Gabriela Kasperski

Zürcher Filz


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Schmuckverkäufer hat mir ein Bild geschickt.»

      Barras scrollte sich durch die Nachrichten und zeigte Meier auf dem Display eine Frau von geradezu ausserirdischer Schönheit.

      «Anna Karenina», sagte Barras.

      «Seit wann sind Sie literarisch drauf?», fragte Meier.

      Sie zuckte die Achseln.

      Einige Minuten später waren die Namen auf Meiers Notizblatt mit Strichen verbunden, welche alle auf die Mitte zuliefen, wo der alte Lombardi stand.

      «Es ist, als ob er noch da wäre.» Meier legte den Stift beiseite. «Das wird ein zentraler Punkt der Ermittlung, Barras, der Einfluss des alten Lombardi, post mortem. Und der der Vermissten. Sie müsste ja die direkte Erbin sein. Sie wollte in den Familiensitz zurückkehren, haben Sie gesagt? Haben Sie vielleicht auch ein Foto dieser Villa Riesbach?»

      Im Netz fanden sie eine Aufnahme in Schwarz-Weiss.

      «Eine Villa aus den zwanziger Jahren, schätze ich. Berliner Architektur, alte Bausubstanz, denkmalgeschützt. – Ein Prunkstück, Barras.» Meier spürte, wie er sich ins Feuer redete. «Diese Stiftung ist ein Wirtschaftsfaktor, sie muss Millionen verwalten. Und wer steckt dahinter? Ein Wachsfigurenkabinett und die verschwundene Anna Karenina.»

      Barras sah ihn mit offenem Mund an. «Sie können es noch, Boss. Der Polizist ist in den zwei Monaten nicht im Windeleimer erstickt.»

      «Natürlich. So was verlernt man nicht.»

      «Was raten Sie mir?», fragte sie.

      «Ich würde alles hochfahren. Reden Sie mit der Gärtnerin, lassen Sie Spuren sichern. Und gleichzeitig würde ich versuchen, möglichst viel über die Stiftung herauszufinden.»

      Barras schwieg, dann sah sie Meier an. «Darum bin ich hier. Können Sie das übernehmen? Können Sie ein wenig herumstochern?»

      Meier war baff.

      «Sie sind die perfekte Tarnung. So erfahren wir aus erster Hand, wie die Stiftung funktioniert.»

      «Eine verdeckte Ermittlung als fetter, überalterter Familienvater auf Wohnungssuche?» Meier zögerte. «Sie wissen, was Ihr echter Chef dazu sagen würde.»

      «Ich hole das Einverständnis. Das krieg ich gebacken, keine Angst. – Morgen ist eine öffentliche Wohnungsbesichtigung. Gehen Sie dahin.»

      «In Ordnung.» Da fiel Meier etwas ein. «Würden Sie Zita bitte nichts sagen, Barras? Ich weiss nicht, ob sie es gut findet, wenn ich als vorübergehender Vollzeithausmann einen Nebenjob mache.»

      6

      Das Pochen im Ohr wurde immer stärker. Philomena Lombardi zwang sich aus ihrem Dämmerzustand. Als Erstes fiel ihr der Gestank auf. Muffig, schwer, verwest. War sie das? Im Dunkeln tastete sie nach der Wasserflasche und reinigte das verletzte Ohrläppchen, bevor sie die beiden Hautfetzen zusammendrückte, mit einem Stück Stoff ihrer Bluse fixierte und wieder auf die Pritsche sank. Steh auf, Philo. Komm in Gang. Erst die Muskeln, dann der Kopf.

      Aber Philomena wollte nicht auf die Stimme ihres Boxtrainers hören. Er sass in Tel Aviv und war frei, sie war in Zürich und gefangen. Absurd. Alles von A bis Z absurd. Da hörte sie ein Geräusch. Kam er zurück? Automatisch zuckten ihre Hände zu den Ohren.

      Als nichts passierte, beruhigte sich ihr Puls. Bildete sie sich das Geräusch ein? Es war eine Art Wischen, gefolgt von Rascheln. Wischrascheln, direkt vor der Tür. Ein Tier? Sherlock fiel ihr ein. Der Hund der Spaziergängerin. Mittlerweile war sie alt geworden, Sherlock war bestimmt die fünfte Version. Nie die gleiche Rasse, aber immer klein und wütend. Bei jedem ihrer seltenen Besuche hatte Philomena einen Sherlock angetroffen, er gehörte zum Inventar des Parks. Genau wie die Jugendlichen hielt er sich nicht an die unsichtbare Grenze, die den öffentlichen vom privaten Teil trennte. Hatte der Hund herausgefunden, dass sie im Keller ihres eigenen Hauses gefangen war? Im Gärtnerinnenzimmer, dem hintersten, dem einzigen mit Oberlicht? Das winzige Fenster war dunkel. Es musste Nacht sein.

      Bevor Philomena wegdämmern konnte, hörte sie wieder das Wischrascheln. Da stand sie auf, ging im Millimetertempo und blind auf das Geräusch zu. Bislang hatte sie sich nur bewegt, um den Eimer zu benutzen, der in der Ecke stand. Zu mehr hatte es nicht gereicht. Philomena war barfuss, ihre Beine zitterten, kaum schaffte sie es bis zur Tür. Eine Weile stand sie einfach nur da. Das Wischrascheln war weg. Dafür hörte sie ein Knacken. Ein Summen. Wieder das Knacken und Stille. Der normale Geräuschteppich des Hauses – er war ihr vertraut. Das Wischrascheln war anders. Ein Tier? Auf jeden Fall nicht Sherlock, der hätte gebellt. Noch einmal genau hinhören. Wieder weg.

      Philomena war erschöpft, sehnte sich nach der Pritsche. Der Weg zurück schien ihr lang. Sie tastete sich an der Wand entlang, stützte sich ab, machte Pausen. Geh weiter, Philomena, wenn du nicht sterben willst.

      Als Kind hatte sich Philomena einmal hier eingesperrt. Nun wurde ihr bewusst, dass sie zu Beginn der Gefangenschaft die Gefühle von damals eingeholt hatten. Zusammengekauert, den Mantel über sich, gelähmt – so hatte sie die ersten Stunden verbracht. Oder waren es Tage? Sie zwang sich zur Erinnerung. Dabei wurden ihre Schritte schneller. Es war erstaunlich, wie viel ihr einfiel. Bild reihte sich an Bild. Wie sie am zweiten Adventssonntag heimgekommen war, wie sie beschwingt zu Fuss über die Bahnhofstrasse bis ins Riesbachquartier geeilt war, wie sie den Seeburgpark betrat, die Villa, wie sie ein Streichholz ins Feuer warf, die grässliche Katzentasse ihres Vaters wegstellte, wie sie das Kostüm entdeckte. Ihr alter Nachbar hatte es genäht, der Schneider, den sie nur Silberschneider nannte. Wie eine Hand sie, genau in dem Moment, als sie das Kostüm anprobieren wollte, am Nacken packte, ihr den Ohrring wegriss, und wie ihr eine andere Hand einen Sack über den Kopf stülpte. Wie sie sich wehrte und wie ihr Widersacher sie trotzdem die Treppe hinunter in den Keller und durch den langen Flur ins letzte Zimmer schleppte.

      Philomena hielt inne. Ein Schweisstropfen rann ihr von der Stirn. Nice work, Philo, hörte sie die Stimme des Trainers. Go on. Also ging sie weiter, wählte die Diagonale durch die Mitte. Die Bilder verschwammen, wurden unklar. Wie sie wegdämmerte und nur aufwachte, wenn er kam, um ihr Wasser und Brot zu bringen. Das Brot erschien ihr erst als Geschenk, danach als Hohn. Er kennt mich. Das Ganze ist persönlich. Bevor ich das Rätsel nicht löse, komme ich nicht hier raus. An dem Punkt war die Verzweiflung eingefahren. Philomena war vorbereitet gewesen, hatte es erwartet, sie kannte die Stationen des Prozesses. Als ganz junge Frau hatte sie eine Psychoanalyse gemacht, anders hätte sie ihre Familiengeschichte nicht überlebt. Darum hatte sie das Schreien ausgelebt, das Weinen, das Flehen. Sie hatte nichts zurückgehalten, sie war detoniert.

      Bei der Erinnerung wurde Philomena immer schneller, sie rannte, änderte permanent die Richtung. Die Zeit bekam durch die Bewegung Konturen. Ob sie hier unten einen Marathon hinkriegen würde? Vielleicht, wenn sie genügend Wasser hätte. Sie hatte die Schlucke rationiert, in der Plastikflasche war noch etwa ein Viertel. Bei seinem letzten Besuch hatte er kein neues Wasser gebracht. Er war reingestürmt, hatte nach ihrem Ohr gefingert. Ratsch und weg.

      Philomena kam zum Stehen. Alles ausblenden, sei ganz im Moment. Nur du und dein Körper. Nein, dachte sie, nur du und das Haus. Ihr Haus. Hier war sie gross geworden, sie kannte jede Ecke, jeden Winkel, jede Luke. Wusste, wieso es hier unten so stank. Ihre eigene Verwesung und ein totes Tier. Die lagen häufig dicht an der Mauer in der Nähe des Oberlichts. Einmal hatte sie einen Igel gefunden, ein anderes Mal einen kleinen Fuchs. Konzentrier dich, Philo. Ihre Gärtnerin fiel ihr ein. Eliane Fischer, selbst fast noch ein Kind, als sie bei ihnen angefangen hatte. Ihr Lächeln, die Hände voller Erde.

      «Geht Papà wieder Häuser einkaufen?», hatte Philo gefragt. Deutlich hörte sie die Kinderstimme. Fremd und vertraut zugleich.

      Häuser einkaufen. Das war es, was ihr Vater gemacht hatte. Philomenas Mutter war seine zweite Frau. Sie hatte es nicht ausgehalten und war geflohen. Philomena war bei Papà in der Villa Riesbach geblieben. Bis sie ins Internat kam. Später zog sie zu ihrer Mutter nach Tel Aviv. Die Villa hatte sie nie vergessen. Und nun, als sie Jahrzehnte später zurückkehrte, um das Erbe des Vaters anzutreten, war sie eingesperrt worden. Eine Geschichte von Flucht und Freiheit endet