabbert, dass sie den Zuschlag bekommen würden. Das Einzige, was er dafür wollte, war eine Inventarliste. Die alte Wäscherei in ihrem Lieblingsquartier Wiedikon, die in den frühen achtziger Jahren stillgelegt worden war, stand unter Denkmalschutz. Tine war Hochbauzeichnerin, die Daten zu recherchieren war der perfekte Job für sie. Jede Schraube, jeden Wasserhahn, jedes Kabel hatte sie dokumentiert und damit gleichzeitig den Grundstein für den sanften Umbau und das Wohnprojekt gelegt. Dieses Haus war Tines Leben. Das würde sie sich nicht nehmen lassen. So nicht.

      Sie hob das zerrissene Papier vom Boden auf, ging zum Basteltisch, schob die schlafende Katze beiseite und klebte die beiden Teile zusammen. Erneut las sie das Schreiben, auf eisige Weise gefasst. Wie schlimm es war, hatte sie davor übersehen. Die Geschäftsleitung der Lombardi-Stiftung hatte sich entschieden, das Gebäude abzureissen. Wie die Neubauten dannzumal besiedelt würden, das würde eine Vergabekommission entscheiden. Das NESTBAU-Projekt hätte natürlich die Möglichkeit, sich mit einem neuen Dossier zu bewerben. Aber die Bedingungen würden sich ändern. Alles auf null, gleiche Chancen für alle. Unterschrieben war das Ganze von Philomena Lombardi.

      «Mama! Der Puderzucker.»

      «Ich komme.»

      Tine steckte das Schreiben ein und trat dicht an die Fensterscheibe. Sie sah das graue Band der Limmat, den Prime Tower, die alte Steinfelsfabrik, den Käferberg, den Zürichberg, die Kuppeln von Uni und ETH. Diese Aussicht hatte sie begleitet. Sie war privilegiert gewesen. Verdammt, das Haus galt doch als schützenswert. Ein Baudenkmal vom Beginn des letzten Jahrhunderts. Ein Abbruch war illegal.

      Tine rief bei der Denkmalpflege an. Wurde weitergeleitet, wie jedes Mal. Die ganze Institution war unterwandert. Schliesslich bekam sie einen an die Strippe.

      «In laufenden Verfahren dürfen wir keine Auskunft geben.» Laufend? Das hiess nicht abgeschlossen. Die Lombardi-Stiftung kündigte das Projekt, ohne zu wissen, ob sie überhaupt abreissen konnten. Noch einmal versuchte sie es bei Noah. Wieder nichts. Wäre Tines Schrei nicht stumm gewesen, wäre er entlang der vier Meter hohen Stahlträger nach oben gehallt und hätte sich an den Querstreben gebrochen.

      Tine ballte eine Faust. Dahinter steckte die Lombardi. «Philomena ist eine Schlange.» Das hatte Noah so gesagt. Dann musste Tine eben dafür sorgen, dass die Schlange die Schnauze hielt. Dafür war ihr jedes Mittel recht.

      11